1831/1832

Sonnabend, den 1. Januar 1831

Von Goethes Briefen an verschiedene Personen, wovon die Konzepte seit dem Jahre 1807 geheftet aufbewahrt und vorhanden sind, habe ich in den letzten Wochen einige Jahrgänge sorgfältig betrachtet, und will nunmehr in nachstehenden Paragraphen einige allgemeine Bemerkungen niederschreiben, die bei einer künftigen Redaktion und Herausgabe vielleicht möchten genutzt werden.

§ 1

Zunächst ist die Frage entstanden, ob es geraten sei, diese Briefe stellenweise und gleichsam im Auszuge mitzuteilen.

Hierauf sage ich, daß es im allgemeinen Goethes Natur und Verfahren ist, auch bei den kleinsten Gegenständen mit einiger Intention zu Werke zu gehen, welches denn auch vorzüglich in diesen Briefen erscheint, wo der Verfasser immer als ganzer Mensch bei der Sache gewesen, so daß jedes Blatt von Anfang bis zu Ende nicht allein vollkommen gut geschrieben ist, sondern auch darin eine superiore Natur und vollendete Bildung sich in keiner Zeile verleugnet hat.

Ich bin demnach dafür, die Briefe ganz zu geben von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende Stellen durch das Vorhergehende und Nachfolgende oft erst ihren wahren Glanz und wirksamstes Verständnis erhalten.

Und genau besehen und diese Briefe vis-à-vis einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte sich denn anmaßen und sagen, welche Stelle bedeutend und also mitzuteilen sei, und welche nicht? Hat doch der Grammatiker, der Biograph, der Philosoph, der Ethiker, der Naturforscher, der Künstler, der Poet, der Akademiker, der Schauspieler, und so ins Unendliche, hat doch jeder seine verschiedenen Interessen, so daß der eine grade über die Stelle hinauslieset, die der andere als höchst bedeutend ergreift und sich aneignet.

So findet sich z. B. in dem ersten Hefte von 1807 ein Brief an einen Freund, dessen Sohn sich dem Forstfache widmen will, und dem Goethe die Karriere verzeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen solchen Brief wird vielleicht ein junger Literator überschlagen, während ein Forstmann sicher mit Freuden bemerken wird, daß der Dichter auch in sein Fach hineingeblickt und auch darin guten Rat hat erteilen wollen.

Ich wiederhole daher, daß ich dafür bin, diese Briefe ohne Zerstückelung ganz so zu geben, wie sie sind, und zwar um so mehr, als sie in der Welt in solcher Gestalt verbreitet existieren, und man sicher darauf rechnen kann, daß die Personen, die sie erhalten, sie einst ganz so werden drucken lassen, wie sie geschrieben worden.

§ 2

Fänden sich jedoch Briefe, deren unzerstückte Publikation bedenklich wäre, die aber im einzelnen gute Sachen enthielten, so ließe man diese Stellen ausschreiben und verteilte sie entweder in das Jahr, wohin sie gehören, oder machte auch daraus nach Gutbefinden eine besondere Sammlung.

§ 3

Es könnte der Fall vorkommen, daß ein Brief uns in dem ersten Hefte, wo wir ihm begegnen, von keiner sonderlichen Bedeutung erschiene und wir also nicht für seine Mitteilung gestimmt wären. Fände sich nun aber in den späteren Jahrgängen, daß ein solcher Brief Folge gehabt und also als Anfangsglied einer ferneren Kette zu betrachten wäre, so würde er durch diesen Umstand bedeutend werden und unter die mitzuteilenden aufzunehmen sein.

§ 4

Man könnte zweifeln, ob es besser sei, die Briefe nach den Personen zusammenzustellen, an die sie geschrieben worden, oder sie nach den verschiedenen Jahren bunt durcheinander fortlaufen zu lassen.

Ich bin für dieses letztere, zunächst, weil es eine schöne immer wieder anfrischende Abwechselung gewähren würde, indem, einer anderen Person gegenüber, nicht allein immer ein anders nüancierter Ton des Vortrages eintritt, sondern auch stets andere Sachen zur Sprache gebracht werden, so daß denn Theater, poetische Arbeiten, Naturstudien, Familienangelegenheiten, Bezüge zu höchsten Personen, freundschaftliche Verhältnisse usw. sich abwechselnd darstellen.

Sodann aber bin ich für eine gemischte Herausgabe nach Jahren auch aus dem Grunde, weil die Briefe eines Jahres durch die Berührung dessen, was gleichzeitig lebte und wirkte, nicht allein den Charakter des Jahres tragen, sondern auch die Zustände und Beschäftigungen der schreibenden Person nach allen Seiten und Richtungen hin zur Sprache bringen, so daß denn solche Jahresbriefe ganz geeignet sein möchten, die bereits gedruckte summarische Biographie der ›Tag- und Jahreshefte‹ mit dem frischen Detail des Augenblicks zu ergänzen.

§ 5

Briefe, die andere Personen bereits haben drucken lassen, indem sie vielleicht eine Anerkennung ihrer Verdienste oder sonst ein Lob und eine Merkwürdigkeit enthalten, soll man in dieser Sammlung noch einmal bringen, indem sie teils in die Reihe gehören, andernteils aber jenen Personen damit ein Wille geschehen möchte, indem sie dadurch vor der Welt bestätigst sehen, daß ihre Dokumente echt waren.

§ 6

Die Frage, ob ein Empfehlungsbrief in die Sammlung aufzunehmen sei oder nicht, soll in Erwägung der empfohlenen Person entschieden werden. Ist aus ihr nichts geworden, so soll man den Brief, im Fall er nicht sonstige gute Dinge enthält, nicht aufnehmen; hat aber die empfohlene Person sich in der Welt einen rühmlichen Namen gemacht, so soll man den Brief aufnehmen.

§ 7

Briefe an Personen, die aus Goethes ›Leben‹ bekannt sind wie z. B. Lavater, Jung, Behrisch, Kniep, Hackert und andere, haben an sich Interesse, und ein solcher Brief wäre mitzuteilen, wenn er auch außerdem eben nichts Bedeutendes enthalten sollte.

§ 8

Man soll überhaupt in Mitteilung dieser Briefe nicht zu ängstlich sein, indem sie uns von Goethes breiter Existenz und mannigfaltiger Wirkung nach allen Ecken und Enden einen Begriff geben, und indem sein Benehmen gegen die verschiedensten Personen und in den mannigfaltigsten Lagen als im hohen Grade lehrreich zu betrachten ist.

§ 9

Wenn verschiedene Briefe über eine und dieselbe Tatsache reden, so soll man die vorzüglichsten auswählen; und wenn ein gewisser Punkt in verschiedenen Briefen vorkommt, so soll man ihn in einigen unterdrücken und ihn dort stehen lassen, wo er am besten ausgesprochen ist.

§ 10

In den Briefen von 1811 und 1812 dagegen kommen vielleicht zwanzig Stellen vor, wo um Handschriften merkwürdiger Menschen gebeten wird. Solche und ähnliche Stellen müssen nicht unterdrückt werden, indem sie als durchaus charakterisierend und liebenswürdig erscheinen.

 

Vorstehende Paragraphen sind durch Betrachtung der Briefe von den Jahren 1807, 1808 und 1809 angeregt. Was sich im ferneren Verlauf der Arbeit an allgemeinen Bemerkungen noch ergeben möchte, soll Gegenwärtigem nachträglich hinzugefügt werden.

W., d. 1. Januar 1831

E.

 

Heute nach Tisch besprach ich mit Goethe die vorstehende Angelegenheit punktweise, wo er denn diesen meinen Vorschlägen seine beifällige Zustimmung gab. »Ich werde«, sagte er, »in meinem Testament Sie zum Herausgeber dieser Briefe ernennen und darauf hindeuten, daß wir über das dabei zu beobachtende Verfahren im allgemeinen miteinander einig geworden.«

 


 

Mittwoch, den 9. Februar 1831

Ich las gestern mit dem Prinzen in Vossens ›Luise‹ weiter und hatte über das Buch für mich im stillen manches zu bemerken. Die großen Verdienste der Darstellung der Lokalität und äußeren Zustände der Personen entzückten mich; jedoch wollte mir erscheinen, daß das Gedicht eines höheren Gehaltes entbehre, welche Bemerkung sich mir besonders an solchen Stellen aufdrang, wo die Personen in wechselseitigen Reden ihr Inneres auszusprechen in dem Fall sind. Im ›Vicar of Wakefield‹ ist auch ein Landprediger mit seiner Familie dargestellt, allein der Poet besaß eine höhere Weltkultur, und so hat sich dieses auch seinen Personen mitgeteilt, die alle ein mannigfaltigeres Innere an den Tag legen. In der ›Luise‹ steht alles auf dem Niveau einer beschränkten mittleren Kultur, und so ist freilich immer genug da, um einen gewissen Kreis von Lesern durchaus zu befriedigen. Die Verse betreffend, so wollte es mir vorkommen, als ob der Hexameter für solche beschränkte Zustände viel zu prätentiös, auch oft ein wenig gezwungen und geziert sei, und daß die Perioden nicht immer natürlich genug hinfließen, um bequem gelesen zu werden.

Ich äußerte mich über diesen Punkt heute mittag bei Tisch gegen Goethe. »Die früheren Ausgaben jenes Gedichts«, sagte er, »sind in solcher Hinsicht weit besser, so daß ich mich erinnere, es mit Freuden vorgelesen zu haben. Später jedoch hat Voß viel daran gekünstelt und aus technischen Grillen das Leichte, Natürliche der Verse verdorben. Überhaupt geht alles jetzt aufs Technische aus, und die Herren Kritiker fangen an zu quengeln, ob in einem Reim ein s auch wieder auf ein s komme und nicht etwa ein ß auf ein s. Wäre ich noch jung und verwegen genug, so würde ich absichtlich gegen alle solche technischen Grillen verstoßen, ich würde Alliterationen, Assonanzen und falsche Reime, alles gebrauchen, wie es mir käme und bequem wäre; aber ich würde auf die Hauptsache losgehen und so gute Dinge zu sagen suchen, daß jeder gereizt werden sollte, es zu lesen und auswendig zu lernen.«

 


 

Freitag, den 11. Februar 1831

Heute bei Tisch erzählte mir Goethe, daß er den vierten Akt des ›Faust‹ angefangen habe und so fortzufahren gedenke, welches mich sehr beglückte.

Sodann sprach er mit großem Lob über Schön, einen jungen Philologen in Leipzig, der ein Werk über die Kostüme in den Stücken des Euripides geschrieben und, bei großer Gelehrsamkeit, doch davon nicht mehr entwickelt habe, als eben zu seinen Zwecken nötig.

»Ich freute mich,« sagte Goethe, »wie er mit produktivem Sinn auf die Sache losgeht, während andere Philologen der letzten Zeit sich gar zu viel mit dem Technischen und mit langen und kurzen Silben zu schaffen gemacht haben.

Es ist immer ein Zeichen einer unproduktiven Zeit, wenn sie so ins Kleinliche des Technischen geht, und ebenso ist es ein Zeichen eines unproduktiven Individuums, wenn es sich mit dergleichen befaßt.

Und dann sind auch wieder andere Mängel hinderlich. So finden sich z. B. im Grafen Platen fast alle Haupterfordernisse eines guten Poeten: Einbildungskraft, Erfindung, Geist, Produktivität besitzt er im hohen Grade; auch findet sich bei ihm eine vollkommene technische Ausbildung und ein Studium und ein Ernst wie bei wenigen andern; allein ihn hindert seine unselige polemische Richtung.

Daß er in der großen Umgebung von Neapel und Rom die Erbärmlichkeiten der deutschen Literatur nicht vergessen kann, ist einem so hohen Talent gar nicht zu verzeihen. ›Der romantische Ödipus‹ trägt Spuren, daß, besonders was das Technische betrifft, grade Platen der Mann war, um die beste deutsche Tragödie zu schreiben; allein, nachdem er in gedachtem Stück die tragischen Motive parodistisch gebraucht hat, wie will er jetzt noch in allem Ernst eine Tragödie machen!

Und dann, was nie genug bedacht wird, solche Händel okkupieren das Gemüt, die Bilder unserer Feinde werden zu Gespenstern, die zwischen aller freien Produktion ihren Spuk treiben und in einer ohnehin zarten Natur große Unordnung anrichten. Lord Byron ist an seiner polemischen Richtung zugrunde gegangen, und Platen hat Ursache, zur Ehre der deutschen Literatur von einer so unerfreulichen Bahn für immer abzulenken.«

 


 

Sonnabend, den 12. Februar 1831

Ich lese im Neuen Testament und gedenke eines Bildes, das Goethe mir in diesen Tagen zeigte, wo Christus auf dem Meere wandelt, und Petrus, ihm auf den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick anwandelnder Mutlosigkeit sogleich einzusinken anfängt.

»Es ist dies eine der schönsten Legenden,« sagte Goethe, »die ich vor allen lieb habe. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, daß der Mensch durch Glauben und frischen Mut im schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei anwandelndem geringsten Zweifel sogleich verloren sei.«

 Top