Drittes Kapitel.

Luther als theologischer Lehrer, bis 1517.

Nachdem Luther in sein Wittenberger Kloster zurückgekehrt war, wurde er Unterprior desselben.

Bei der Universität sollte er jetzt vollends in alle Rechte und Verpflichtungen des theologischen Lehramtes eintreten, indem er Lizentiat und Doctor wurde. Wieder war es der Vorgesetzte und Freund Staupitz, der darauf drang, während er selbst hierauf die Universität verlassen und ganz seinem Ordensamte sich widmen wollte. Kurfürst Friedrich, der auf Luther besonders durch eine Predigt desselben aufmerksam geworden war, erwies ihm hier zum ersten Mal persönliche Theilnahme: er erbot sich, die Kosten der Promotion für ihn zu bestreiten. Luther widerstrebte: noch Jahrzehnte nachher zeigte er seinen Freunden gern einen Birnbaum im Hof des Klosters, unter welchem er damals mit Staupitz verhandelt, dieser aber auf seiner Forderung bestanden habe. Mußte er doch des Gewichts der Aufgabe, die er übernahm, um so tiefer sich bewußt sein, je mehr er auch für sich selbst noch im Ringen nach wahrem und neuem theologischen Lichte begriffen war. Nachher, nachdem sein Beruf in gar ungeahnte und unabsehbare Arbeiten und Kämpfe ihn hineingeführt hatte, war es ihm Beruhigung, daß er ihn damals so ohne eigenen Willen aus Gehorsam übernommen habe. Und unter den Lasten und Gefahren desselben konnte er dann auch wohl äußern: »Hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, so sollten mich zehn Rosse nicht dazu gezogen haben.«

Nach den nöthigen Vorbereitungen und herkömmlichen Leistungen erhielt er am 4. October 1512 die Lizentiatenrechte und wurde am 18. und 19. feierlich zum Doctor promovirt und proclamirt. Als Lizentiat gelobte er, die evangelische Wahrheit nach Kräften zu vertheidigen: namentlich diesen Eid muß er später im Auge gehabt haben, wenn er gerne darauf sich berief, daß er seiner allerliebsten heiligen Schrift geschworen habe, sie treulich und lauter zu predigen. Der darauf noch folgende Doctoreneid verpflichtete, sich eitler, von der Kirche verdammter und frommen Ohren anstößiger Lehren zu enthalten. Des Gehorsams gegen den Papst wurde in Wittenberg nicht wie auf andern Universitäten gedacht.

Wie Staupitz, so erwarteten auch Andere von Anfang an Eigenthümliches und Bedeutendes von dem neuen Lehrer. Pollich, jene erste Größe des alten Wittenberg, der im folgenden Jahre starb, sprach schon aus, dieser Mönch werde eine Umwälzung in der Lehrweise hervorbringen, welche bisher die Alleinherrschaft auf den Schulen habe. Es soll ihm, wie wir nachher auch noch von Andern hören, bei Luther namentlich die Tiefe seiner Augen aufgefallen sein; er schloß daraus auf wundersame Ideen.

Eine neue Theologie kündigte sich bei Luther in der That sogleich in dem Gegenstande an, auf welchen er als Doctor seine Vorlesungen richtete und ausschließlich gerichtet ließ. Das sollte allein die heilige Schrift sein, sie, deren Studium in der Schultheologie allgemein hintangesetzt war, die mancher Doctor der Theologie kaum gekannt haben soll, und von welcher weg schon der Baccalaurius zu jenen scholastischen Sentenzen und einer ihnen folgenden Ausführung der kirchlichen Dogmen weiter zu eilen pflegte.

Luther begann mit Vorlesungen über die Psalmen. Es ist seine erste theologische Arbeit, die der Nachwelt erhalten blieb. Noch besitzen wir einen lateinischen Text des Psalters, den er mit fortlaufenden Anmerkungen zum Behuf seiner Lectionen versehen hatte, und ferner, von seiner Hand geschrieben, den Text von Vorlesungen, die er darüber hielt. Auch hier erklärt er, daß seine Aufgabe ihm durch ein Gebot auferlegt worden sei; er bekannte offen, selbst noch viel zu wenig die Psalmen zu verstehen; das Verhältniß zwischen jenen Anmerkungen und Vorlesungen zeigt auch, wie er fortwährend im Weiterarbeiten begriffen war. Unseren Anforderungen an eine Psalmenauslegung und auch denen, welche er selbst später machte, entspricht seine damalige nicht. Er folgt der mittelalterlichen Weise noch ganz darin, daß er in den Worten der Psalmisten überall bildliche, allegorische Beziehungen auf Christus, sein Heilswerk und seine Gemeinde meint finden zu müssen. So aber wurde es ihm möglich, nun in einer Erklärung der Psalmen auch schon die Grundzüge derjenigen Heilslehre vorzutragen, welche im Lauf der letzten Jahre in der inneren Arbeit seines Geistes und seinem theologischen Studium sich allmälig für ihn festgestellt hatte. Und zwar bemerken wir hier neben dem Ertrag seiner eigenen Forschung in der Schrift und besonders den Briefen des Paulus nunmehr auch den Gebrauch von Schriften des heiligen Augustin. Erst nachdem er Jahre lang dem Orden angehört und nachdem er selbständig in seine Bibel sich vertieft hatte, waren diese ihm bekannt geworden. Vorzüglich durch sie fand er sich jetzt im Verständniß der Lehre des Paulus gefördert und wiederum ihre Lehre von der göttlichen Gnade, die wir schon oben zu erwähnen hatten, auf die des Paulus begründet. Der Meister des Ordens wurde ihm so zum ersten Meister unter den menschlichen Theologen.

Von den Vorlesungen über die Psalmen ging Luther dann während der folgenden Jahre zur Auslegung derjenigen Briefe weiter, welche für ihn die Hauptquelle seiner neuen Erkenntniß von Gottes Gnade und Gerechtigkeit waren, des Briefs an die Römer und des an die Galater.

Im Kloster wurde Luthern auch die Leitung des theologischen Studiums der Brüder übertragen. Zur Seite trat ihm hierin sein Freund Johann Lange (oder Lang), der schon im Erfurter Kloster mit ihm zusammen gewesen war. Dieser zeichnete sich durch eine seltene Kenntniß des Griechischen aus und wurde hiedurch wohl auch noch für Luther selbst förderlich, während er seinerseits ihm für reichste wissenschaftliche Anregungen anderer Art sich dankbar bezeigte. Durch gleiche Gesinnung und persönliche, für immer fortbestehende Freundschaft war ihm ferner der Prior des Klosters, Wenzeslaus Link, verbunden, der schon seit 1508 sein Genosse im Kloster und bei der Universität gewesen und 1509 um dieselbe Zeit mit ihm als biblischer Baccalaurius, 1510 als Doctor ins theologische Lehramt eingetreten war. Das neue Streben und Leben, welches hier erwacht war, zog mehr und mehr auch aus der Ferne begabte junge Mönche herbei. Das Kloster, noch nicht ganz ausgebaut, hatte kaum genug Raum für sie und Mittel für ihren Unterhalt.

Als ferner im Jahr 1515 jene unter sich verbundenen Klöster auf einem Kapitelstag zu Gotha neue Vorsteherwahlen vorzunehmen hatten, wurde Luther, unter dem fortbestehenden Ordensvicariat des Staupitz, zum Districtsvicar für Meißen und Thüringen ernannt. Er bekam hiemit die Aufsicht über elf Klöster, zu welchen er im folgenden Jahr eine Visitationsreise antrat. Persönlich, mündlich und ebenso in Briefen sehen wir ihn da mit hingebendem Eifer für das geistige Wohl der ihm Anvertrauten, für Zucht gegen schlechte Brüder, für Tröstung Angefochtener, wie für die weltlichen, wirthschaftlichen oder auch rechtlichen Angelegenheiten der Klöster wirken.

Neben dem akademischen Lehramt lag ihm ein zweifaches Predigtamt ob. Zunächst hatte er in seinem Kloster zu predigen, womit er wohl auch schon in Erfurt den Anfang gemacht hatte. Beim neuen Klosterbau in Wittenberg war die Kirche noch nicht fertig: in einer danebenstehenden kleinen und dürftigen, aus Holz und Lehm aufgerichteten, baufälligen Kapelle begann er das Evangelium zu verkündigen und die Kraft seiner Beredsamkeit zu entfalten. Als dann der neue Wittenberger Stadtpfarrer Simon Heinz, den der Magistrat 1516 in dieses Amt einsetzte, wegen Leibesschwäche und Kränklichkeit sich zum Predigen wenig geeignet zeigte, drang die städtische Gemeinde in Luther, auch Predigtdienste in ihrer Kirche zu übernehmen. Mit großer Frische, Energie und Arbeitskraft genügte er den verschiedenen Aufgaben. Es konnte kommen, daß er eine Woche hindurch an jedem Tag, oder daß er an Einem Tag dreimal predigte; in der Fastenzeit 1517 hielt er täglich zweimal Predigten neben seiner akademischen Vorlesung. Der Eifer, mit dem er diese Verkündigung des göttlichen Wortes für die Gemeinde im Gottesdienst betrieb, war ebenso eigenthümlich und neu wie jene höchste Bedeutung, welche er den Vorträgen über die heilige Schrift auf dem Katheder beilegte.

Von jenen ersten Vorlesungen Luthers über die Psalmen und den Römerbrief sagt Melanchthon: Nach langer und dunkler Nacht habe man hier ein neues Licht der christlichen Lehre aufgehen sehen; hier habe Luther den Unterschied des Gesetzes und Evangeliums gezeigt, hier den auf Kathedern und Kanzeln herrschenden Irrthum widerlegt, als ob Menschen mit ihren Werken sich Vergebung der Sünden verdienen und vor Gott durch äußere Zucht gerecht sein könnten, wie einst Lehre der Pharisäer gewesen sei; zum Sohn Gottes habe Luther wieder hingerufen; wie Johannes der Täufer auf das Gotteslamm hingewiesen habe, das unsere Sünden getragen, so habe jener gezeigt, daß um des Sohnes Willen die Sünden aus Gnaden vergeben werden und daß man solche Wohlthat im Glauben aufnehmen müsse.

In der That liegt die christliche Grundanschauung, auf welcher das innere Leben des Reformators ruht, für welche er in den Kampf ging und welche ihm Kraft und frischen Muth für die Kämpfe gab, ihren wichtigsten Zügen nach schon in den Vorlesungen und Predigten jener Jahre vor uns und nimmt zu an Klarheit und Bestimmtheit. Das neue Licht, von dem wir ihn oben reden hörten, ist hier wirklich für ihn angebrochen. Diejenige Grundwahrheit, die er später als den Artikel bezeichnet hat, mit welchem eine christliche Kirche stehe und falle, steht schon hier für ihn fest, ehe er etwas davon ahnt, daß sie ihn in Zwiespalt mit der katholischen Kirche bringen, ja daß sein Eintreten für sie Anlaß zu einem kirchlichen Neubau werden sollte. Die Grundfrage, um die es hier immer für ihn sich handelte, blieb immer die, wie er, d. h. der sündhafte Mensch, vor Gott bestehen und Heil und Seligkeit gewinnen könne. Eins hiemit wurde für ihn jene Frage nach der Gottesgerechtigkeit. Und jetzt erschrak er nicht mehr vor der strafenden Gerechtigkeit, mit welcher der heilige Gott dem Sünder droht, sondern er erkannte jene im Evangelium geoffenbarte Gerechtigkeit (Röm. 1, 17; 3, 25), dadurch der gnädige Gott die Gläubigen gerecht macht, indem er selbst sie in die rechte Stellung zu sich versetzt und innerlich umwandelt und fortan wie Kinder seiner beseligenden Vaterliebe genießen läßt. Indem Luther jetzt lehrt, daß den Glaubenden dies zu Theil werde, weist er vor allem die Meinung ab, als ob der Mensch je durch äußere Leistungen seinerseits die Sünde gut machen und Gottes Gunst sich verdienen könnte. Er erinnert in Betreff der sittlichen Werke überhaupt, daß gute Früchte immer schon einen guten Baum voraussetzen, auf dem allein sie wachsen können, und daß so vom Menschen Gutes erst dann ausgehen könne, wenn er in seinem Innern, seiner innern Stellung, Richtung und Beschaffenheit gut geworden sei: es müsse einer gerecht sein, ehe er Gerechtigkeit wirke. Der Glaube aber ist es, der ihm im Innern des Menschen die entscheidende Bedeutung für die Gemeinschaft mit Gott hat. Denn erst allmälig kann des Menschen eigenes Inneres in Hingabe an Gott durch Mittheilungen Gottes wahrhaft recht beschaffen und das Böse ausgetilgt werden. Hätte Luther auf eine solche eigene Rechtbeschaffenheit, die dem heiligen Gott hätte genügen sollen, noch die Seligkeit zurückgeführt, so wäre er an dieser Seligkeit im Bewußtsein seiner noch fortwährenden Sünde und Schwäche fort und fort verzweifelt. Und alles das Wirken des göttlichen Geistes und seiner Gaben in unserm Innern setzt ja schon voraus, daß wir der vergebenden Gnade und Huld Gottes bereits theilhaftig und in seine Gemeinschaft aufgenommen sind. Hiezu, so lehrt Luther mit Paulus, gelangen wir einfach durch den Glauben an die frohe Botschaft seiner Gnade, an seine Barmherzigkeit und seinen Sohn, den er uns zum Erlöser geschenkt. Den Glauben nennt er so schon in seinen ersten Anmerkungen zum Psalter den Mittelpunkt, das Mark, den kurzen Weg. Der schlimmste Feind ist ihm Selbstgerechtigkeit; er bekennt auch bei sich selbst noch mit diesem kämpfen zu müssen.

Hierin also fand Luther mit dem Zeugnisse des großen Apostels die Theologie Augustins im Einklang. Indem er mit dieser sich beschäftigte, lernte er namentlich über die Macht der Sünde und die Unfähigkeit des Menschen, sie mit eigenen Kräften zu überwinden, immer schärfer urtheilen. Jenen Glauben aber lehrte ihn Paulus doch noch anders verstehen, als auch Augustin denselben verstanden hatte. Er ist ihm nicht blos ein Anerkennen objektiver Wahrheiten oder geschichtlicher Thatsachen, sondern Luther versteht darunter mit einer Klarheit und Bestimmtheit, die auch in Augustins Lehrweise fehlt, das Vertrauen des Herzens auf die im Heilswort dargebotene Gnade, die persönliche Zuversicht zum Heilande Christus und dem, was er uns erworben. Mit diesem Glauben also und vermöge dieses Heilandes, auf den er vertraut, bestehen wir dann vor Gott, haben schon die Gewißheit der Gotteskindschaft und Seligkeit und sind des Geistes von oben, der nun auch das Innere nach allen Seiten hin mehr und mehr durchheiligt, theilhaftig. Für Augustin dagegen und für alle katholischen Theologen, die an ihn sich anschlossen, ist das, womit wir vor Gott bestehen sollen, vielmehr jene ganze innere Rechtbeschaffenheit, die Gott mit seinem Geist und seinen Gnadenwirkungen im Menschen selbst herstelle, oder, wie man es auszudrücken pflegte, die ihm von Gott eingegossene Gerechtigkeit. Da wurde dann das Gute, das jetzt im Christen selbst sei, so hoch angeschlagen, daß er vermöge desselben gar Verdienst vor dem gerechten Gott sich erwerben und noch über das von ihm Geforderte leisten könne. Aber das Gewissen, das nach Luthers strengem Maßstab solche Tugenden und Leistungen und die vorangegangenen und noch fortwährenden Sünden abschätzte, konnte Sicherheit über Vergebung, Gnade und Seligkeit nicht erlangen. Eben in jenem einfachen Glauben hatte Luther sie gefunden. Eigener Verdienste bedurfte er dazu nicht. Die wahrhaft guten, gottgefälligen Früchte aber sollte der frohe Geist der Kindschaft mit seinem eigenen freien Trieb im Christen erzeugen. Es währte lange, bis dieser Unterschied von seinem Hauptlehrer unter den Theologen Luthern selbst zum Bewußtsein kam. Wir aber sehen ihn schon von jenen Anfängen an in den Grundzügen hervortreten und endlich eben auf Grund der apostolischen Lehre klar und scharf in der Theologie des Reformators sich ausprägen.

Hiemit hängt unmittelbar zusammen, was Melanchthon dort über Gesetz und Evangelium geäußert hat. Luther selbst hat nachher stets erklärt, an einer richtigen Erkenntniß des Verhältnisses beider zu einander hänge das ganze Verständniß der göttlichen Heilsoffenbarung und christlichen Heilswahrheit; und auch dieses Verhältniß hat er schon in den letzten Jahren vor dem Beginn seiner kirchlichen Kämpfe in seiner Weise, auf Grund der damals von ihm vorgetragenen Paulinischen Briefe, ans Licht gestellt. Das Gesetz ist ihm der Inbegriff der heiligen Forderungen Gottes mit Bezug auf Willen und Wirken, die der Sünder doch nicht erfüllen könne, das Evangelium, die frohe Botschaft und Darbietung jener vergebenden Gottesgnade, die eben im einfachen Glauben angenommen sein wolle. Durch jene, sagt Luther, werden so die Sünder gerichtet, verurtheilt, getödtet; er selbst habe darunter schwitzen und sich ängstigen müssen, wie unter den Händen eines Stockmeisters und Henkers. Das Evangelium erst richte die Zerschlagenen auf und mache sie lebendig durch den Glauben, den die gute Botschaft selbst in den Herzen erwecke. Gott aber wirke in beiden: dort ein Werk, das ihm, dem Gott der Liebe, eigentlich fremd sei, hier das ihm eigene Werk der Liebe, für das er aber eben durch jenes die Sünder erst zubereiten müsse.

Indem Luther auf diesem Weg weiter arbeitete, wurde er seit dem Jahre 1516 auch mit den Predigten des frommen, tiefen mittelalterlichen Theologen Tauler († 1361) bekannt, und um dieselbe Zeit fiel ihm ein alter, nicht lange nach Tauler abgefaßter theologischer Tractat in die Hände, der dann durch ihn den Namen »deutsche Theologie« erhalten hat. Zum erstenmal und in ihren edelsten Vertretern trat ihm hier die christliche und theologische Richtung entgegen, welche man als die praktische deutsche Mystik des Mittelalters zu bezeichnen pflegt. Im Gegensatz gegen den Werth, welchen ein veräußerlichtes mittelalterliches Kirchenthum auf äußerliche Werke und gesetzliche Uebungen legte, lernte er hier die innigste Vertiefung christlich-religiöser Gesinnung kennen. Im Gegensatz gegen die fruchtlosen formalistischen Auseinandersetzungen und logischen Operationen eines scholastischen Verstandes fand er ein Streben und Ringen des ganzen inneren Menschen mit Gemüth und Willen nach unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott und Einigung mit ihm, der selbst die ihm ergebene Seele in diese Einigung mit sich ziehen und sie selbst darin »gottförmig« werden lassen wolle. Auch bei einem Augustin war ihm eine solche Tiefe der Betrachtung und solche Innigkeit christlichen Gemüthes nicht begegnet. Dazu freute er sich seiner deutschen Muttersprache, in welche er diesen Schatz gefaßt sah; und es war wohl das edelste Deutsch, das er bis dahin zu lesen bekommen hatte. Wunderbar fühlte er sich von dieser Theologie ergriffen: er kenne, schrieb er einem Freund, keine, die mehr mit dem Evangelium übereinstimmte, als die jener Taulerschen Predigten. Jenen Tractat gab er gleich im Jahre 1516 (damals noch nicht ganz vollständig) und dann wieder 1518 heraus. Es war die erste Publikation von seiner Hand. Seine ferneren Predigten und Schriften zeigen, wie er jetzt aus diesen Quellen trank und davon sich durchdringen ließ. Für die ganze Durchbildung seines Innern und seiner Theologie haben die hier empfangenen Einflüsse bleibende Bedeutung bekommen.

Was die Sünde anbelangt, so lernte er sie jetzt ihrer tiefsten Wurzel und ihrem Grundcharakter nach im eigenen Willen, in Eigenliebe und Selbstsucht erkennen. Zur Gemeinschaft mit Gott gehört ihm, daß das Herz von allem kreatürlichen sich ablöse und mit diesem seinen Willen sich in den Tod gebe, ganz zu nichte werde und Gott allein in sich schaffen und wirken lasse. So soll, wie er auf dem Titel jener deutschen Theologie sagt, Adam in uns sterben und Christus erstehen. Aber der mystischen nicht minder als der Augustinischen Theologie gegenüber hat doch die Eigenthümlichkeit seiner auf dem Schriftwort ruhenden Auffassung des Heilsweges sich behauptet und, nachdem sie durch jene Einflüsse hindurchgegangen war, dann vollends in ihrer Selbständigkeit unter seinen reformatorischen Kämpfen sich entfaltet. Ihm ist für seine Gemeinschaft mit Gott doch nie, wie es bei jener Mystik erscheint, die Selbstvernichtung der Persönlichkeit und ihre Abkehr von allem Weltlichen und Endlichen das Entscheidende, und ein blos leidendes Verhalten zu Gott und eine hierin empfundene Seligkeit ist ihm nicht das Letzte oder Höchste. Vernichtet soll jene werden nur so fern sie mit ihrem Willen gegen Gott sich stellt, ganz niedergeworfen, sofern sie hiebei gar Ansprüche auf Eigengerechtigkeit und Verdienst vor Gott erheben möchte. Der Weg zur wirklichen Gottesgemeinschaft aber bleibt ihm wesentlich jener kurze Weg des Glaubens, in welchem die gebrochene Persönlichkeit die Hand der göttlichen Barmherzigkeit ergreift und durch sie nun auch voll aufgerichtet wird. Christus ist für sie erschienen, damit sie, wie die Mystik mit der heiligen Schrift sagt, mit ihm sterbe und ihm in Selbstentäußerung nachfolge. Für jenen Glauben aber steht Christus vor allem als der Heiland da, der für uns gestorben ist und mit seinem heiligen Leben und Wandel vor Gott für uns eintritt, damit so der Gläubige durch ihn Versöhnung und Seligkeit habe. Was wir so an diesem Heiland haben, hat Luther damals und mit ähnlichen Worten auch später in seiner eigenen mystischen Anschauung und Sprache kurz so zusammengefaßt: »Herr Jesu, du hast an dich genommen, was mein ist und mir gegeben, was dein ist.« – Wir können die Unterschiede zwischen Luther und der deutschen mittelalterlichen Mystik überhaupt auf eine verschiedene Würdigung des allgemeinen Verhältnisses zwischen Gott und der menschlich-sittlichen Persönlichkeit zurückführen. Im Hintergrund steht dort neben der christlich-religiösen Auffassung eine metaphysische, für welche Gott ein absolutes, über alle Bestimmung erhabenes, reich erscheinendes und doch abstract leeres Sein ist, das überhaupt kein Fürsichsein des Endlichen neben sich duldet. Für Luther bleibt die Grundbestimmung in Gott, daß er der vollkommen Gute, und in seiner Erhabenheit und Heiligkeit Liebe sei. Dieser Gott ist es, der den glaubenden Sünder aufrichtet und gerecht macht. Von hier aus hat Luther dann auch Kraft und Energie zum Hervortreten in den Kampf gewonnen, während die fromme Mystik duldend in der Stille verharrte. Von hier aus ist er sich hernach der christlichen Freiheit und sittlichen Verpflichtung mit Bezug auf's Leben in der Welt und seine Aufgaben bewußt geworden, während jene weltflüchtig blieb. Die innere Verwandtschaft übrigens zwischen der Richtung eines Tauler und dem lutherischen Standpunkt hat auch fernerhin stets in einer Anziehungskraft sich kundgegeben, welche jene von Luther so warm empfohlenen Predigten immer wieder auf Glieder der evangelischen mehr als auf Glieder der katholischen Kirche geübt haben.

Was Christus für uns gelitten und gethan und wie wir durch ihn die Gottesgerechtigkeit, Frieden und wahres Leben erlangen: diese praktisch-religiösen Gedanken durchdrangen jetzt alle Vorträge Luthers. In die lebenbringende Erkenntniß hievon wollten auch seine gelehrten theologischen Vorlesungen einführen, während sie die dogmatischen Untersuchungen, Grübeleien und Speculationen der Schultheologien bei Seite ließen. Anfangs hatte auch er noch bei seinen Predigten im Kloster einzelne philosophische Ausführungen und Hinweisungen auf Aristoteles und berühmte Scholastiker in seine Darstellungen biblischer Wahrheiten aufgenommen, wie es Brauch gelehrter Kanzelredner war. Aber schon in jenen Jahren hat er dies völlig abgestreift, hat ferner, was die Form der Predigt betrifft, an die Stelle eines steif logischen Aufbau's den schlichten, lebendigen, kräftigen Fluß der Rede treten lassen, der ihn dann vor allen Predigern seiner Zeit ausgezeichnet hat. Vor seiner städtischen Gemeinde hielt er in den Jahren 1516 und 1517, um sie in den Zusammenhang der christlich-religiösen Wahrheit einzuführen, auch eine Reihe von Predigten über die zehn Gebote und das Vaterunser. Für die christlichen Leser insgemein ließ er ferner i. J. 1517 eine Erklärung der sieben Bußpsalmen im Druck erscheinen. Er wollte sie ihnen, wie der Titel besagte, nach ihrem schriftlichen Sinn auslegen, und zwar zur Förderung wahrer Erkenntniß der Gnade Christi und Gottes und zugleich des eigenen Ich (»sein selben«). Es ist die erste von ihm verfaßte Schrift, die er selbst veröffentlicht hat und die erste in deutscher Sprache, die wir überhaupt von ihm besitzen (denn die später publizirten Vorlesungen sind von ihm lateinisch gehalten und die ältesten Predigten, die wir noch von ihm haben, in lateinischer Sprache von ihm zu Papier gebracht worden). Titel und Vorrede geben wir hier nach dem ursprünglichen Drucke wieder.

Luther
Abb. 6: Titel und Vorrede der Bußpsalmen.

Gewaltig wird endlich in Luther auch schon der Drang rege, kraft der von ihm errungenen Wahrheit die Lehre und Lehrweise jener Schultheologie zurückzuweisen, die er selbst in eitler Arbeit durchgemacht hatte und unter welcher er jene verdunkelt und gehemmt sah. Zugleich wandte er sich gegen Aristoteles, den heidnischen Philosophen, von welchem sie ihren leeren und verkehrten Formalismus habe, dessen Physik zu nichts tauge und der besonders in seiner Auffassung des sittlichen Lebens und sittlich Guten blind sei, indem er vom Wesen und Grund jener wahren Gerechtigkeit nichts wisse. Die wirkliche, ursprüngliche Aristotelische Philosophie hatten die Scholastiker, wie auch Luther ihnen vorwarf, überhaupt nicht verstanden. Das wirklich Große und Bedeutungsvolle aber, das wir in der Entwicklung menschlichen Denkens und Wissens ihr zuerkennen müssen, lag freilich fern ab von jenen tiefsten Fragen des innern sittlich-religiösen Lebens, die Luthers Geist ganz erfüllten, und jenen Wahrheiten, für die er erst wieder zu zeugen hatte. Besonders scharf brachte Luther seine an Augustin sich anschließende Lehre über menschliche Unfähigkeit und göttliche Gnade und seinen Widerspruch gegen die bisher herrschenden Schulen und ihren Aristoteles in Thesen zum Ausdruck, über welche Schüler von ihm im Lauf der zuletzt genannten Jahre disputirten. Auch das Urtheil anderer, wie namentlich seines Lehrers Trutvetter, über die von ihm eröffnete Polemyk wünschte er zu erfahren.

Schon durfte er sich freuen, daß in Wittenberg seine oder, wie er sie nannte, die Augustinische Theologie zum Sieg durchdringe. Ihr schlossen sich von den Theologen, die dort schon vor ihm und zwar ganz in scholastischer Weise gelehrt hatten, namentlich Carlstadt an, der ihn jetzt in dieser Richtung bald noch zu überbieten strebte und späterhin in eigenem reformatorischen Eifer mit dem Reformator Luther in Streit gerieth, und Nicolaus von Amsdorf, den wir hernach stets an Luthers Seite als persönlichen Freund und strengsten Lutheraner werden stehen sehen. In Erfurt erhielt jetzt Luthers ehemaliges Kloster seinen Freund und Gesinnungsgenossen Lange, der aus Wittenberg, dorthin zurückkehrte, zum Prior, während freilich seine ehemaligen Lehrer in seine neuen Wege sich nicht finden konnten. Sehr wichtig wurde ferner für Luthers Wirken und Stellung seine Freundschaft mit Georg Spalatin, dem Hofprediger und Geheimschreiber Kurfürst Friedrichs des Weisen, einem gewissenhaften, lauter gesinnten Theologen und einem Mann von vielseitiger Bildung und ruhigem, besonnenen Urtheil. Er war mit dem ihm gleichaltrigen Luther in Erfurt, als dieser dort zu studiren anfing, noch eine Weile als Student zusammen gewesen und nachher in Wittenberg, wohin er als Prinzenerzieher kam, ihm innig vertraut geworden. Luther schätzte in ihm einen aufrichtigen, warmherzigen Freund und nicht minder der Kurfürst einen treuen, umsichtigen Rathgeber. Namentlich durch ihn blieb nun der wohlwollende Blick des Fürsten fortwährend auf Luther gerichtet, dem er seine Aufmerksamkeit auch durch Geschenke, wie einmal durch eine Gabe schönen Tuchs, das Luther für eine Kutte fast zu gut fand, bezeigte. Spalatin, einst Mitglied jenes Erfurter Poetenkreises, blieb mit demselben auch nachher in Verbindung, verkehrte ferner brieflich mit dem Haupte der Humanisten, Erasmus und vermittelte so für Luther Beziehungen auch nach diesen Seiten hin. – Im übrigen Deutschland sehen wir die durch Luther vertretene »Theologie Augustins« oder »des heiligen Paulus« zuerst bei Nürnberger Freunden festen Boden gewinnen; i. J. 1517 kam W. Link dorthin als hochgeschätzter Prediger.

Luther
Abb. 7: Spalatin nach L. Cranach.

Wir sahen, wie Luther als Student auch selbst schon mit jungen Humanisten in Erfurt Gemeinschaft pflegte. Jetzt, während er auf seine Weise in der Theologie weiter strebte, öffnete er sich zugleich den allgemeinen, durch den Humanismus vertretenen wissenschaftlichen Interessen. Dem berühmten Mutianus Rufus in Gotha, in welchem jene Poeten damals ihren gefeierten Meister verehrten und mit welchem ebenso seine Freunde Lange und Spalatin ehrerbietig verkehrten, trat auch er wenigstens mit einem Briefe nahe. Als der Humanist Reuchlin, damals der erste Kenner und Lehrer des Hebräischen in Deutschland, wegen der Einsprache, welche er gegen die Verbrennung der jüdischen, rabbinischen Bücher erhob, von eifernden Theologen und Mönchen verketzert wurde und darüber ein heftiger Kampf der Humanisten gegen die Finsterlinge entbrannte, sprach Luther, durch Spalatin um sein Urtheil befragt, sich sehr entschieden für jenen aus und gegen seine Widersacher, welche Mücken seien und Kameele verschlucken möchten; sein Herz, sagte er, sei von dieser Sache so voll, daß seine Zunge es nicht aussagen könne. Die Mittel kecker Satyre jedoch, mit denen sein vormaliger Universitätsfreund Crotus und andere Humanisten in Schriften wie den berühmten »Briefen der dunklen Männer« jene Gegner lächerlich machten, waren nicht nach seinem Sinne. Die Sache war ihm eine zu ernste.

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Abb. 8: Erasmus nach A. Dürer.

Die erste Stelle unter den Männern, welche die Wissenschaft des Alterthums neu belebten und für die Gegenwart und namentlich auch die Theologie fruchtbar zu machen suchten, hat durch umfassende Kenntnisse, Feinheit des Geistes und unermüdliche vielseitige Leistungen der schon genannte Erasmus eingenommen. Eben jetzt, i. J. 1516, erschien von ihm auch eine epochemachende Ausgabe des Neuen Testaments mit Uebersetzung und erklärenden Anmerkungen. Luther erkannte seine hohen Gaben und Verdienste an und wünschte, er möge damit den ihm gebührenden Einfluß ausüben. In Briefen an Spalatin nennt er ihn »unser Erasmus«. Aber schon jetzt hat er auch ihm gegenüber seine Selbständigkeit behauptet und ein freies Urtheil über ihn sich erlaubt. Er bedauert bei ihm ein doppeltes: vor allem. daß auch ihm, wie es in der That der Fall war, das Verständniß für jene Grundlehren des Paulus von der menschlichen Sünde und Gesetzesgerechtigkeit und von der wahren Gottesgerechtigkeit fehle; und ferner, daß auch er die Schäden der Kirche, über welche jeder Christ mit tiefem Schmerz zu Gott klagen müsse, zu einem Gegenstand des Lachens mache. Er wollte indessen sein Urtheil über ihn geheim gehalten haben, um damit nicht den schlechten eifersüchtigen Gegnern des Mannes Vorschub zu leisten.

Es fehlte schon jetzt nicht an Erbitterung und Anfeindung, die Luthers Wort und Wirken bei den Vertretern der bisher herrschenden theologischen und kirchlichen Anschauungen wach rief. Aber davon, daß er mit dem bisherigen Kirchenthum, seinen Autoritäten und Grundformen werde brechen müssen, hatte er selbst noch keine Ahnung. Auch nahm man auf dieser Seite Anlaß zu einem richterlichen Einschreiten gegen ihn erst, als er hernach zu Folgerungen sich getrieben sah, durch welche die Gewalt der Hierarchie und zugleich ihr Gelderwerb bedroht war.

Noch äußerte und hegte er kein Bedenken gegen die gesetzlichen Bande, welche jeden Christen dem kirchlichen Priesterthum und seiner Macht unterthan erhielten. Wohl zeigte er in jener Heilslehre bereits den Weg, der die Seele im einfachen Glauben an das allen dargebotene Gnadenwort zu ihrem Gott und Heiland führte. Aber er wußte es nicht anders, als daß jeder doch auch dem Priester beichten, bei ihm Absolution holen und alle die von der Kirche verordneten Strafen und Leistungen auf sich nehmen sollte. Und in jener Lehre selbst wußte er sich ja mit Augustin, dem angesehensten Lehrer der abendländischen Kirche, eins, während die entgegenstehenden Auffassungen zwar thatsächliche Herrschaft, aber doch nie eine förmliche kirchliche Sanction jener Lehre gegenüber erhalten hatten. Eifernd deckte er schon viele praktische Mißbräuche und Verirrungen des kirchlich-religiösen Lebens auf. Aber es waren bisher doch nur solche, welche damals und schon längst zuvor auch von Andern beklagt und bekämpft wurden und welche die Kirche nie ausdrücklich für Bestandtheile ihrer eigenen Ordnungen erklärt hatte. Er läßt sich aus über Aberglauben im Heiligendienst, über abgeschmackte Legenden, über eine heidnische Weise, die Heiligen um zeitliche Güter anzurufen. Aber das, daß man die Heiligen um ihre Fürsprache bei Gott bitte, rechtfertigt auch er noch gegen böhmische, aus dem Hussitenthum hervorgegangene Ketzerei, und betend ruft er selbst noch in Predigten die heilige Jungfrau an. Er will, daß die Priester und Bischöfe viel besser und gewissenhafter, als gegenwärtig der Fall sei, ihre Pflicht thun, um's Wohl der Seelen, anstatt um weltliche Dinge sich kümmern, namentlich ihre Heerden mit Gottes Wort weiden, und er sieht im Amt eines Bischofs wegen der schweren damit verbundenen Aufgaben und Versuchungen ein gefährliches Amt, das er deshalb seinem Staupitz nicht wünschen wollte. Aber der göttliche Ursprung und das göttliche Recht der hierarchischen Aemter des Papstthums, Episkopats und Priesterthums, und die Unfehlbarkeit der also regierten Kirche steht ihm unantastbar fest. Die Böhmen, die von ihr sich losgesagt haben, sind ihm »unselige Ketzer«. Ja er selbst trug damals noch diejenigen Folgerungen vor, mit welchen die römische Kirche und Theologie hernach namentlich auch die Grundsätze und Ansprüche unserer Reformation niederschlagen zu können meinte: leugne man jene kirchliche und päpstliche Gewalt, so könne Jeder gleich gut sagen, er sei vom heiligen Geist erfüllt, es werde Jeder seine eigene Herrschaft aufrichten und es gebe so viele Kirchen als Köpfe.

Nur gegen Mißbräuche, welche nicht im Sinn und Willen der katholischen Kirche selbst seien, wollte er auch dann noch sich erheben, als ihn die Aergernisse des Ablaßhandels auf den Kampfplatz riefen. Erst als ihm in diesem Kampfe Papst und Hierarchie seine evangelische Heilslehre und seinen Genuß des christlichen Heiles rauben wollten, hat er von jener evangelischen Grundlage aus an die Grundfesten dieses Kirchenthums die Hand gelegt.

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