Ein Buch für freie Geister

Sechstes Hauptstück.

Der Mensch im Verkehr.

293.

Wohlwollende Verstellung. – Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.

294.

Copien. – Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale.

295.

Der Redner. – Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Weldt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet.

296.

Mangel an Vertraulichkeit. – Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.

 

297.

Zur Kunst des Schenkens. – Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.

298.

Der gefährlichste Parteimann. – In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.

299.

Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.

300.

Doppelte Art der Gleichheit. – Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).

301.

Gegen Verlegenheit. – Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt.

302.

Vorliebe für einzelne Tugenden. – Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.

303.

Warum man widerspricht. – Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.

304.

Vertrauen und Vertraulichkeit. – Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.

305.

Gleichgewicht der Freundschaft. – Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen.

306.

Die gefährlichsten Aerzte. – Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.

 

307.

Wann Paradoxien am Platze sind. – Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.

308.

Wie muthige Leute gewonnen werden. – Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist.

309.

Artigkeiten. – Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.

310.

Warten lassen. – Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch.

311.

Gegen die Vertraulichen. – Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.

312.

Ausgleichsmittel. – Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.

313.

Eitelkeit der Zunge. – Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.

314.

Rücksichtsvoll. – Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen Sinnesart sein.

315.

Zum Disputiren erforderlich. – Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.

316.

Umgang und Anmaassung. – Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.

 

317.

Motiv des Angriffs. – Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.

318.

Schmeichelei. – Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert, nur um so mehr wach erhält.

319.

Guter Briefschreiber. – Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.

320.

Am hässlichsten. – Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.

321.

Die Mitleidigen. – Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.

322.

Verwandte eines Selbstmörders. – Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist.

323.

Undank vorauszusehen. – Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.

324.

In geistloser Gesellschaft. – Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.

325.

Gegenwart von Zeugen. – Man springt einem Menschen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.

326.

Schweigen. – Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.

327.

Das Geheimniss des Freundes. – Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.

328.

Humanität. – Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.

329.

Der Befangene. – Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich , vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.

330.

Dank. – Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.

331.

Merkmal der Entfremdung. – Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fühlt.

332.

Anmaassung bei Verdiensten. – Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das Verdienst beleidigt.

333.

Gefahr in der Stimme. – Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen.

334.

Im Gespräche. – Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das Andere hat Sinn.

335.

Furcht vor dem Nächsten. – Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt.

336.

Durch Tadel auszeichnen. – Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.

337.

Verdruss am Wohlwollen Anderer. – Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen, jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.

338.

Sich kreuzende Eitelkeiten. – Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.

339.

Unarten als gute Anzeichen. – Der überlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen.

340.

Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. – Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.

341.

Zuwenig geehrt. – Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin.

342.

Urzustände in der Rede nachklingend. – In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. – Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren.

343.

Der Erzähler. – Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzählt dann gewöhnlich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt.

344.

Der Vorleser. – Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen.

345.

Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. – Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem – und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?

346.

Wider Willen unhöflich. – Wenn jemand wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, – also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.

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