Sechzehntes Kapitel.

Eine schimmernde Mondnacht breitet ihren mattglänzenden Schleier über die römische Ebene. Schwarzblau ragt das Sabinergebirge gegen den Himmel auf. Drüben in langer, gespenstischer Linie dunkeln die riesigen Aquädukte.

Die Straße liegt einsam. Alles, was Leben fühlt und Bewegung, ist ja nach Rom geströmt, wo morgen in aller Frühe der Einzug des Galba erwartet wird.

Nur zwei Gestalten, dicht aneinander gedrängt, schreiten über die Lavaplatten des Heerwegs: Nero und seine bebende Retterin. Phaon ist mit dem kaiserlichen Geheimschreiber Epaphroditus, der als einziger unter der zahlreichen Höflingsschar gleichfalls an die Rettung des Cäsars gedacht hat, zu Pferde vorausgeeilt, um alles vorzubereiten. Für Claudius Nero hat Acte es sicherer gehalten, zu Fuße zu gehen, wie ein wandernder Künstler. Wer ihm begegne, werde sich sagen: ›Unmöglich . . . So flieht kein Herrscher, dem ein tosendes Volk auf den Fersen ist!‹ Jeder Verdacht müsse dann schwinden.

Was mag in der Seele des flüchtenden Imperators vorgehen? In der Linken hält er das Tuch, mit dem er sich bis zur Erreichung der Stadtgrenze das Gesicht verdeckt hat; mit der Rechten umklammert er krampfhaft die schlanken Finger seiner Begleiterin.

Wie jetzt die Straße sich wendet und der Mond voll in das Antlitz des jungen Mädchens scheint, blickt Nero ihr zum erstenmal, seit sie dahinschreiten, voll in die Augen.

Das sind noch dieselben treuen, hingebungsvollen Augen, die ihn einst im Zelt des Aegypters so glückverheißend, so mild, so beseligend angestrahlt.

Welch ein klaffender Abgrund zwischen damals und jetzt! Ein Strom von Blut gurgelt in diesem Abgrund; wildes Hohngelächter hallt in vieltausendfältigem Echo über dem dampfenden Strudel.

Ach, und dennoch: diese Augen lächeln wie einst, holder noch, himmlischer, denn sie lächeln durch Thränen.

Gibt es doch vielleicht einen Trost für den Trostlosen, – Gnade für den, der nicht Gnade gekannt hat, weder mit sich noch der Menschheit?

Erschöpft von den Aufregungen des Tages, voll Haß, Zorn, Reue, Verzweiflung, bleibt er stehen und stützt sich auf den Arm der Geliebten, – der Zeus von einst auf den Arm der ehemaligen Sklavin. Dann sinkt er auf die Trümmer eines vergessenen Grabmals.

›Sei mir gegrüßt, fromme Seele‹ – liest er auf dem dunklen Basaltstück, das dem Gemäuer entbröckelt ist.

Er fährt empor. Hier darf er nicht rasten! Die Stätte hier ist geweiht, – und er ein Geächteter, ein Verbrecher, von dem die grauenhaftesten Missethäter des Orkus die Augen hinwegwenden, um nicht zu erstarren, wie Menschen und Götter beim Anblick des natternumzischten Medusenhauptes.

Acte zieht ihn sanft wieder herab.

»Ruhe du nur!« flüstert sie und legt ihm beschwichtigend ihre freundliche Hand auf die Stirne. »Mir sagt's mein Herz: es droht uns keine Gefahr. Komm! Beug dich hernieder! Leg mir dein Haupt in den Schoß! Schlummre! Ich wache für dich.«

Beim Klang dieser Stimme ergreift es den Unglücklichen wie unendliches Weh. Er birgt sein Antlitz an ihrer Brust; er umschlingt sie mit beiden Armen und bricht, laut aufschluchzend, in einen Strom glühender Thränen aus.

»Acte, Acte!« ruft er mit einer Stimme, die ihr das Herz fast in Stücke zerreißt. Dann schluchzt er weiter, bis sein Haupt herniedergleitet zu ihren Knieen. Liebkosend streicht sie ihm über das wellige Haar. Er ist eingeschlafen, – eingeschlafen auf der Flucht vor dem Aufstand, der ihm Tod und Verderben sinnt.

Sie betrachtet sein mondbestrahltes Gesicht, das so bleich erscheint, so geisterhaft, wie das eines Toten. An den Wimpern glänzt noch die letzte Thräne. Sein Mund, ach, der süßberedte, liebeglühende Mund von einst, hat sich leise geöffnet. Ein flüchtiges Lächeln huscht darüber hinweg, ganz unmerklich, aber so zauberisch verklärend . . .

»Ich weiß nur eins: daß ich dich liebe!« flüstert sie, das Wort wiederholend, das sie im Goldenen Hause ihm zugerufen. »Jetzt, da du elend bist und allein, jetzt darf ich's! Niemand, und Gott der Allmächtige selbst nicht, kann mich darob verdammen. Ja, ich liebe dich, trotz allem, was du gesündigt hast. ›Die Liebe ist mächtiger als der Tod!‹ sagt der Apostel. Aber noch mehr: sie ist auch mächtiger als die Schmach und die Missethat.«

Sie beugt sich nieder und drückt ihm einen leisen Kuß auf die Stirn. Und abermals gleitet ihm ein Lächeln über den Mund, so mild und friedlich, als sei die wüste, blutbeträufte Vergangenheit ausgelöscht und nur das sehnsuchtsglühende Jünglingsherz zurückgeblieben mit seinen Träumen von einst.

Nun stützte sie, von einer sonderbaren Empfindung bewegt, den Kopf in die Hand. Sie entsann sich plötzlich der Worte, die sie dem grollenden Pallas entgegengerufen in jener entsetzlichen Nacht, da der Vertraute der Agrippina sie wegschleppte. Jede Silbe war ihr noch gegenwärtig. ›Die Strafe des allmächtigen Gottes soll mich entsühnen . . .‹ Und dann: ›Meine Lippen werden ihm noch zärtlich die Stirne küssen, wenn die arme Octavia längst von hinnen gegangen ist, und Agrippina, und du, ihr schnödes, erbärmliches Werkzeug! Eine untrügliche Ahnung sagt mir's voraus!‹ – War diese Ahnung jetzt in Erfüllung gegangen? Sie meinte: ganz und erschöpfend, so daß es nun aus wäre . . . gleich für immer? Wie? Oder gab es noch eine Zukunft . . .?

»Jesus, Heiland der Welt,« murmelte sie und blickte nach oben, »gib ihm die heilige Kraft, die zur Buße führt! Er ist nicht schlecht gewesen von Anbeginn; auch das Schicksal hat schuld an ihm; – ach, und deine Liebe ist ja unendlich! Hilf mir, daß ich ihn rette –: so soll er glauben lernen, daß du am Kreuze gestorben bist auch zur Erlösung für ihn!«

Schritte erschollen aus der Richtung des Albanergebirges.

Nero erwachte.

»Halte dich ruhig, Geliebter!« hauchte sie tonlos.

Er aber war schon emporgesprungen. Unter dem Mantel ergriff er den Dolch.

»Nein,« sprach er, »laß uns den Männern entgegengehn!«

Es waren Landleute, die, dem Drang der Ereignisse folgend, noch in die Stadt wollten.

»Ihr kommt aus Rom?« fragte einer der beiden Kolonen. »Was gibt's dort Neues? Hat man den Kaiser in Haft genommen?«

»Man sprach davon,« erwiderte Acte. »Genaues wissen wir nicht.«

Das Herz schlug ihr bis in die Kehle hinauf.

Die Landleute schritten vorüber.

»Es lebe Galba!« sagte der eine, der eben gefragt hatte. »Ans Kreuz mit Nero dem Volksverwüster! Ich zahle dir zwei Septunzen des besten Cypriers, wenn ich's erlebe, daß man den Schuft nach den Gemonischen Stufen schleift.«

»Man wird ihn zu Tode prügeln,« sagte der zweite. »Das ist die uralte Strafe für den Landesverrat.«

Nero schauderte. Fester umklammerte seine Faust den Griff des Stiletts. So eilte er vorwärts.

Acte ging schweigend neben ihm. Sie hatte so tausenderlei auf der duldenden Seele. Es drängte sie, ihn zu fragen, ihn auszuforschen . . .; kaum widerstand sie noch. Dann spürte sie wieder ein heißes Verlangen, ihm dies oder das zu erklären; mit einem Worte: Licht zu schaffen für ihn und für sie. Doch sie bezwang sich. Das alles war jetzt unmöglich. Er mußte geschont, er mußte getröstet werden.

Abermals tönten Schritte. Ein Soldat kam vorüber. Er mochte auf Urlaub gewesen sein.

Nero blickte ihm frei ins Gesicht.

Der Krieger erkannte ihn.

»Ave Cäsar!« erklang es von seinen Lippen.

»Ich danke dir,« sagte der Kaiser. Bitterer Hohn sprühte ihm aus den Augen. Dann fühlte er Actes Hand, die sich sanft in die seine schob, und die Herbheit dieser qualvollen Stimmung verflog.

Nach Verlauf einer Stunde hatte man glücklich den Punkt erreicht, wo man links von der Heerstraße abbiegen und sich durch Strauchwerk und Dornengestrüpp einen Weg bahnen mußte, um die Villa des Phaon nicht vom Vestibulum her, sondern von ihrer Langseite zu erreichen. In dem verwickelten Dickicht kamen die beiden Flüchtlinge nur mit äußerster Mühe vorwärts. Endlich war man zur Stelle. Phaon und der Geheimschreiber Epaphroditus standen hier zum Empfange bereit. Sie hatten mit großer Anstrengung eine Oeffnung in die Mauer gebrochen, damit der Cäsar, unbemerkt von den Sklaven, ins Innere des Hauses gelangen könne.

Am Stamm einer Pinie glänzte im Mondenlicht eine Lache, denn es war tags vorher Regen gefallen.

Nero, von den Dornen blutig gerissen, ermattet und schier verdurstend, beugte sich nieder, schöpfte sich mit der hohlen Hand Wasser und schlürfte es gierig hinunter.

»Das ist jetzt mein Erquickungstrank!« seufzte er gramerfüllt.

Dann plötzlich zu Phaon gewandt: »Horch! Was ist das? Klang das nicht von der Straße herüber wie Hufgeschmetter?«

Epaphroditus eilte nach dem Vestibulum. Gleich danach kam er zurück.

»Herr,« sagte er, kaum noch der Sprache mächtig, »du bist verraten. Es sind die Reiter des Tigellinus, die dich verhaften sollen. Die Senatsversammlung hat dich auf den Antrag des Freigelassenen Icelus für einen Feind des Vaterlandes erklärt – und das Urteil gefällt, du seist zu bestrafen nach dem Brauche der Vorfahren.«

»Was heißt das: nach dem Brauche der Vorfahren?«

»Herr, es ist grausenhaft,« sagte Epaphroditus. »Der Verurteilte wird entkleidet, an den Pranger gestellt und zu Tode gegeißelt.«

»So sag dem Icelus, den ich nicht kenne, daß ich ihm seine Bosheit verzeihe. Wer immer durch mich gelitten: dieser Freigelassene hat ihn tausendfältig gerächt. Dem Senat aber melde meine Verachtung. Ich halte die Buben, die mir, da ich noch Herrscher war, voll elenden Sklavensinnes die Sandalen geleckt, nicht für wert, mir im letzten Augenblicke des Daseins das Blut nach der Stirne zu treiben. Phaon, ich danke dir! Und auch dir, Epaphroditus! Wacht über meinen Leichnam! Bittet den neuen Cäsar, daß er nicht ganz vergesse, wie alle menschlichen Dinge dem Wandel unterthan sind, und wie's dem Beherrscher Roms nicht geziemt, seinen besiegten Feind im Tode noch zu beschimpfen!«

Er zückte den Dolch wider sein Herz.

»Acte, du mein erstes und letztes Glück, mein Alles, leb wohl!«

Mit einem verzweifelten Aufschrei der Liebe, der Sehnsucht, der Todesangst stürzte sie auf ihn zu, um den Stoß zu verhindern. Leise seufzend glitt sie an dem Geliebten herab. Das scharfe Stilett war ihr tief in die Brust gedrungen.

Ein unbeschreiblicher Ausdruck des Schmerzes flog über Neros Angesicht.

»Acte! Acte! Was hast du gethan?« hauchte er, neben der Sterbenden niederknieend. »Bin ich vom Schicksal dazu verdammt, in der letzten Minute noch Unheil auszustreuen und Mord?«

»Es schmerzt nicht,« hauchte sie selig lächelnd. »Was wäre noch diese Welt ohne dich? Zu lange schon . . . hab' ich einsam dahin gelebt . . . trostlos einsam. Nun bin ich . . . bei dir . . . ewig . . . ewig . . .«

Er warf sich über sie her und küßte noch einmal den süßen Mund. Mit der Linken ergriff er ihre zuckende Hand; mit der Rechten drückte er sich unvermerkt den Stahl mitten ins Herz.

Jetzt klirrten hinter der Pinienhecke die Schwerter der Prätorianer. Der Centurio, der sich herniederbeugte und den Cäsar bei der Schulter berührte, hörte, daß er noch atmete.

»Schafft Verbandzeug herbei!« rief er seinen Soldaten zu.

Der sterbende Imperator hob noch einmal das Haupt.

»Zu spät!« klang es von seinen Lippen.

Zusammenbrechend sank er über die treue Brust, die bis zum letzten Augenblicke für ihn geschlagen. Er fühlte den leisen Druck einer zärtlichen Hand. Noch einmal klang es flüsternd an seinem Ohre wie einst, wonnig in allem Weh –, ein Hauch der unendlichsten Liebe, und, kaum noch hörbar, die brünstig flehenden Worte: »Gott sei uns gnädig!«

Dann war alles vorüber.

Phaon nahm seinen Mantel und legte ihn sanft über die Toten.

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