Neuntes Kapitel.
Der dritte August.

Der dritte August fing in Berlin an, ein Feiertag zu werden. Die Bürger freuten sich, daß sie einen guten König hatten. Sie hatten lange keinen guten König gehabt; denn der Alte Fritz war wohl ein großer König, aber er war ein Fürst gewesen, den eine tiefe Kluft des Respekts von seinem Volk trennte. Es verehrte, es bewunderte ihn, aber den Bürger schauerte, wenn er dachte, daß er mit ihm auf einer Diele, unter einem Dache stehen sollte. Der Müller von Sanssouci war ein einzelner Mann. Und zuletzt war der Alte Fritz sehr alt geworden und grämlich, und seine Kaffeeriecher drangen in die Häuser und die Hütten. Wenn er durch die Linden ritt auf seinem alten Schimmel, liefen ihm die Kinder nach und schrien und waren glücklich, wenn sie die Sohle seines Stiefels, den Saum seines Rockes anfassen konnten, auch leuchtete sein Auge noch immer groß und durchdringend, und die Bürger erstarrten in Ehrfurcht vor dem großen Könige, aber Liebe hat der matte Strahl des großen Auges nicht mehr geweckt.

Und als der große Mann im Sterben lag, durchschauerte es auch wohl die guten Bürger, daß so ein großer Mann wie der kleinste unter ihnen von dieser Welt scheiden müsse. Aber an seine großen Schlachten und, was noch größer, seine Taten für den Staat, und daß er die Seele dieses Staates gewesen, und ob eine andre Seele und welche in diesen verlassenen Körper fahren werde, daran dachten sie nicht. Den guten Bürgern fiel es überhaupt nicht ein, daß der Staat ein Leib sei, der eine Seele braucht. Sie dachten vielmehr – ganz still –, wenn der Alte tot ist, hören die Kaffeeriecher auf und vielleicht auch die Tabaksregie. Unter diesen Gefühlen der guten Bürger, die man später die Gutgesinnten nannte, entschlief der größte Mann seines Jahrhunderts. Wenn er's gewußt, vielleicht hätte sein letzter Seufzer geklungen: »Das hatte ich nicht verdient!« Und darum jubelten die guten Bürger dem neuen, gütigen Könige entgegen, der auch wirklich die Kaffeeriecher fortjagte, aber später und sehr bald ward er kein guter König. – Er starb in seinem Marmorpalais am Heiligen See, einsamer als der große Friedrich in Sanssouci. Die Kluft war noch tiefer geworden zwischen dem Könige und dem Volke.

Und nun hatte man wirklich einen guten König. Durch viele Jahre war er derselbe geblieben; es war Friede im Lande, keine Kaffeeriecher, den Tabak kaufte man zu mäßigen Preisen, die Geisterbanner und Frömmler waren fortgeschickt, Handel und Gewerbe blühten, die Soldaten waren zwar noch Soldaten, aber man konnte sich ja vor ihnen hüten, und der König und die schöne Königin fuhren so bürgerlich geschmückt, so herzlich und zutraulich durchs Volk. Keine Läufer, selten ein Vorreiter, oft in einer einfachen zweispännigen Kutsche. Das Volk fing an, diese Annäherung zu verstehen und zu würdigen, und – es liebte seinen König.

Darum war bald der dritte August, des Königs Geburtstag, ein Feiertag geworden. Sie gingen vors Tor, in die Schenkgärten, sie strömten aufs Land, in die Dörfer, die glücklichen Familien, welche die Sorgen abwerfen konnten, um einen sorgenfreien Tag unter Gottes freiem Himmel zu feiern.

Auf dem Hochplateau, südlich von Berlin, lag damals ein ländliches Dorf mit hohen, schönen, dichtumwipfelten Bäumen, mit moosbewachsenen Schilfdächern und einer alten gotischen Kirche von Granitquadern. Nur eine halbe Meile von der Stadt versank doch das Dorf fast unter den hohen Kornfeldern, wo die Ähre im Lehmboden üppig wucherte. Von all dem ist nur die Kirche von Granit geblieben, einst eine Besitzung der Tempelherren, von denen das Dorf den Namen trägt. Diese sind vor alten Zeiten schon von der märkischen und von der Erde überhaupt verschwunden, und das Feuer, das ihre Edelsten verschlang, hat auch allmählich die schönen Linden und Ulmen der Dorfstraße versengt und die Schilfdächer der Häuser verzehrt.

Heut sieht das Dorf aus wie eine mit Bäumen untersprengte Stadt. Aber auf dem üppigen Rasen, unter den prachtvollen Baumreihen war zu unsrer Zeit noch ein Spielplatz für ländliche Lust, wie man ihn nur wünschen mochte. Wo konnte man freiere Luft atmen, wo, hingestreckt im Grün, dem Spiel des Laubes, dem Gesang der Vögel ungestörter lauschen! Wo wölbte sich ein prächtigeres Dach von Ästen, um den Mittagstisch darunter aufzuschlagen! Noch prangten die Dörfer um die Stadt nicht mit blauen und goldenen Wirtshausschildern, noch lauerten die Kellner nicht am Eingang der Gitter mit der Speisekarte. Die Schenke war eine Trinkstube und Kegelbahn, weiter nichts, die Familien kehrten bei den Bauern ein, die sie vom Markte kannten. Und noch strömte nicht alles hinaus, was an Sonn- und Feiertagen die Werkstätte schließt, um das Geräusch der Straßen draußen durch neuen Lärm zu ersetzen und den Staub, den sie hinter sich gelassen, durch wilde Spiele wieder aufzuwühlen.

Es war eine Pilgerfahrt der Familien. Sie brachten eine sonntägliche Stimmung mit. Man hatte sich lang vorher besprochen. Man freute sich, einmal unter Gottes freiem Himmel einen Tag zu feiern. Wie wenige waren gereist und hatten schönere Gegenden gesehen, und wie viele hatten die Dichter gelesen und konnten auswendig ihre Lieder zum Preise der schönen Natur. Auch wer das Theater besuchte, was damals in den gebildeten Mittelständen viel häufiger geschah als jetzt, hörte und sah, wenn er es glauben wollte, daß die Menschen in den Dörfern andere und bessere wären als die in der Stadt, weil sie Gott und seiner Natur näher sind. Wenn auch nicht bei den Schäfern, doch in der Hütte, die der Fliederstrauch überschattet, sollte der Friede und das Glück des Lebens zu suchen sein. Bei aller Blasiertheit der vornehmen Welt konnte sie dieser Stimmung durch Spott nicht wehren, ja, sie erwehrte sich selbst ihrer nicht. Man mußte idyllisch sein.

Wir sehen eine solche glückliche Familie den langen, beschwerlichen Weg hinauswandern. Sie steigen über den Sand des Templower Berges, dann suchen sie den festeren Fußsteig, der neben der durchwühlten Straße fast baumlos nach dem Dorfe führt. Die Sonne brennt am wolkenlosen Himmel, und ihre Schritte sind nicht leicht; außer der Sonntagsstimmung bringen sie ja in Körben und Pompadouren mit, was zur Erheiterung dieser Stimmung dienen soll. Oft muß der Familienvater das Taschentuch herausziehen, um den Schweiß zu trocknen, und oft hält er still und sieht, ob die andern nachkommen. Da verstummt wohl das Gespräch, aber sie bleiben heiter. Unter den schattigen Ulmen, welche die Avenue des Dorfes bilden, hält endlich die Mutter und setzt ihren Beutel nieder, während der Vater sich umsieht. »Aber wo ist denn Adelheid?« – »Ach, du mein Gott«, ruft die Mutter, »da trägt das Kind doch den schweren Korb der Jette. Hab ich's ihr nicht verboten?« Die Adelheid aber hüpft heran und setzt den Korb zu ihren Füßen nieder: »Mütterchen, er war gar nicht schwer.« Die Glutröte, die ihr Gesicht überzieht, straft sie Lügen. Sie steht einen Augenblick atemlos. »Aber englisches Mädchen, wie konntest du das tun!« Der Vater schüttelt den Kopf. Aber als ihre Röte verschwindet, weist die Tochter auf das Mädchen, das noch röter gefärbt herankeucht: »Die Jette konnte ja nicht mehr.« Der Vater murmelte: »Dafür ist sie im Dienst«, doch es schien ihm nicht ernst; er klopfte der Tochter auf die leuchtenden Schultern: »Knüpfe dein Tuch zu, du bist echauffiert, und wir sind gleich im Dorf« Der Wind wehte in die alten Ulmen, als wollte er die kleine Disharmonie weghauchen; die Jette nimmt wieder den schweren Korb auf die Hüfte, und im Schatten der Bäume geht der Zug munter weiter. Die Jette stimmt einen damals sehr beliebten Gassenhauer an, und die Kinder fallen jubelnd ein:

»Mein Gustchen, mein Gustchen,
Komm mit mir aufs Dorf,
Da singen die Vögel,
Da klappert der Storch;
Da tanzet die Maus,
Da fiedelt die Laus,
Da kucket der Kuckuck
Zum Fenster hinaus.«

Nun fängt der Festtag an. Die Hunde klaffen, als sie das leichte Gittertor in der Lyziumhecke geöffnet. Adelheid kennt sie, und sie kennen Adelheid; sie streichelt sie, und sie wedeln zu ihren Füßen. Aber es ist tiefstill im Gehöft. Die Flurtür ist nicht verschlossen, doch auch im Innern des Hauses kein menschliches Wesen. Nur der graue Kater springt über den Herd, und im Zimmer schnattert der Star in seinem Käficht, indes die Wanduhr monoton tickt. – Ach, sie sind alle auf dem Felde! Und das Feld ist weit. – Dadurch scheint die Lustbarkeit gestört. Soll man Jette wieder im Sonnenbrande hinausschicken? Nein, der graue Kater, der von den Eindringlingen durch die angelehnte Kammertür entflohen ist, zeigt ihnen ein anderes Auskunftsmittel. Da liegt ja die alte Großmutter im Bette. Sie ist schon etwas närrisch und kann kaum mehr sprechen, aber Adelheid hat es ja neulich zu Pfingsten verstanden, ihr Töne und Verständnis zu entlocken. Ja, die Alte liegt noch da, stumpfsinnig lächelt sie, wie zu allem, auch den Eintretenden zu, ihre Anrede ist ihr nichts anderes als das Ticken der Uhr. Aber sie gafft Adelheids Gesicht an, ihr Grinsen wird zum Lächeln; sie muß sich neben sie setzen, sie streichelt ihre Locken mit der dürren Hand, und wie durch die Berührung allmählich elektrisiert, kommen Töne hervor, minder kreischend. Es leuchtet auch etwas wie Besinnung im Auge. Sie verständigen sich, ein Wort, ein Blick, und sie wissen, daß die Hausfrau im Kuhstall ist.

Bald fährt Frau Brösicke vom Melken auf, denn ein seltsames Kikeriki schallt ihr aus der Wandluke. Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! Und als sie sich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und die kirschroten Lippen öffnen sich, um zwei Reihen Perlenzähne zu zeigen und ein: »Angeführt mit Löschpapier, Frau Brösicke!« ihr zuzurufen. »I, so soll doch!« ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen, aber ihre Überraschung ist keine unangenehme. »Ach, die seelenhübsche Mamsell Adelheid vom Gendarmenmarkt!« Auf dem Hofe aber hat eine andere Überraschung Platz gegriffen, die nicht so angenehmen Eindruck hinterläßt. Das Dienstmädchen hatte eben vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die durstigen Lippen gesetzt, als eine heftige Ohrfeige, die aus der Luft zu schwirren schien, ihre brennenden Backen noch röter machte. Der Eimer schnellte aus ihrer Hand, und das Wasser, was sie nicht trinken sollte, überschüttete sie aus den Lüften. »Es geht doch nichts über die Unvernunft solcher Leute. Zu trinken, wenn sie erhitzt sind!« – Das Mädchen weint, aber sie beklagt sich nicht. Der Hausherr hat das Recht. Auch die Hausfrau widerspricht nicht, nur flüstert sie ihrem Alten zu: »Alter! Solchen Leuten schadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn es Lust hat, und frägt nicht, ob's die Doktoren verboten haben.«

Nun ist alles helle Tätigkeit inner und außer dem Hause. Jeder hilft mit, denn mitarbeiten an der Herrichtung zur Tafel, zum Mittagstisch, ist ein Teil der Freude. Jeder, nur der Vater nicht. Ihm wird der erste Schemel unter die Linde gesetzt, daß er in Ruhe seine Pfeife rauchen kann. Die Bäuerin will dem Herrn Kriegsrat selbst die Kohle bringen, aber Adelheid nimmt ihr die Zange ab. Und nachdem er mit dem Finger nachgestopft und einige Züge versucht, kräuselt es sanft aus dem Meerschaumkopf, und aus den Lippen schießen Rauchwirbel regelmäßig hervor. Die Pfeife zieht, alles ist in Ordnung, der Vater nickt freundlich der Tochter zu, und sie flieht vergnügt ins Haus.

Was soll man zuerst ergreifen! Die Bäuerin eilt ans Heck, auf den kleinen Hügel, und pfeift durch die hohle Hand nach dem Felde. Sie mußten es wohl gehört haben, denn bald wimmelt es von kleinen Semmelköpfen in Flur und Küche, die ihr zur Hand sind. Da knarrt der Ziehbrunnen, das Reisig prasselt auf dem Herde, bald lodern und knallen auch die Scheite frischen Holzes, die der älteste Knab noch eben im Hofe gespalten, und die Mutter aus der Stadt packt in der Stube aus den Körben und Beuteln und verteilt und bespricht mit der Hausfrau. Aber ebenso schnell tragen die Knaben und die Magd Tisch, Schemel und Bänke aufs Grüne unter die Linde. Es fügt und schichtet sich, wenn auch nicht ganz regelrecht. Wie kann ein winklig gezimmerter Tisch grad auf der Erde stehen, die ja rund ist. Das Tischtuch fliegt hinauf, die irdenen Schüsseln und Teller halten es fest, wenn ein Luftzug die Zipfel überschlagen will, und die Schüsseln füllen sich schon, nicht vom Reis, der noch über dem Feuer siedet, aber von den Lindenblüten, die der Zephir von den Zweigen schüttelt.

Es war ein goldiger Tag. Die Hitze war nicht gering, aber auf den Körper des Familienvaters, der ausruhen sollte von der Arbeit einer Woche, schien sie wie ein Balsam sich zu senken. Seine Frau zog sich einen Schemel neben ihn. Drinnen war alles geordnet, sie konnte es den andern überlassen und den Strickstrumpf vorholen, um auch der Ruhe zu pflegen.

»Es hat dich aufgeheitert, du warst heut morgen anders«, sagte sie; »noch als wir zum Tore hinausgingen, sahst du vor dich hin, daß ich wunders dachte, was es wäre.«

»Und du eiltest so aus dem Tor, daß ich auch dachte, wunders was es wäre.«

Sie ließ den Strickstrumpf sinken. »Ja, sieh mal, ich hätte es nicht gern gehabt, wenn uns einer begegnet wäre. Denn eigentlich, es ist doch nicht, was sich für uns schickt, ich meine nämlich für dich. Ja, als du noch Subalterner warst – aber nun, und wer weiß, was du noch wirst, da der Justizminister es mit dir so gut meint.«

Der Ehemann blies einen langen Dampf in die Luft und ließ die Pfeife am Fuße ruhen: »Das ist nicht immer ein Glück. – Schickt sich Gottes Natur nur für die Subalternen, für die Vornehmen aber nicht?«

»Wie du wieder bist, Mann! Ist nicht Gottes Natur auch in den Zelten und im Hofjäger? – Ins Freie raus ist recht hübsch, ja, und ich sage gar nichts dagegen, aber so zu Fuß mit Sack und Pack! – Das schickt sich doch nicht mehr.«

Er war bei guter Laune: »Nächstes Mal wollen wir einen Wagen nehmen.«

Sie nahm die gute Laune wahr: »Es ist mir auch schon recht, daß du lieber hier raus wolltest als nach Charlottenburg, denn da sind immer unterwegs die Soldaten, und die Gendarmenoffiziere flankieren in den Gärten nach hübschen Gesichtern, und du hast schon recht, hier heraus kommen sie nicht geritten, weil's zu sandig ist und die vornehmen Equipagen nicht herfahren, aber sieh mal, unsre Kinder werden doch jetzt größer, besonders die Adelheid. – Was siehst du denn so besonders dahin?«

»Ich freue mich, daß die Adelheid so groß geworden ist.«

»Ist dir sonst was Besonderes?«

»Ja, ich habe Lust nach was Besonderm«, nickte er, »denn ich bin durstig.«

Die Erklärung des Besonderen schwebte schon heran. Adelheid kam aus dem Kruge mit einem Glase Weißbier. Wer ein Glas Weißbier, das Berliner große Glas, welches in der populären Sprache nicht mit Unrecht eine Stange heißt, gesehen hat, wie der Schaum, wenn es gut eingegossen, noch einige Zoll über dem Rand steht, und der Porzellandeckel mit seinem Knopf am Rande des Glases schweben muß; – und wer die Unebenheit des Weges und die Entfernung erwägt vom Kruge bis zur Linde, der konnte sich über Adelheids Geschicklichkeit wundern, ein Künstler aber würde sich gefreut haben, mit welcher Grazie sie das Glas trug. Die schönen Formen des Mädchens entwickelten sich bei jedem Schritt, und mit jedem trat sie, zuerst vorsichtig ausschreitend, sicherer auf. Als sie aber, die Anhöhe unterm Baume hinaufsteigend, das Glas mit beiden Armen erhob und dem Vater zulächelte, glich sie doch dem Meisterwerk eines griechischen Meißels, der Hebe, die den Göttern die Schale reicht.

»Daß dir's gut bekommt, Papachen!« Der Vater setzte an und leerte ein gutes Viertel in einem Zuge. Er reichte es der Tochter, weil sie als Botenlohn das nächste Recht habe. Sie nippte und reichte das Glas der Mutter.

»Ich mag nichts«, die Mutter mußte ja stricken.

»Alte, trinke. Schluck runter, was dich verdrießt.«

Sie durstete auch. Sie wollte nur gezwungen nippen, aber sie trank. – Den Unmut hatte sie nicht ganz hinuntergeschluckt, als sie das Glas zurückgab.

»Die Adelheid in den Krug zu schicken! Das ging wohl an, solange sie die Flechten im Nacken trug. Und weißt du denn, ob nicht Soldaten im Kruge sind!«

Der dritte August, oder die warme Sonne oder das Spiel des Lindenlaubs mußte auf der Brust des Kriegsrats das Erz geschmolzen haben. Er fuhr die Frau nicht an, worauf sie doch gefaßt war, er sagte nicht, sie solle sich um das bekümmern, was sie anginge – er gab ihr recht. Aus sprach er es nicht, aber er zupfte der Lieblingstochter am Ohr: »Die Klara soll das Glas nachher zurückbringen und das Pfand einlösen.«

»Vater, es sind im Krug keine Soldaten. Aber den alten Major Rittgarten traf ich da, mit dem steifen Beine. – Der läßt dir sagen, nach Tisch will er uns auf eine Tasse Kaffee besuchen. Er freute sich, mich zu sehen, und freut sich noch mehr, mit dir ein halb Stündchen zu plaudern.«

»Ich will gar nichts damit gesagt haben, Alter, daß du durstig warst und mal einen guten Trunk dir machen wolltest«, sagte die Frau, als die Tochter fortgehüpft war, »auch meinethalben mochtest du sie schicken, aber tue doch die Augen auf; sie wächst ja aus den Kleidern raus, und wir tun noch immer, als ob sie ein Kind wäre.«

»Ist geboren in der Nacht, wo der Gendarmenturm einstürzte«, sagte der Kriegsrat. »Das vergißt sich nicht und läßt sich leicht ausrechnen.«

»Nun ja, siehst du, für uns kann sie immer noch ein Kind sein, aber was sollen die Leute draußen sagen! Die kurzen Röckchen, das paßt doch wirklich nicht mehr.«

Nach einer kurzen Pause sagte der Vater: »Soll andere Kleider bekommen, hab's schon in meinem Etat mir zurechtgelegt.«

In solcher nachgiebigen Laune war er seit Jahren nicht gewesen. Ein Eisen muß man schmieden, solange es heiß ist.

»Sie spricht auch noch manchmal wie ein Kind.«

»Ist dir das wieder nicht recht? Soll ich das auch anders machen?«

»Du nicht, Alter, nein, aber die Erziehung. Die Nähschule und die andre, nun ja, solange ging es, aber wir sind doch nun was andres. Das bißchen Französisch, das ist ja gar nichts. Sieh mal des Inspektors Töchter, die über uns wohnen, wie parlieren die schon! Und wovon sprechen sie nicht, wenn sie in Gesellschaft sind, von römischer Geschichte und Bonaparte und Afrika, und von dem Dichter Schiller wissen dir die Tischlertöchter drüben ganze Gedichte auswendig. Mir ist da oft zumute, als müsse ich mich verkriechen, weil ich davon nichts gelernt. Nun, ich bin eine alte Frau, oder werde's doch werden, aber um die Adelheid tut's mir oft in der Seele weh, wenn sie so gar nicht mitsprechen kann. Nicht einmal einen Roman hat sie gelesen, und ein einziges Mal ist sie in der Komödie gewesen. Gott sei Dank, sie hat Mutterwitz, daß sie's ihnen geben kann, und darum behält sie Respekt. Aber, lieber Mann, Französisch muß sie lernen und ein bißchen auf dem Klavier klimpern und vor allem tanzen.«

Der Vater paffte dreimal heftig und schlug sich auf den Schenkel: »Tanzen soll sie nicht lernen! Und Romane und französisch parlieren und klimpern auch nicht. Daß dich! Ich werfs zum Fenster hinaus, wenn ich was attrappiere. Und – in die Tanzschule schicke ich sie absolut nicht.«

Sie ließ ihn sich erholen: »Da hast du auch ganz recht, Alter«, hub sie, ihre Maschen zählend, wieder an, »und sie wird schon ohnedem tanzen lernen, denn sie hat ein Geschick dazu, und wenn sie nur erst in einem guten Hause ist. Aber sie wird doch älter, und einmal wird sie heiraten müssen. Der Sohn vom Hofbronzeur, der möchte sie gern haben. Die Eltern sind reich. Nun ja, wenn du sie dem geben willst, da braucht sie nicht mehr zu lernen.«

Der Vater schwieg wieder: »Sie konnte ihn ja nie leiden.«

»Und weißt du, was die Jette sagt? Sie hätte doch bei vielen Herrschaften gedient. Aber eine solche Mamsell wäre ihr noch nicht vorgekommen. Sie stäche manches Fräulein aus; auch manche Gräfin hätte nicht so feine Art. Du bist doch nun einmal Kriegsrat, und wir müssen in Gesellschaften. Sollen wir die Adelheid immer zu Haus einschließen? Du siehst es freilich nicht, wie sie zu uns raufgaffen, wenn sie am Fenster strickt, und ich hab's dir nicht sagen wollen, vom Bäcker nebenan, oben auf dem Boden, kann man in unsre Schlafstube sehen. Da steigen die jungen Herren vom Kammergericht, die Referendare, die beim Bäcker wohnen, und sehen runter, wenn wir Licht anmachen. Seit ich's weiß, darum hab ich dir die dicken Vorhänge abgeschwatzt. Aber willst du sie immer behüten?«

Der Kriegsrat antwortete nicht.

»Du hast schon ganz recht. Wenn wir sie in Gesellschaft führen, da wird's ein großes Gaffen geben, und die Herren werden um sie schwänzeln. Aber ich weiß doch nicht, Alter, ob sie da besser dran ist, wenn sie nicht Französisch kann und nicht Klavier spielen, und wenn die Leute endlich merken, sie ist ein Gänschen, mit der kann man schon was aufstellen, oder –«

Der Kriegsrat war aufgestanden. Die Pfeife stellte er an den Baum, seine Frau nahm er unter den Arm. Sie gingen unter den Linden langsam auf und ab, und er klopfte ihr auf den Arm: »Du bist schon eine kluge Frau.« Sie hatte gesiegt. Sie waren einig, daß Adelheid eine Erziehung erhalten müsse, um in der Welt aufzutreten. Weniger einig waren sie über das Wie. »Davon ein andermal«, sagte der Kriegsrat. Aber sie hielt plötzlich inne und sah ihn groß an: »Alter, dahinter steckt noch was andres. Gestern abend kamst du nachdenklich nach Haus, und du fragtest nach der Pfeife und hieltest sie schon zwischen den Beinen und heute morgen auch, Alter, da ist was los. Sonst hättest du auch nicht so schnell nachgegeben.«

Der Kriegsrat sah seine Frau scharf an, aber nicht unfreundlich: »Christine, es ist was los – eigentlich soll man Frauen so was nicht sagen, bis es gewiß ist, aber ich weiß, du plauderst nicht. Der Geheimrat Lupinus von der Vogtei –«

»Wird kassiert«, fiel sie ein, »weil die Gefangenen die Fensterscheiben eingeschlagen haben.«

»Es ist möglich, daß er sein Amt verliert, oder seine Entlassung nehmen muß«, korrigierte der Kriegsrat. »In diesem Falle gedenkt Seine Exzellenz, der Herr Justizminister –«

»Dir – dir, Mann!« rief sie verwundert. »Siehst du wohl, was Konnexionen machen! Ich weiß es von mehr als einem, wie dir der Herr Justizminister gewogen sind.«

»Ich verdanke ihm meine Stellung, das weiß ich. Eigentlich wäre das nun nicht meines Amtes, noch ist's meine Karriere; aber Exzellenz haben die gute Meinung von mir, daß ich der rechte Mann wäre, um dort die Zucht und Ordnung herzustellen.«

»Und du nimmst sie doch an?«

»Still!« gebot ein fast drohender Blick. »Die Sache mit Lupinus ist noch nicht entschieden. Und wenn, soll ich mir wieder neue Neider und Feinde machen? Denn wie viele, Würdigere, würden um mich zurückgesetzt!«

Die Frau Kriegsrätin wußte sehr viel Gründe, warum er annehmen müsse; sie wußte, daß er ganz zu dem Posten befähigt sei, denn daran zweifeln hieße ja, an der Autorität seines hohen Vorgesetzten zweifeln, der werde es doch am besten wissen, wozu er tauge. Und um die andern kümmere sie sich gar nicht. »Und«, schloß sie, »du würdest dann auch Geheimer –« Sie erschrak und verschluckte das Wort. »Aber –«

Aber einig wurden sie doch. Die Adelheid sollte Französisch lernen und ein Lehrer im Hause angenommen werden, für Geographie und Geschichte und was sonst so nötig ist, damit man nicht dumm in der Gesellschaft ist. Dazu gab der Vater die Einwilligung. Klavierspielen – auch das – aber Ästhetik! Ja, Gellert und auch Bürger und vor allem der treffliche Gleim! Er konnte alle seine Preußenlieder auswendig – »Mann! Mann!« sagte die Mutter, »da lächeln sie über uns. Sie sprechen immer nur über Schiller und Goethe und Tiedge! Die muß sie kennenlernen.« Gegen Schiller hatte der Kriegsrat nichts einzuwenden; die Königin liebte diesen Dichter, und er hatte erfahren, daß auch der König sich einmal günstig über ihn geäußert. Und Goethe ließ er passieren, sein »Götz von Berlichingen« hatte ihm wunderbar ums Herz geklungen. »Solche eiserne Hand täte unserer Zeit not!« Aber Tiedge, der sollte ja extravagante Ideen und die ganze junge Schule unsittliche Grundsätze predigen. Darüber wußte die Mutter nicht Auskunft zu geben, sie hatte nur gehört, daß er ein frommes und himmlisches Gedicht geschrieben, was »Orania« heißt, und ein anderes, was »Die Verkehrte Welt« heißt. Das wäre nicht so gut; dafür wäre er aber der Verfasser von sehr hübschen und moralischen Kindermärchen. Im übrigen, meinte sie, was sich für junge Mädchen schickt, werde wohl der Lehrer am besten wissen.

Damit war auch der Vater einverstanden, auch daß Adelheid in bessere Gesellschaft gebracht werden sollte. Nur über die Familien, wo man sie einführen sollte, war man in Streit. Endlich schloß der Vater: »Meinethalben, wo du willst, denn du kennst die Frauen besser als ich; nur nicht, wo sie Romane findet und Offiziere.«

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