Walten und Schaffen des Genius.

Große Gedanken sind umrauscht von einer göttlichen Musik. Der Dichter hört diese Musik meistenteils früher, ehe er noch den Gedanken, den sie begleitet und einführt, klar anzugeben vermag.


Dichten heißt: Bedeutenden, aber schweifenden Anschauungen der Phantasie oder auch seltsamen, aber unbestimmten Regungen des Gemüts durch den Verstand eine begrenzte Form geben. Modische Blender kehren diesen Prozess um. Sie stutzen die Verständigkeit mit phantastischem oder allerlei Gemütsflitter auf.


Die höchste Gunst der Muse, die dem schaffenden Genius zu Teil werden kann, ist die, dass seine ihm persönlich behagliche Weise auch zugleich unmittelbar den Begriff des Schönen selbst deckt. Darum aber ist die Reise, die manchmal ein Genius von seiner Heimat aus erst zum Land der Schönheit machen muss, noch nicht der gerechte Maßstab seiner Beurteilung.


Wenn du ein Bild von Kaulbach siehst, so frage nicht Cornelius um sein Urteil. Es ist erklärlich und sogar verzeihlich, dass jeder Künstler oder Dichter, der aufgefordert würde, eine Ästhetik zu schreiben, nur eine solche gibt, wonach seine eigenen Schöpfungen als die maßgebenden herauskommen.


Dem Urteil der Meister über Meister ist am wenigsten zu trauen. Denn es steht fest, dass bedeutende und schöpferische Menschen nichts empfangen, nichts hören, lesen oder sehen können, ohne sich nicht sogleich davon produktiv angeregt zu fühlen und das Ver- und Aufgenommene aus eigenen Mitteln zu ergänzen. Daher muss es wohl auch kommen, dass sich oft bedeutende Menschen vom Mittelmäßigen so auffallend befriedigt fühlen, während ihnen das Gleichartige und nicht minder von bedeutenden Menschen Ausgegangene fremdartig erscheint. Diese Selbsttätigkeit des schöpferischen Genius geht so weit, dass ihm sogar das nächste Auffassen und Begreifen einer fremden Entwicklung unmöglich werden kann.


Dichter und Künstler sollten nicht auch Staatsämter, ja Feldherrnstäbe führen können? Ohne eine starke Willenskraft, ohne eine im Nu entschlossen getroffene Wahl zwischen Ja! oder Nein! ist kein schaffender Dichter und Künstler möglich.


Es gibt zweierlei Redner: Redner, die nur vor Wenigen, und Redner, die nur vor Vielen sprechen können. Ein Redner, der an einer kleinen Tafel vortrefflich spricht, kann es oft nicht in einem Ständesaal, und ein Redner, der keinen Tost ohne Stocken ausbringen kann, wird zum Mirabeau in einer Volksversammlung. Der Unterschied ist der, dass bei dem einen der Verstand, die Kombination die Worte sucht und zusammenfügt, beim andern die Phantasie, die dichterische Anschauung, die sich von Wenigen beengt, von Vielen gehoben fühlt.


Ob du ein Redner bist, wird sich erst zeigen, wenn man dir widerspricht.


Von jedem kleinen Zuge des gewöhnlichen Lebens, der dich überraschte, von jedem Lächeln, das dir ein wunderlicher Zufall abgewann, von jedem wehmütigen Gefühl, das deinen ganzen inneren Menschen bei irgend einer Erfahrung mit Rührung überwallte, nimm an, dass dir damit etwas begegnet ist, was allen Menschen tausendmal unter gleichen Umständen ebenso begegnet. In dieser Überzeugung und in dem Vertrauen, ein so Apartes getrost als ein Allgemeines aussprechen zu dürfen, liegt der besondere Vorteil des Poeten.


Verlangt ihr im Bereich der Dichtkunst immer nur »Wahrheit« und »Natur,« so werdet ihr zuletzt die Phantasie vertrieben haben.


Katzenhumor hat derjenige Autor, der uns zumutet, etwas belachen zu sollen, was doch in seinem wahren Grund nur verletzt und beängstigt.


»Warum korrigierst du so viel an deinen Arbeiten? Ich lese im Geist die Kritik der Bosheit und sehe die sorglose Bereitwilligkeit des Publikums, sie für die Stimme der Wahrheit zu nehmen.


Eine verächtliche Literatur, die den Modetorheiten und Lieblingsneigungen des Publikums, besonders denen der Frauen, schmeichelt, z. B. die amerikanische.


Nichts lässt sich leichter affektieren als Erhabenheit.


Das Wörtchen und muss ein origineller Schriftsteller so viel als möglich zu vermeiden suchen.


Die Romantik der Phantasie lassen wir uns gefallen, die Romantik des Herzens nicht minder. Gefährlich ist die Romantik des Verstandes. An ihr ist die ganze deutsche Philosophie und Wissenschaft krank.


Der Genius, der sich an die Regeln hält, braucht Jahre, bis er erkannt wird. Den regellosen setzt der Unverstand sofort auf den Thron.


Es würde der Bühne nützlich sein, wollte man der Schauspielkunst das Recht, sich eine Kunst nennen zu dürfen, nehmen und sie vielmehr eine Wissenschaft nennen.


Für den Schauspieler ist es gefährlich, dass er erst dann ein vollendeter Künstler wird, wenn er sich die Routine erworben bat, ebenso gut auch nur ein gewandter Handwerker zu sein.


Nur durch den Anblick vorzüglicher Schauspieler kann man ein guter Dramatiker werden, aber auch nur durch eine gewisse Regelmäßigkeit im Anblick mittelmäßiger Schauspieler kann man ein guter Dramatiker bleiben. Die guten Schauspieler lassen den Dramatiker in einer für seine Schöpfungen mit der Zeit gefahrvollen Weise vergessen, was er ihnen zu danken hat.


Wir blätterten kürzlich in einigen älteren französischen Stücken nach den ersten Originalausgaben und fanden in den Trauerspielen Voltaires zuweilen Fingerzeige über die Darstellung dieser oder jener Situation, über den Vortrag dieser oder jener Effektstelle. Statt aber zu sagen: Diese Stelle muss so oder so betont oder gespielt werden, drückte Voltaire sich aus: »Für den Fall, dass man etwa dies Stück auf Provinztheatern geben sollte, muss ich bemerken, dass alle mit einem Stern bezeichneten Verse nur scheinbar kalt gesprochen werden dürfen.« Der Schall von Ferney wusste sehr wohl, dass auch den ersten Künstlerinnen der Welt oft genug Not tut, vom Dichter erst die wahre Absicht zu erfahren, die er mit dieser oder jener Stelle seines Gedichts verbunden hat. Er war indessen Weltmann und Kenner der Künstlereitelkeit genug, seine Vorschriften scheinbar an Provinzschauspieler zu richten, was uns an jenen verdrießlichen Herrn erinnerte, der in einem Gasthof seinem etwas lustigen und laut trällernden Nachbar schrieb: »Mein Herr, sagen Sie doch gefälligst Ihrem Bedienten, dass er sein häufiges und störendes Singen einstellen möchte!«


In einer Provinzialstadt stirbt kürzlich der Direktor des Theaters. Die Garderobiere, aus Trauer, betrinkt sich. Sie will eine Treppe hinuntersteigen und bricht den Hals. Während der eine Tote im Hintergebäude der Bühne ruht, der andere Leichnam im Blute schwimmend gefunden wird, spielt die Truppe unter Gelächter des Publikums die Posse: »Wenn Leute kein Geld haben.« Kann es ein schauerlicheres Bild der Tragikomödie des Bühnenlebens geben?


Man braucht nur Schillers Jugendstücke und Iffland zu lesen, um zu erkennen, wie doch unsere alten Schauspieler bessere waren. Eine neue Welt bekämpfte damals die alte. Sie wollte den Sieg erringen mit den Waffen der Poesie. Auch die Schauspieler durften da Herolde, Dolmetscher, Mitkämpfer des Heereszuges sein. Wie dreist und offen sind die Bezeichnungen Tyrann, Buhlerin, Schurke u. s. w., die in jenen Stücken vorkommen! Jetzt geht alles auf der Bühne der wirklichen Welt aus dem Wege. Die Schauspieler, denen jedes scharfe Wort umschrieben, gemildert wird, sind meist Maschinen, schöne Puppen, keine Menschen mehr.


Wir möchten angesichts unserer wie Sand am Meer zunehmenden Liederkompositionsfülle wünschen, eine so praktische, kenntnisreiche und zugleich dichterisch gestimmte Befähigung, wie die unglückliche Johanna Kinkel war, hätte ein solches Büchlein über Salongesang und neue Liedermoden geschrieben, wie sie ein derartiges über Klavierunterricht herausgegeben hat. Veranlassung, Ungeschmack und Oberflächlichkeit, verhimmeltes, süßliches Wesen, ein ewiges Tränenloben und nicht endendes Stern- und Blumenschmachten zu geißeln, hätte sie da genug gefunden.


Nach dem Begriff des Schönen frage man Andere, nur nicht die, die selbst schaffen. Jeder Künstler arbeitet nach einem andern System der Ästhetik.


Im Roman sieht die Masse auf Verknüpfung des Zufälligen, der Gebildete auf Entwicklung des Notwendigen. Durch eine und dieselbe Tatsache beiden Forderungen zugleich genügen, macht den kunstvollen Dichter.


Sage mir, wer dich liest, dann sag' ich dir, was du bist.


Wenn Boileau lehrte: »Nichts ist schön, was nicht wahr ist,« so möchte man fragen: konnte aber etwas wahrer sein als der Buckel des Aesop und die Hässlichkeit des Thersites? Und dennoch hat Boileau recht und die Macbethhexen mit ihrem »Schön ist hässlich, hässlich schön!« haben nicht minder recht. Denn unter Umständen ist der Buckel des Aesop eine Schönheit. Er rührt uns im Vergleich mit Aesops Weisheit. Thersites wird der Schönheit dessen gegenüber, den er schmält, ebenfalls zu einer behaglich genießbaren Folie des Achilles, wie Caliban eine Folie Mirandas und Ariels ist. Im Nachgefühl des kurz zuvor aufgenommenen Schönen kann man auf dem Hässlichen mit vollem Behagen verweilen. Des Dichters Kunst ist eben die, das Hässliche zur Verstärkung der Kraft des Schönen richtig anzuwenden.


Lieber Autor, ich soll dir etwas wünschen – ! Ich wünsche dir nicht Geld, nicht Ruhm, nicht Ehre, nicht Feinde (obschon auch diese etwas wert sind), ich wünsche dir zwei Dinge, die zum Handwerk gehören. Einmal – kein allzu mächtig wallendes Herz! Der Leser ist nie so ergriffen wie der Autor. Geht mit dem Autor die Empfindung durch, so bleibt der Leser meist auf halbem Wege zurück und sieht nur kalt, unergriffen, lächelnd der mit dir durchgegangenen Leidenschaft nach. Dann wünsch' ich dir zum zweiten einen wahren Himmelssegen des Schriftstellers: keine Furcht vor Missverständnis. Wer oft unverstanden geblieben ist, wer lieblos gedeutet und entstellt wurde, der greift in die große Vorratskammer der Sprache tiefer, als seiner Originalität gut ist. Die Flickwörter »ja,« »wohl,« »freilich,« »nämlich« lösen den klarsten Denkprozess und festesten Periodenbau in eitel Unentschiedenheit auf.


Jemand hat der Poesie des Tages vorgeworfen, dass sie bei weitem hinter den gegenwärtigen großen Leistungen der bildenden Kunst zurückgeblieben wäre; wo wären, fragt er, in unsrer gleichzeitigen deutschen Poesie nur allein die Parallelen zu Rauch, Cornelius, Overbeck, Veit, Lessing, Kaulbach. Rietschel u.s.w.? Wir erwidern, dass es richtig sein mag, das klassische Zeitalter der deutschen Kunst für später gekommen anzunehmen, als unsere klassische Literatur kam. Aber man vergesse Eines nicht! Wenn die deutsche Literatur zur Herstellung ihrer Schöpfungen noch eine andere technische Fertigkeit, die man sich handwerksmäßig erwirbt, in Mittätigkeit versehen könnte, eine andere als die, nur mit der Feder auf weißes Papier zu schreiben, so würde sie in dem Falle, dass schon allein diese Fertigkeit dem nächsten so außerordentlich bestechenden Effekt der Maler und Bildhauer gleichkäme, hinter den genannten Erscheinungen nicht zurückbleiben, ja sie vielleicht übertreffen.


Dichter und Künstler, kümmert euch doch nicht um die Weisheit der Ästhetik! Gleicht der Spinne! Diese klettert bereits an den Fäden hinauf, die sie sich eben erst aus ihrem Körper spinnt. Indem sie spinnt, macht sie sich selbst ihre Leiter, um weiter zu klimmen, und die Wanderspinne baut sich sogar ihren eignen Wolkenwagen, indem sie schon drauf fährt.


Dreihundert Soldaten, las ich kürzlich, für den König von Preußen weniger und die Mittel wären da, eine Akademie für Dichter und große Stylisten zu begründen. Auf den Gedanken einer Akademie sollte man in unserm Jahrhundert nur noch kommen, um in anständiger Form den Genius vor Mangel zu beschützen.


Für sein erstes Werk ist der Schaffende selten ehrgeizig, erst für sein zweites.


Künstler nenn' ich den, der dem vom Nachdenken Erfundenen, ja demjenigen, das schwer und mühsam den Erwägungen über das hier Bessere, dort Notwendigere oder Nützlichere abgerungen wurde, den leichten Schein des Natürlichen und sich wie von selbst Verstehenden zu geben weiß.


Es ist traurig, für wieviel gelehrten Hochmut und Dünkel der Name Goethes als Beschönigung dienen muss.


Wenn ihr Musiker der Zukunft doch nicht glauben wolltet, dass es die Musik veredelte, wenn sie sich dem Wort gleichsam als Seele und Blüte desselben entschwingt oder sich als bunter Schmetterling nach kurzem freien Flatterfluge immer wieder auf dem Worte niederlässt! Nur in der weitesten Entfernung vom Wort liegt das Reich der Töne. Was der Ton sagt, muss ein in Worten Unaussprechliches sein. Findet doch euern Ruhm in solchen absoluten Tonfreudigkeitsausbrüchen, denen selbst ein Shakespeare, ein Goethe nur ohnmächtig nachzustammeln vermöchten!


Die Anlage der Deutschen zur Dichtkunst beruht auf keinem Übermaß von Phantasie, sondern nur auf der uns eigenen Vermählung des Gedankens mit dem Gemüt.


Wenn im Drama Leidenschaft, Irrtum und dunkles Geschick die schreiendsten Dissonanzen zu einem Chaos gehäuft haben, so bildet allein der Tod den versöhnenden Schlussakkord. Bestreitet der Witz und die Weichlichkeit unsrer Zeit diese Lehre, so ist sie doch die in uns tief begründete. Kein Gedicht, das tragische Konflikte ohne den Tod oder durch etwas, was dem Tode gleichkommt, löste, wird sich erhalten.


Man hat Goethe vorgeworfen, dass er sich in seinen alten Tagen mit Mittelmäßigkeiten umgab. Aber man kann in der Tat keinem bedeutenden Menschen verdenken, wenn er zuletzt in dem Werben um die Zustimmung der ihm Gleichstehenden müde wird und sich die Huldigung derer genügen lässt, die ihm vollständig neidlos und gern das zugestehen, was er sich in Ehren erworben hat.


Niemand braucht mehr gelehrte Ausdrücke als der Halbwisser. Während sich der Forscher in der Fülle seiner Kenntnisse behaglich ergeht und oft mit seinem Stoff, ihn gründlich handhabend, zu spielen scheint, hält sich der Dilettant mit Wohlgefallen an das Wenige, das er weiß, und kann es nicht hoch genug hinaufschrauben und dunkel genug dem Laien verhüllen. Daher kommt es, dass eine wahrhaft populäre und allgemein fassliche Darstellung seiner Wissenschaft immer auch nur dem Meister gelingt.


Man beurteilt den wahren Wert eines Schriftstellers nicht nach den gerade von ihm vorliegenden Leistungen! Selten geben die meisten Autoren das, was sie wollten, seltener noch das, was sie können: sie geben in der Regel nur das, was sie um dieses oder jenes Zweckes willen geben müssen. Nichts ist z. B. zwingender und für den Autor beeinträchtigender als ein einmal gewählter Stoff.


Um in Deutschland mit einem guten Werk durchzudringen, muss man hintennach ein misslungenes schreiben. Dann erst wird das vorangegangene erkannt.


Ganz gewürdigt könnte ein großer Geist im Grunde doch nur immer durch sich selbst werden.


Geweckt wird der Genius durch die Not, aber nur das Behagen erhält ihn.


Der Genius soll auch persönlich in seinem ganzen Wesen und Benehmen für die Welt die Feiertagsstimmung des Lebens ausdrücken.


Von den vielen Formen eines halben Wahnsinns ist der Dichterwahn schon der allerpeinlichste.


Gespräche sollen in der Erzählung nur zur Belebung und Darstellung der Handlung dienen. Dienen sie auch noch zur Charakteristik der Personen, so werden sie langweilig.


Am Kunstwerk stört jede noch so schöne Ausschmückung, die nicht folgerichtig aus dem Gliederbau des Ganzen hervorging.


Das Reiferwerden des Schriftstellers mit den Jahren liegt nicht immer in der Entfaltung neuer Fähigkeiten, sondern in seiner zunehmenden Selbstkritik, besonders aber in der Ausbildung eines feinen Vorahnungsgefühls für Missdeutungen, denen er mit größerer Besonnenheit vorzubauen lernt.


Diese Reckenpoeten – ! Sie pflanzen Eichbäume in irdene Scherben.


Kann man der Menge nur überhaupt beikommen und sie zum Lesen, zum Anschauen zwingen, so ist sie vom Mäßigen schon über Erwarten entzückt.


Wer uns als »Realist« unter die Blaufärber und Lohgerber einführt und sich etwas darauf zu Gute thut, sie in ihrem ganzen Thun und Handeln, in ihrer Hantierung am Farbentopf und in der Lohgrube zu schildern, der darf an ihnen nichts idealisieren, weder Inneres noch Äußeres.


»Was beweist das –?« soll der Mathematiker Condorcet gefragt haben, als er Racines »Phädra« sah. So nüchtern diese Frage auch klingt, die Ästhetik kann ihr eine gewisse Berechtigung nicht absprechen.


Roman nennt man die Entwicklung von Menschenschicksalen durch Bedingungen universeller Natur. Solche Bedingungen sind die Geschichte, die Sitten eines Landes, die Sitten einer Zeit, die Stimmungen einer Zeit, die Voraussetzungen der Religion, der Philosophie, der Kunst oder eines ganzen Standes, einer Familie. Die Novelle ist die Entwicklung von Menschenschicksalen durch Bedingungen partikulärer Natur. Hier steht der Geschichte die Chronik gegenüber, den Sitten des Landes die Sitten eines Orts, den Sitten einer Zeit einzelne Moden, den Stimmungen einer Zeit eine akute Krankheit derselben, den Voraussetzungen der allgemeinen Wissenschaft irgendetwas Besonderes an ihnen, z. B. aus dem Gelehrten- oder Künstlerleben. Die Novelle beruht, was das Schicksal und die Führung unseres Erdenlebens anlangt, auf dem Zufall. Die Laune des Zufalls ist ihre wesentliche Triebfeder und, mechanisch gesprochen, ihre Unruhe. Es kann nur Kunstromane geben, es gibt Künstlernovellen. Es gibt Sittenromane, aber es gibt nur Dorfnovellen. Die einfache »Erzählung,« um auch diese dritte Gattung zu erwähnen, ist die Entwicklung von Menschenschicksalen durch die Bedingungen ihrer selbst. Sie schließt die Nebenbedingung, irgendetwas Universelles oder noch etwas Partikuläres besonders zur Anschauung zu bringen, aus. Sie beruht auf ihren eigenen Voraussetzungen und nähert sich deshalb am meisten dem Drama. Aus Romanen und Novellen ein Drama zu schaffen, ist gefährlich und beinahe unmöglich. Die Erzählung aber ist schon an und für sich selbst ein objektiv berichtetes Drama. Der Roman und die Novelle stehen höher als die Erzählung, denn sie lassen keine andere als eine künstlerische Leistung zu, während die Erzählung nur die Merkmale der Glaubwürdigkeit und Folgerichtigkeit an sich zu tragen hat. Vorzugsweise die schwierigste Form ist die Novelle. Da in ihr der Zufall nicht blind walten darf, sondern nur das als Zufall den beteiligten handelnden Personen zu erscheinen hat, was im höheren Sinne doch Verhängnis ist, so kann ihre Aufgabe nur durch Humor gelöst werden, diese höchste Gabe des dichterischen Schaffens, die selbst bedeutenden Dichtern nur spärlich verliehen war.

Wer Novellen schreiben will, muss zuvörderst die Anschauung irgend einer anekdotisch auffallenden Widersinnigkeit haben, einer erschütternden Zufallsbegegnung im ernsten Genre, einer anmutig-komischen im heitern. Um dies Faktum herum ist dann der Faden der Entwicklung anzulegen und das im Zusammenhang Sinnige aus dem vereinzelt Widersinnigen einschmeichelnd und überzeugend darzustellen. Ohne Zweifel hat Tieck seine Novellen so gearbeitet.


Gerade deshalb, weil es mit dem Verse in unserer gebildeten Zeit eine nicht allzu schwere Sache ist, hat man darauf zu achten, dass nicht der Dichter Berechtigung hat, vor dem Publikum zu erscheinen, sondern das Gedicht. Letzteres ist die feste, sicher umgrenzte Gestaltung einer Tatsache, die nur das ist, was sie sein will, und weder einer Einleitung noch eines Anfangs bedarf, weder einen Übergang bildet zu Nachfolgendem, noch auch selbst das Nachklingen eines Vorangegangenen ist. Dies scharfe und allein wahrhaft objektive Resultate verbürgende Hervortreten einzelner Gedichte, die gleichsam nur die gesammelten Errungenschaften glücklicher und darum seltener Stunden der Weihe sind, vermissen wir bei Dichtern, wo man die Vorstellung nicht unterdrücken kann, dass ihre Arbeiten Ergebnisse eines mit der Hand auf dem Papier festgehaltenen Dichterseinwollens sind.


Unsere Epoche steht auf dem Standpunkt der Reflexion. Die Reflexion ist an sich unpoetisch. Doch kann sie poetisch werden, wenn sie sich in ihre Bestandtheile auflöst und ihr Gegenüber, ihre Vorder- und Nachsätze, ihre Ursachen und Wirkungen zur Erscheinung bringt. Die »Poesie des Gedankens« ist die individuelle Genesis des Gedankens, der im Gemüt noch einmal vollzogene oder geprüfte dialektische Prozess. Daher die moderne Schilderung der Seelenzustände, die Analyse der Gegensätze des Lebens, die Widerspiegelung der Literatur in der Literatur, des Gedankens im Denker selbst, der Phantasmen im Dichter, der Überzeugungen im Märtyrer. Keine Zeit war so berechtigt, wie die unsrige, die Geschichte des Genius poetisch zu erfassen und die Literatur selbst zum Gegenstand der Literatur zu machen.


Den Roman des »Nebeneinander,« den ich aufgestellt habe, wird man verstehen, wenn man sich aus einem Bilderbuch die Durchschnittszeichnungen eines Bergwerks, eines Kriegsschiffs, einer Fabrik vergegenwärtigt. Wie da das neben einander existierende Leben von hundert Kammern und Kämmerchen, wo eine von der andern keine Kenntnis hat, doch zu einer überschauten Einheit sichtbar wird, so wird der Roman des »Nebeneinander« den Einblick gewähren von hundert sich kaum berührenden und doch von einem einzigen großen Pulsschlag des Lebens ergriffenen Existenzen. Eine Betrachtungsweise, wo ein Dasein unbewusst die Schale oder der Kern des andern wird, jede Freude von einem Schmerz benachbart ist, von einem Schmerz, der über das, was jene himmelhoch erhebt, seinerseits tief zu Boden gedrückt sein kann und wo andererseits eine Unbill auch schon wieder unbewusst den Rächer auf den Fersen hat, wird den Roman noch mehr als früher zum Spiegel des Lebens machen. Dem »sozialen Roman« ist das Leben ein Concert, wo der Autor alle Stimmen und Instrumente zu gleicher Zeit, sie in- und nebeneinander vereinend, spielt oder leitet. Wiedergeben lässt es sich mit der Feder nur in der Form des Nacheinander, aber auf die Anschauung kommt es an. Ist diese so viel als möglich nach allen Lebensäußerungen zugleich gerichtet und könnte man hoffen, dass diese von einem großen Hintergrund ausgehende Romanform in manche Dissonanz Wohlklang, in manche Verzweiflung Trost, in manches unbefriedigte und unlösliche Einzelne einen beruhigend lösenden Widerklang aus Sphären bringt, die mit dem nächst Geschilderten in einen sichtlichen Zusammenhang zu bringen unnatürlich erscheinen müsste, so wäre man vorläufig wenigstens da wieder angekommen, wo die Poesie überhaupt stehen soll, dass der Dichter Seher ist, die Poesie Religion.


Idealismus – Realismus – ! Man hat gegenwärtig eine sich realistisch ausdehnende Literatur, d, h. man hat die Ideen, Abstraktionen, die Träume von Glauben, Wissen, Denken, Fühlen u. s. w. aufgegeben und daguerreotypiert die Wirklichkeit. Manche tun dies ganz roh. Diesen bricht wohl jedes Forum, auch das realistische, den Stab. Irgend einen Zweck, eine Idee, eine Zuspitzung muß auch die Beobachtung und Schilderung des Getreidesäens oder der Schafzucht oder der doppelten Buchhaltung haben. Aber darüber könnten zuletzt Alle einverstanden sein, dass der ganze Streit insofern ein müßiger ist, als wahrlich vernünftigerweise keine noch so neue Theorie etwas Anderes wollen kann und wird, als einen Idealismus, der sich real, d. h. auf Voraussetzungen der Natürlichkeit und Wirklichkeit, zu offenbaren und auszusprechen hat, und einen Realismus, der seine Anschauung des Lebens und der bunten Erscheinungswelt zum Kunstwerk zu konzentrieren sucht.


Vom dichterischen Standpunkt aus können Idealismus und Realismus verschiedene Wirkungen hervorbringen, doch in ihrem Wert vor dem Musenhof sind sich beide in dem Falle gleich, dass entweder zur Seele die rechten Glieder oder zu den Gliedern die rechte Seele kam.


Verwerflich ist die Zwittergattung, die ein Stück vom Idealismus und ein Stück vom Realismus ist. Idealisieren darf der Künstler, aber er darf es nur in so weit, als dadurch dem Realen kein Abbruch geschieht in dem, was für seine Wesenheit notwendig ist.


Einem idealistischen Dichter lässt man es hingehen, wenn er schreibt: »Die Saaten blühten, die Lerche stieg wirbelnd auf, Lust und Freude wehten über Feld und Flur!« Es ist einfach empfunden, wenn auch nur so obenhin gesagt. Ist nur sein übriges Herz und was er schildert in Ordnung, so ist es wunderlich, wenn der Realist, der zufällig auf dem Lande geboren wurde, kommen wollte und ihn fragen: »Kannst du aber auch Gerste von Hafer unterscheiden? Weißt du, wie die Lerchen des Morgens und wie sie des Abends singen?« Da müsste ihm jeder sogleich erwidern: »Wie aber dreht der Töpfer die Drehscheibe? Wie viel Prozent Sauerteig nimmt der Bäcker in die verschiedenen Brotsorten?«


»Publikum,« wie altfränkisch erscheinst du noch unserm Geschlecht! Publikum, das ist so ein alter Vetter in schokoladefarbenem Leibrock, mit langen Schößen, einem gebrannten Jabot über der langen, bis über den Nabel gehenden Weste, hirschledernen Handschuhen, appetitlicher Wäsche und etwas steifen und pedantischen Manieren. Publikum, du abgesetzte Größe aus dem altfränkischen Zeitalter, geh in die Rumpelkammer und setz dich neben einen ausgestopften General aus dem Siebenjährigen Kriege oder ein altes Kostümbild aus den Zeiten Maria Theresiens! Die Kunst, Literatur, Wissenschaft existiert jetzt nur noch für das »Volk.« Das »Volk,« eine große imposante Amazone mit der Mauerkrone auf dem Haupt, hat das kleine Männchen »Publikum« verbannt, ihm höchstens eine der Falten ihrer bauschigen Gewänder zum Schutz angewiesen, wo es mit der Brille Bücher in Ganzfranzbänden studieren und dann und wann zur Herzstärkung eine Prise nehmen kann.


»Volksliteratur« kann zweierlei bedeuten: Büchlein, kommst du vom Volke? Oder: Büchlein, gehst du zum Volke– ?

Kommst du vom Volke, so bringst du uns wohl die genauste Kunde mit, wie es unter dem Dach der Armut, hinterm Pfluge und auf dem Heuboden, am Werkstatttisch, in der Dachkammer, da wo die Gesellen und die Lehrlinge, nicht weit ab von der Regentraufe, schlafen, aussieht. Diese Bücher haben wir gewiss Alle gern, wenn sie Wahrheit bringen, dem Leben abgelauscht sind, ein gutes, sanftes und höchstens einmal zur Förderung des Guten ein wenig zorniges Herz verraten. Diese von unten kommenden Bücher und Lebensbilder sind uns so willkommen, dass wir sie gerade noch immer höher und höher in der Gunst steigen sehen möchten. Auf seidenen Polstern, auf samtenen Divans, unter leuchtenden Kerzen hat man schon die vornehmsten Damen über deine Gedanken hinterm Pfluge, ehrlicher Bauer, deine Gedanken auf dem Heuboden, brummiger Knecht, deine Gedanken hinter der Drechselbank, lustiger Gesell, und deine – falls du nicht schnarchst – Gedanken unter der Dachkammer bei der Regentraufe, drolliger Lehrjunge, lachen, weinen gesehen und euer Elend, euer Glück, eure Poesie und eure Prosa las sich gedruckt allerliebst in den zarten, weißen, durchsichtigen Fingerchen mit den blitzenden Diamantringen und den langen, gepflegten, chinesischen Nägeln. Ja sogar höchst verdorbene ästhetische Mägen, Mägen, die an einem ewigen kritischen Sodbrennen litten, haben sich durch die einfache, ländliche oder kleinstädtische Kost dieser Lektüre wieder erholt und all die Unverdaulichkeit überwunden, die bei ihnen die Trüffelpasteten- und Mixed-Pickles-Literatur des Salons zurück gelassen.

Nun aber die Bücher, die zum Volke zurück gehen sollen!

Darf ich da ein Geheimnis verraten? Es besteht einfach darin, dass sich die Menschen, die wir »Volk« nennen, eigentlich doch weit mehr geehrt sehen, wenn man sie wieder in Blutsverwandtschaft mit dem alten Vetter Publikum bringt. Der Trieb, sich zu bilden, ist so allgemein noch nicht. Die Volksliteratur sollte da erst anfangen, wo die brütende Nacht der allgemeinen geistigen Blindheit aufhört, da, wo ein Arbeiter, ein Handwerker, ein Ackersmann, Jäger, Schiffer – wer nennt die Millionen Wege, die uns durchs Leben führen müssen – die Augen aufschlägt und emporsehen will, um auch an den Sternen sein Hoffen zu befestigen, auch die treibende Macht des Denkens für sich zu erproben. Für diesen Trieb zu schreiben, sollte dem Autor Freude machen.

Und wie sollst du dann schreiben?

Erinnere dich einer Abendeinkehr im »Goldnen Einhorn« oder im »Silbernen Mond« eines kleinen Städtchens auf der Reise. Da sitzen in der Wirtsstube Menschen meilenweit entfernt von der großen Heerstraße der Ereignisse. Sie lesen, was die große Welt schon vergessen hat, sie zanken sich über die einzige Zeitung, die sie halten können, sie diskutieren über Krieg und Frieden, die Heuernte und die Kartoffelkrankheit, über den Kometen, über ein Eisenbahnunglück, vielleicht gar noch über das von Versailles. Ein gebrummtes Danke! begrüßt dich beim Eintritt für deinen »Guten Abend.« Nun denke dir, du wolltest dich in diesem Städtlein wählen lassen zu einer Ersten oder Zweiten unserer königlichen oder großherzoglichen Ständekammern, wie würdest du wohl den Mund auftun und deine Weisheit nicht unter dem Scheffel lassen? Glücklicher Autor, es handelt sich jetzt nicht um Wählen und Gewähltwerden, Steuernbewilligen und Steuernverweigern, es handelt sich nur darum, dass du reden und schreiben sollst, um in einem solchen Kreise überhaupt verstanden zu werden.


Ist es nicht eine traurige Tatsache, daß in keiner Kunst so viel Rivalität stattfindet wie in der Musik? Kann man nicht die beste Oper zu Grunde richten, wenn man schon bei den Proben nicht freundlich und entgegenkommend ihre Schwierigkeiten erklimmt, ihre Mängel und Sonderbarkeiten mit einem Lächeln vor den Orchestermitgliedern und den Sängern als eine »Konzession an den Genius« behandeln und ausführen lässt und bei der Vorstellung Abends sich selbst schlaff und ungläubig zeigt? Es gibt ein gewisses: »Ich werde mit der unbefangensten Hingebung diesen Gegenstand befördern!« das den Gegenstand, statt zu befördern im Keime erstickt. Wenn sich in Deutschland so wenig Talent für einheimische Oper entwickelt, liegt es an Diesem und Jenem, am meisten an unsern Kapellmeistern.


Den »Don Quixote« des Cervantes liest man wohl jetzt noch in seinen ersten Kapiteln mit steigendem Interesse, in der Mitte schon etwas langsamer, ganz bis zu Ende wohl noch schwerlich. Es mag daher Vielen dasjenige neu sein, was man im »Don Quixote« schon über Literatur und Buchhandel zur Zeit des Cervantes zu lesen bekommen kann, während es klingt, als hätte es ein Autor unserer Tage geschrieben. Im 62. Kapitel besucht Don Quixote eine Buchdruckerei, nähert sich einem Setzerkasten und lässt sich in ein Gespräch mit anwesenden Schriftstellern, Übersetzern und Buchhändlern ein. »Ich bitte Euch,« sagt er zu einem Schriftsteller, »wird das Buch da auf Eure Kosten gedruckt oder habt Ihr vielleicht das Verlagsrecht an einen Buchhändler verkauft?« – »Der Druck geschieht auf meine Rechnung,« erwiderte der Befragte, »und ich denke, an dieser ersten Auflage wenigstens 1000 Dukaten zu gewinnen. Sie wird 2000 Exemplare stark, welche, zu sechs Realen das Exemplar, im Nu vergriffen sein werden.« – »Euer Gnaden scheint mir die Rechnung ohne den Wirt gemacht zu haben,« entgegnete Don Quixote! »man sieht wohl, dass Ihr mit den Berechnungen der Buchhändler und mit ihrem Verkehr unter einander nicht sehr bekannt seid. Ich sage Euch zum Voraus, wenn sie sehen, dass Ihr 2000 Exemplare von einem Buch auf dem Halse habt, so werden sie Euch so drücken und die Exemplare so wohlfeil verlangen, dass Euch angst und bang wird, zumal wenn das Werk wenig Salz hat und nicht viel wert ist.« – »Wie,« versetzte der Autor, »Ihr wollt, dass ich es an einen Buchhändler verhandle, der mir drei Pfennige für den Bogen gibt und erst noch glaubt mir damit eine große Gnade erzeigt zu haben? Nein! Ich lasse meine Bücher nicht drucken, um mir einen Namen zu machen; denn ich bin, Gott sei Dank, durch meine früheren Werke berühmt genug. Geld ist es, was ich jetzt suche, denn ohne dieses ist der Ruhm keinen Heller wert.«


Es gibt eine Geckerei des Geistes, die sich mit dem lächerlichen Effekthaschen vergleichen läßt, das klein gewachsenen Leuten von reizbarer Eitelkeit eigen ist. Wie diese stundenlang vorm Spiegel stehen können, ihr Halstuch ordnen, ihre Füßchen vorstrecken und bei jeder Erinnerung an ihre Figur, die gegen Wuchs und Erscheinen Anderer im Rückstand geblieben ist, in einen kollerartigen Zorn geraten, so ist es auch einem an Wuchs zu kurz gekommenen, sonst vielleicht lebhaften Geist eigen, sich in selbstgefälliger Phrase zu ergehen, sich von keines Andern Art imponieren zu lassen und an die eigentümlichsten Erscheinungen mit der Miene heranzutreten, als stünde er mit ihnen auf einer und derselben Linie. Hilfsmittel, um einen von Hause aus nur kleinen Geist in die Höhe zu recken, gibt es ja genug. Man macht sich zum Verteidiger positiver, machtbegabter Dinge, die vor jeder Neuerung einen Vorsprung voraushaben, man schließt sich bald an eine imposante Majorität, bald an eine vornehmtuende Minorität an. Vor allem aber unterstützt man sein Raisonnement durch die oft leider nicht wegzuleugnende Tatsache, dass das, was der originelle Kopf versuchte, erfolglos war.


Schönheit der Prosa beruht so gut auf rhythmischen Gesetzen, wie die Schönheit des Versbaues. Können wir über eine prosaische Rede, um die Länge und Kürze der darin gebrauchten Worte zu bezeichnen, häufige Jambenzeichen (u –), Tribrachyszeichen (u u u), Päonquartuszeichen (u u u –) und wohl gar das Zeichen des Proceleusmaticus (u u u u) setzen, so fehlt jede schöne Kontinuität, die Sätze zerbröckeln in ein loses Geröll und von angenehmer Klangwirkung ist nicht die Rede. Die Schönheit der Prosa beruht auf einer durchgehend anapästischen Bewegung, zwei Kürzen als Auftakt, dann eine Länge (u u –), zwischendurch wenig Jamben und viel Choriamben (– u u –). Man vergleiche nur den Rhythmus der Prosa, die man schreibt, mit dem Rhythmus derjenigen, die man diktiert. In letzterer zeigt sich, dass wir, wenn wir sprechen, von selbst dem Genius der Sprache huldigen, der für ein wohllautendes Abwechseln zwischen langen und kurzen Silben einen uns ganz unbewussten Trieb hat.


Zu denjenigen Gemeinplätzen, die man täglich wiederholen hört, muss man gewisse Unterscheidungen zwischen Genie und Talent rechnen, Unterscheidungen, die von den Einflüssen des Dilettantismus herrühren, der leider zu allen Zeiten, während die berufenen Geister schufen, die Theorie ihres Schaffens bestimmen wollte. Der Dilettantismus ist entweder unendlich anmaßend oder unendlich zerflossen. Anmaßender Dilettantismus hat die Lehre vom Genie aufgebracht, dem leider das Talent fehlen sollte, gewöhnlich also – er selbst. Zerfließender Dilettantismus will in Allem, was das Talent hervorbringt, den Funken des Genies vermissen. Das Wahre an dem ganzen Gegensatz zwischen Genie und Talent ist, dass es nie ein Genie ohne Talent und nie ein Talent, das den Namen verdient, ohne Genie gegeben hat. Die eigentlichen Werthbestimmungen des geistigen Vermögens und artistischen Schaffens liegen nur im Grade, nur in der Weihe, nur in der erreichten Vollendung dessen, was man geben will, aber nicht in einer von jenseits hergeholten Urverschiedenheit zwischen Genie und Talent. Das Genie ist das schöpferische Talent in seiner höchsten Potenz. Die Bezeichnungen geringer Potenzen des Talentes mit dem Namen Genie, wo dem Schwunge nur die rechte Anlage und Ausbildung fehlen solle, ist eine Erfindung eben jener Dilettanten, die das wahre Können und Vermögen in allerhand Rubriken und Etagen deshalb verteilen müssen, um dabei immer auch noch für sich selbst ein Plätzchen zu gewinnen. Shakespeare war ohne Zweifel Talent und Genie zu gleicher Zeit, doch würde man seit hundert Jahren weit besser getan haben, mehr sein Talent hervorzuheben als sein Genie. Die absolute Talentlosigkeit würde dann einer zufällig nicht mit Talent begabten Geniehaftigkeit, die aber eben auch keine ist, nicht so viel Feld eingeräumt haben in unserer Literaturgeschichte und unserer noch täglich grassierenden Dilettantenkritik. Was war denn Kotzebue? Unsere überschwängliche Phrasenmacherei sagt: Ein großes Talent! Aber gerade im Gegenteil! Kotzebue war, im Sprachgebrauch dieser Talent- und Genieunterscheidungen, ein Genie, jedoch im edlen und rechten Sinne des Wortes nur ein mäßiges Talent. In unsern kritischen Aburteilungen hat man zu sehr die natürlichen Unterscheidungen von Genie und Talent unter einander geworfen, wie noch viele Beispiele beweisen würden. Will man Genie vorzugsweise einen prädestinierten, gleichsam von der Natur bestimmten Epochemacher, also einen wohltätigen Genius im Leben der Menschen nennen, dann wäre gegen diesen Ausdruck nichts einzuwenden. Nur muss man dann auch zugleich hinzufügen, dass es doch immer erst die Zeit gewesen ist, die allmählich irgend ein in seinen Schöpfungen eminentes Talent zum epochemachenden Genius erhoben hat und dass es große Talente gab, die nur durch Umstände, deren Erörterung hier zu weit führen würde, nicht in die Lage kamen, der Durchgangspunkt geschichtlicher Zufälligkeiten zu werden und sie zu Trägern einer Epoche zu machen, d. h. zu sogenannten »bahnbrechenden Genies.« Oft kommen im gewöhnlichen Leben und in der Kritik Fälle vor, wo man glauben möchte, man sähe das Genie nur da, wo zufällig mit dem Talent ein heißblütiges, sanguinisches Temperament verbunden ist. Ihr armen Verständigen und Besonnenen dann! Mancher hat deswegen auch schon wirklich Schiller ein Genie und Goethe nur ein Talent genannt.


Es lebe, so sprach ich vor längeren Jahren in einem gesellschaftlichen Kreise am Todestage Schillers, den neunten Mai, es lebe ein Mann, den ich mit Namen nicht zu nennen weiß! Es lebe ein Unbekannter, ein rätselhaft Namenloser, von dem ich, um ihn kenntlich zu machen, nichts zu sagen vermag, als dass er einmal irgendwo aufgetaucht ist an einem bestimmten Ort, bei einem bestimmten Anlass, gehüllt in einen Mantel, den Hut tief in die Augen gedrückt, bei einer Huldigung der Liebe und des Schmerzes anwesend war und dann spurlos wieder verschwand!

Als Friedrich Schiller in die Gruft gesenkt wurde – die näheren Umstände seiner Bestattung sind Gegenstand einer ganzen Literatur geworden – da folgte dem Sarge in nächtlicher Weile nur eine geringe Anzahl von Leidtragenden, deren Namen man verzeichnet hat. Schlichte Bürger sind es gewesen, mittlere Beamte. Man hat aus Schmerz um die geringen Ehren, die man damals dem großen Toten widmete, deren Namen wie in Erz verzeichnet gleich alten Griechen oder Römern, die sich bei einer Waffentat opferten. Denn ein Opfer musste man allerdings die Begleitung zu einer Zeit nennen, wo in Weimar eine ansteckende Krankheit herrschte. Von Perikles' Tod an bis in die Tage der Cholera kennt man die Wirkung der Epidemien auf die öffentliche Stimmung. Zu dem kleinen Gefolge gesellte sich, als der Zug auf den Platz bei der Stiftskirche einbog, ein Unbekannter, folgte dem Sarge tiefverhüllt und verschwand nach Vollzug der feierlichen Beisetzung. Sonst schloss sich Niemand an. Alles schlief, als die Fackel dem Zuge voranleuchtete. Kein Sängerchor, keine Marschallstäbe gingen dem Trauerzuge voran, kein Zudrang des Volks beschloss ihn; zwanzig Männer, deren Namen man kennt, und – ein einziger Unbekannter!

Oft schon schlug deutschen Herzen in Ahnungswonne die Brust bei dem Gedanken: das war Goethe! Die Dichter des kurzen Augusteischen Zeitalters unserer Literatur haben uns selbst das Recht gegeben, mit einer noch höheren Hoffnung die Ahnung zu wagen: das war Karl August! Bande des Bluts, vermutet man jetzt, waren es, die den unbekannten Leidträger an den dahin gegangenen Unsterblichen fesselten, und man nannte den Offizier Karl von Wolzogen ....

Lasst uns sagen: Es war der Genius des deutschen Volks, der in irdischer Gestalt dem Liebling der Nation die letzte Ehre erwies für uns Alle! Es lebe der verhüllte Träger einer Jahrhundertpflicht – der stumme Vollstrecker einer Volkshuldigung – der Vertreter des Geniekultus – der geheime »Wissende« einer andern Vehme, der Vehme für die Unterlassungssünden, die sich die Menschheit für ihre Priester und Propheten nur zu oft zuschulden kommen lässt, der Unbekannte von Weimars Stiftskirche!


Nur diejenigen Standbilder rühren und erheben uns, an deren Sockel wir die Inschrift zu lesen glauben: Geweiht dem unermüdlichen Geiste, der immer neu schaffend, nimmer beim Geleisteten lange verweilend, in den Tagen, da er lebte, nicht die Muße und das Glück hat finden können, im Bereich seiner Schöpfungen auszuruhen und zu vernehmen, wie geliebt sie sind und wie bewundert!

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