Jean Paul

Aphoristisches

1921

 


 

Über den Menschen

1. Die poetischen Tugend-Virtuosinnen

Jeder hüte sich vor poetischen Tugend-Virtuosinnen, nämlich er heirate keine davon! Diese moralischen Statistinnen, welche selten handeln, leben in der Täuschung, daß sie noch besser sind als alle benachbarten Schauspieler und Schauspielerinnen, bloß weil sie über diese mit feinem Gefühl lobend oder tadelnd richten. Es gibt nichts so Zartes, Schönes, Großes, zumal in der Vergangenheit, was sie nicht zu bewundern oder zu fordern wüßten von anderen; dieses Bewundern und Fodern aber steuert sie mit dem schönen Bewußtsein aus, daß sie die Sache selbst haben, etwa wie in Italien (nach Archenholz) einem, der eine Kostbarkeit lobt, diese nach der Sitte zum Geschenk angeboten (obwohl nicht angenommen) wird, das sich aber die Virtuosin selbst macht. Die Wärme ist schön, womit die Tugendsprecherin jede Aufopferung, sie werde ihr oder anderen gebracht, zu schätzen weiß, desto tiefer daher muß sie den Selbstsüchtling verachten, der ihr selbst eine zumutet. Sie liebt sie, anstatt den Menschen, desto inniger die Menschenliebe. Ja, die Statistin behält sogar auf ihrem Kanapee bei aller sitzenden Tugendlebensart Unparteilichkeit genug, um die geschäftigste Häuslichkeit einer Martha und jede emsige Gatten- und Kinderverpflegung zu bewundern, ja vorzuschreiben; denn sie weiß so gewiß, was sie in diesem Falle tun würde, falls sie etwas täte. So gleicht sie als Heldin in der Tugend ganz dem, was ein Held im Kriege ist, nämlich wie dieser, ordnet sie erfahren, scharf und kalt alles an, was jeder im Feuer zu tun und zu opfern hat, und schont wie ein Feldherr sich aus Pflicht zum Vorteil des Kommandierens. Auch ihr selbst werden die Rollen der edelsten Menschen nicht schwer, wenn sie ein Stückchen Papier – Druckpapier oder Briefpapier – gleichsam als die Bühne erhält, auf der sie solche spielen kann; das Papierblättchen wirft sich ihr sozusagen zum Shawlspiel an, womit allein die Lady Hamilton durch dessen Wenden und Falten die schönsten alten Göttinnen machte. Allerdings müssen Personen von solcher moralischen Höhe und Forderung die sittliche Unter- und Schattenwelt unbeschreiblich tief unter sich finden, und darum sie so schwarz abmalen, daß sie damit anderen, die es nicht schärfer nehmen, ordentlich zu verleumden scheinen; ja, ganze Städte sind sie oft schwarz zu färben genötigt, so daß es wenig ist, wenn sie mit Anspielung auf Ägypten die eine Stadt eine Krokodilstadt (in Crocodilopolis wurden bekanntlich Krokodile angebetet wie in Cynopolis Hunde), die andere eine Hundestadt nennen. –

Darum lasse ein Mann, wenn nicht seine Ehe, doch seine Verlobung mit einer solchen Virtuosin trennen, wenn er nicht das eheliche Band – anstatt zu einem Venusgürtel – lieber zu einem Stachelgürtel (Cilicium) und Ehestrang geflochten tragen will! Der gedachte ehelustige Mann rechne doch vorher genau nach, ich bitte ihn, zu wievielen Stufen des weiblichen Göttersitzes er sich zu versteigen getraue, da ihn nicht nur schwarzgefärbte Städte warnen, sondern auch der Lebenslauf und Lebensflug seiner Verlobten selbst, welche Männerherzen nur von weitem genießen und verspeisen kann, etwa wie schwarze Maulbeeren, welche man an großen Tafeln bloß mit langen Stecknadeln zum Munde bringt, um sich die Finger nicht zu schwärzen. In England sagt der Küster gewöhnlich hinter der Trauung: »Amen!« Stände ich hinter der gedachten, so würde ich sagen: »Wurde die sechste Bitte nicht erhört, so tue man die siebente!«

Gegenwärtiges las ich einst einer solchen Virtuosin vor; da aber Weiber sich in jedem anderen Spiegel leichter und schöner finden als im Schwaben- oder Sachsenspiegel oder anderem Seelenspiegel, so sagte sie freundlich: »Herrliches Wort zu seiner Zeit! Wüßten Sie, lieber Richter, wieviele Weiber dieser Art ich selber gekannt! Aber keiner davon konnte ich beibringen, daß sie ja selbst dazu gehöre.«

 

2. Menschenschwächen gegen Menschen

a. Es ist eine lebensverwirrende Gewohnheit, daß der Mensch sich das fremde Hassen viel lebhafter und öfter in das Herz hineinmalt als das fremde Lieben, daher er das eine stärker erwidert als das andere; so werden auch die Engel meistens nur klein und halb als Köpfchen mit Flügelchen vorgemalt; aber selten wird ein halber Teufel gezeichnet, der Satan tritt immer ganz auf, dazu noch ausgesteuert mit Gliederaußenwerken oder Randglossen von Horn, Huf und Schwanz. Kein Wunder, daß ein armer Teufel lebhafter gehaßt wird, als das beste Engelkind geliebt.

b. Hast du mit einem Freunde rein gebrochen, so gib – nicht nur aus Menschenliebe, auch aus heiliger Scheu vor der Freundschaftsleiche – ihm kein Zeichen, kein Blatt und, ist es möglich, keinen Augenblick Gegenwart mehr von dir, weil die Zeichen voriger Wärme als die Zeichen jetziger Kälte unnütz und hart den Schmerz des Bruches wiedergebären. Der Mann verträgt viel leichter die kalte Gegenwart einer jetzt feindlichen Geliebten als die eines jetzt feindlichen Freundes; denn eine Geliebte kann durch eine andere ersetzt werden, aber kein Freund durch einen anderen.

c. Der erste Gedanke eines Menschen, der etwas nicht findet, ist der, man habe es ihm gestohlen; und so häufig auch das bloße Verlieren und Verlegen gegen das seltene Bestehlen vorkommt, so glaubt er doch das nächste Mal wieder an einen Dieb.

 

3. Das Ich gegen das Du.

Wieviel das Ich von seinem Innersten dem Du schuldig ist, stellen vorzüglich zwei Erfahrungen dar. Der harte Eisschauder, womit uns in der Einsamkeit eine vermeintliche Geistererscheinung mit dem kalten Ringen einer Riesenschlange umflicht und erstickt, löst sich zum Teil in warmes Leben auf, sobald nur ein einziger Mensch, welcher doch nichts könnte als höchstens dem Sterben zusehen, neben uns steht und uns durch bloße Gegenwart mit Leben wärmt. Daher schon vor einem sogar fernen Menschenlaute der Geisterschauder so verschwindet, wie nach der Sage vor dem eigenen Worte ein gehobener Geisterschatz. – Eine zweite Erscheinung ist: Schwerlich geht ein tadelloser Mann (er müßte denn einen dreifachen Panzer anhaben) durch den Feuerregen einer ihn verachtenden, aushöhnenden Menge ohne Brandschmerzen der Ehre und Selbstachtung hindurch, wenn ihn kein Freund begleitet, welcher gleichsam sein zweites Selbstbewußtsein vorstellt. Aber an der Hand eines einzigen ihn ehrenden Menschen trotzt derselbe Mann dem Gelächter eines Volkes. So wurde dem erhabenen Sokrates das Aufstehen unter Aristophanes Wolken, welche dadurch für ihn nur als Staubwolken seines Triumphwagens aufstiegen, vielleicht durch die Nähe seiner Verehrer mehr erleichtert, als seine Kraft bedurfte.

 

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