Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen, wie er sie in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht, in allen seinen Träumen zurückgestoßen von einer rücksichtslosen Welt, die den Anfänger nicht mag und den Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich selbst ein Symbol der Welt. Eine Welt, die ihm gehörte, die er beherrschte und die mit ihm zugrunde ging. Wirkliches stürzte an ihm vorbei, und er griff nicht danach, er lebte eingeschlossen in seinem Zimmer, festgenagelt an den Schreibtisch, lebte in dem Wald seiner Gestalten, wie Elie Magus, der Sammler, zwischen seinen Bildern. Von seinem fünfundzwanzigsten Jahre an hat ihn die Wirklichkeit kaum – nur in Ausnahmen, die dann immer zu Tragödien wurden – anders interessiert als ein Material, als Brennstoff, um das Schwungrad seiner eigenen Welt zu treiben. Fast bewußt lebte er am Lebendigen vorbei, wie im ängstlichen Gefühle, daß eine Berührung dieser beiden Welten, der seinen und der der anderen, immer eine schmerzhafte werden müßte. Abends um acht Uhr ging er ermattet zu Bette, schlief vier Stunden und ließ sich um Mitternacht wecken; wenn Paris, die laute Umwelt, ihr glühendes Auge schloß, wenn Dunkel über das Rauschen der Gassen fiel, die Welt entschwand, begann die seine zu erstehen, und er baute sie auf, neben der anderen, aus ihren eigenen zerstückten Elementen, lebte durch Stunden einer fiebernden Ekstase, unablässig die ermattenden Sinne mit schwarzem Kaffee wieder aufpeitschend. So arbeitete er zehn, zwölf, manchmal auch achtzehn Stunden, bis ihn irgend etwas aufriß aus dieser Welt, zurück in die eigene Wirklichkeit. In diesen Sekunden des Erwachens muß er jenen Blick gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses Aufgeschrecktsein aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen in eine vergessene Wirklichkeit, diesen entsetzlich grandiosen, fast schreienden Blick, diese um die fröstelnde Schulter das Kleid anstraffende Hand, die Gebärde eines vom Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand roh seinen Namen zugeschrien. Bei keinem Dichter ist die Intensität des Sichverlierens in sein Werk, der Glaube an die eigenen Träume stärker gewesen, die Halluzination so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht immer wußte er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das ungeheure kreisende Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein und Wirklichkeit zu unterscheiden, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dieser und jener Welt. Ein ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er im Rausch der Arbeit an die Existenz seiner Gestalten glaubte, ein Buch mit oft drolligen und meist ein wenig grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt ins Zimmer. Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: »Denk dir, die Unglückliche hat sich ermordet!« und merkt erst an dem entsetzten Zurückprallen seines Freundes, daß die Gestalt, von der er sprach, die Eugénie Grandet, nur in seinen Sternenkreisen je gelebt. Und was diese so andauernde, so intensive, so vollständige Halluzination von dem pathologischen Wahn eines Tollhäuslers unterscheidet, ist vielleicht nur die Identität der in dem äußeren Leben und in dieser neuen Wirklichkeit bestehenden Gesetze. Aber an Dauerhaftigkeit, an Zähigkeit und Abgeschlossenheit des Wahns war diese Versenkung die eines perfekten Monomanen, seine Arbeit war nicht Fleiß mehr, sondern Fieber, Rausch, Traum und Ekstase. Ein Palliativmittel der Bezauberung war sie, ein Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger vergessen lassen sollte. Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als ein Mittel zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil er sie ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls, Liebe, Ehrsucht, Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm und Siege konnte er missen, weil er siebenfaches Surrogat in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht wie Kinder. Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit nicht unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein, gleichviel mit Erlebnis oder Traum. Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte. Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den Genüssen seiner Kreaturen. Denn er war es ja, der jetzt die zehn Louis hinwarf auf den Spieltisch, zitternd stand, während die Roulette sich drehte, der jetzt die klingende Flut der Gewinste mit heißen Fingern einstrich, er war es, der jetzt im Theater den großen Sieg erfocht, der jetzt mit Brigaden die Höhen stürmte, mit Pulverminen die Börse in ihren Grundfesten erbeben ließ; alle die Lüste seiner Kreaturen gehörten ja ihm, sie waren die Ekstasen, in denen sein äußerlich so armes Leben sich verzehrte. Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer, mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen, um sich Geld auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner Angel, deren Schmerz, Lust und Qual er nur prüfend mitansah als das mehr oder minder talentvolle Sichgebärden von Schauspielern. Und sein Herz spricht unter dem schmutzigen Kittel Gobsecs: »Glauben Sie, daß es nichts bedeutet, wenn man so in die verborgensten Falten des menschlichen Herzens eindringt, wenn man so tief darin eindringt und es in seiner Nacktheit vor sich hat?« Denn er, der Zauberer des Willens, schmolz Traum zu Leben um. Man erzählt von ihm, daß er in seiner Jugend, als er in seiner Mansarde trockenes Brot, seine ärmliche Mahlzeit, verzehrte, sich auf den Tisch mit Kreide die Randspur von Tellern gezeichnet habe und in ihre Mitte die Namen der erlesensten Lieblingsgerichte geschrieben, um so im trockenen Brot nur durch die Suggestion des Willens den Geschmack der verschwenderischesten Speisen zu spüren. Und so wie er hier den Geschmack zu schmecken meinte, wie er ihn wirklich schmeckte, so hat er sicherlich alle Reize des Lebens in den Elixieren seiner Bücher unbändig in sich getrunken, so eigene Armut betrogen mit dem Reichtum und der Verschwendung seiner Knechte. Er, der ewig von Schulden Gehetzte, von Gläubigern Gequälte, empfand sicherlich einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er hinschrieb: Hunderttausend Francs Rente. Er war es, der in den Bildern von Elie Magus wühlte, der diese beiden Gräfinnen liebte als ihr Vater Goriot, der gipfelhoch mit Seraphitus über die niegesehenen Fjorde Norwegens aufstieg, der mit Rubempré die bewundernden Blicke der Frauen genoß, er, er selbst war es, für den er aus all diesen Menschen die Lust wie Lava aufschießen ließ, denen er Glück und Schmerz aus den hellen und dunklen Kräutern der Erde braute. Kein Dichter war je mehr Mitgenießer seiner Gestalten. Gerade an jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten Reichtums schildert, spürt man stärker als in den erotischen Abenteuern den Rausch des Selbstbezauberten, die Haschischträume des Einsamen. Das ist seine innerste Leidenschaft, dieses Auf- und Abströmen von Zahlen, dieses gierige Gewinnen und Zerrinnen von Summen, dieses Schleudern von Kapitalien von Hand zu Hand, das Schwellen der Bilanzen, der Wettersturz der Werte, diese Stürze und Aufstiege ins Grenzenlose. Millionen läßt er wie Ungewitter über Bettler hereinbrechen, Kapitale wieder in weichen Händen wie Quecksilber zerrinnen, mit Wollust malt er die Paläste der Faubourgs, die Magie des Geldes. Die Worte Millionen, Milliarden, das ist immer hingestammelt mit jenem ohnmächtigen Nicht-mehr-sprechen-Können, dem Röcheln letzten sinnlichen Begehrens. Voluptuös wie die Frauen eines Serails sind die Prunkstücke der Gemächer gereiht, wie wertvolle Kronjuwelen die Insignien der Macht ausgebreitet. Bis in seine Manuskripte hat sich dieses Fieber eingebrannt. Man kann sehen, wie die anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen gleich den Adern eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher werden, wie sie rasend sich überhetzen, befleckt von den Spuren des Kaffees, mit dem er die ermatteten Nerven vorwärtspeitschte, hört fast das rastlose, ratternde Keuchen der überhitzten Maschine, den fanatischen, maniakalischen Krampf ihres Schöpfers, diese Gier des Don Juan du verbe, des Menschen, der alles besitzen will und alles haben. Und sieht den nochmaligen impetuosen Ausbruch des ewig Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren starres Gefüge er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde, um noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch den schon starren, erkalteten Körper zu jagen.

Solche titanische Arbeit bliebe unverständlich, wäre sie nicht Wollust gewesen und noch mehr: der einzige Lebenswille eines asketisch allen anderen Machtformen entsagenden Menschen, eines Leidenschaftlichen, dem die Kunst die einzige Möglichkeit der Entäußerung war. Einmal, zweimal hatte er ja flüchtig in anderem Material geträumt. Er hatte sich im praktischen Leben versucht, zum erstenmal, als er, verzweifelnd am Schaffen, die wirkliche Geldgewalt wollte, Spekulant wurde, eine Druckerei gründete und eine Zeitung; aber mit jener Ironie, die das Schicksal immer für Abtrünnige bereit hat, hat er, der in seinen Büchern alles kannte, die Coups der Börsenleute, die Raffinements der kleinen und der großen Geschäfte, die Schliche der Wucherer, der jedem Ding seinen Wert wußte, der Hunderten von Menschen in seinen Werken die Existenz errichtet, ein Vermögen mit richtigem, logischem Aufbau gewonnen hatte, er selbst, der Grandet, Popinot, Grevel, Goriot, Bridau, Nucingen, Wehrbrust und Gobsec reich gemacht hat, er selbst hat sein Kapital verloren, ist schmählich zugrunde gegangen, und nichts blieb ihm als jenes furchtbare Bleigewicht von Schulden, die er dann stöhnend auf seinen breiten Lastträgerschultern das halbe Jahrhundert seines Lebens weiterschleppte, Helote der unerhörtesten Arbeit, unter der er eines Tages mit zersprengten Adern lautlos zusammenbrach. Die Eifersucht der verlassenen Leidenschaft, der einzigen, der er sich hingegeben hatte, der Kunst, hat sich furchtbar an ihm gerächt. Selbst die Liebe, den andern ein wunderbarer Traum über ein Erlebtes und Wirkliches, wurde bei ihm erst Erlebnis aus einem Traum. Frau von Hanska, seine spätere Gattin, die étrangère, der jene berühmten Briefe galten, war von ihm leidenschaftlich schon geliebt, ehe er in ihre Augen gesehen, war damals schon geliebt von ihm, als sie noch Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d'or, wie die Delphine und die Eugénie Grandet. Für den wahrhaften Schriftsteller ist jede andere Leidenschaft als die des Schaffens, des Erträumens eine Abirrung. »L'homme des lettres doit s'abstenir des femmes, elles font perdre son temps, on doit se borner à leur écrire, cela forme le style«, sagte er zu Théophile Gautier. Im innersten liebte er auch nicht Frau von Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange mit Illusionen, spielte so lange in Bildern und Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten, selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat er dieser Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren Verbrennungsprozeß so lange beschleunigt, bis die Flamme aufschlug und nach außen brach, bis er zugrunde ging. Mit jedem neuen Buch schrumpfte, wie die magische Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so betätigten Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag seiner Monomanie wie der Spieler den Karten, der Trinker den Weinen, der Haschischträumer der verhängnisvollen Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.

Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen kolossalischer Wille, der Träume so mit Blut und Lebendigkeit erfüllte, in seiner eigenen Magie das Geheimnis des Lebens sah und sich selbst zum Weltgesetz erhob. Eine eigentliche Philosophie konnte der nicht haben, der nichts von sich verriet, vielleicht nichts mehr war als ein Wandelhaftes, der keine Gestalt hatte wie Proteus, weil er alle in sich verkörperte, der wie ein Derwisch, ein flüchtiger Geist, in die Körper von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich verlor in den Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist, jetzt Altruist, jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen und Werte in sich ein- und ausschalten konnte wie elektrische Ströme. Wahrhaft und unabänderlich mußte ihm nur der ungeheure Wille sein, dieses Zauberwort Sesam, das ihm, dem Fremden, die Felsen vor der unbekannten Menschenbrust aufsprengte, ihn hinabführte in die finsteren Abgründe ihres Gefühls und ihn von dort, beladen mit dem Edelsten ihres Erlebens, wieder aufsteigen ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein, dem Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende Gewalt zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und Weltgebot zu empfinden. Ihm war bewußt, daß der Wille, dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem Napoleon, die Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob, Millionen Schicksale verwirrte, daß dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen nach außen sich auch im Materiellen manifestieren müßte, die Physiognomie modellieren, einströmen in die Physis des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane Erregung bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale und selbst stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert, um wieviel mehr mußte ein andauernder Wille, eine chronische Leidenschaft das Material der Züge herausmeißeln. Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so wie der Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze Kultur zu erkennen hat, so schien es ihm Erfordernis des Dichters, aus einem Antlitz und aus der um einen Menschen lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu erkennen. Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls lieben, seine Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten, ließ ihn Lavater studieren, der ebenfalls im Gesichte nichts anderes sah als den Fleisch und Bein gewordenen Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter. Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung des Innerlichen und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht. Er glaubte an Mesmers Lehre der magnetischen Übertragung des Willens von einem Medium in das andere, verkettete diese Anschauung mit den mystischen Vergeistigungen Svedenborgs, und all diese nicht ganz zur Theorie verdichteten Liebhabereien faßte er in der Lehre seines Lieblings, des Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen Gestalt eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht nach innerer Vollendung sonderbar vereint. Ihm war jedes Gesicht eine zu enträtselnde Scharade. Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber noch nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß nur das Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste Sehnsucht war, zu sein wie jene, die mit konzentrierten Kräften nicht nur das Momentane, sondern auch aus den Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der Chiromanten, der Wahrsager, der Steller von Horoskopen, der »voyants«, all derer, die, mit dem tieferen Blick der »seconde vue« begabt, das Innerlichste aus dem Äußerlichen, das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu erkennen sich erboten, die aus den dünnen Streifen der Handfläche den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick ist nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee der Konzentrierung ist bei Balzac in ewiger Wiederkehr – in sich aufgespart einem einzigen Ziele entgegenwendet. Die Gabe der »seconde vue« ist nicht nur die des Zauberers und Sehers allein; »seconde vue«, spontane visionäre Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter gegenüber ihren Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines Kranken sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den großen Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben ihre Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks, der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht, wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet. Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen und dem langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der der landläufige Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders, der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der von Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens vom Leben, sondern eines Beschenkens und Bereicherns.

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