Vaterländischer Roman

4. Die Cour

Etienne betrachtet sich lächelnd in dem goldumleisteten Pfeilerspiegel, wie er aus den Händen des Friseurs und Schneiders hervorgegangen war, die glänzende Armeeuniform, die Schoßweste und die weißen Kniestiefeletten über den Kasimirhosen. Er dachte, indem er die gekräuselten Locken überm Ohr und den langen Zopf betastete, an die Kusine Stephanie. Aber das Lächeln verging, als sein Blick auf dem Pudel ruhen blieb, der wie steif und tot zu seinen Füßen lag.

»Gottlieb!« rief er. Der Hund hörte nicht. Er mußte den Ruf wiederholen und ihn am Ohr zupfen, ehe er sich aufrichtete. »Willst du auch Trauer spielen, ehrlicher Totenwächter? Ich bin nun dein letzter Herr, und du sollst nicht traurig sein; ich befehle es dir.« Der Hund schüttelte die Ohren und schnappte spielend nach seiner Hand. »Es war nicht mein Vater; aber es war sein Vater, und deshalb, meinst du, soll ich auch Trauer anlegen und kein Hochzeitskleid?«

Die Tür flog auf, und der Marquis im reichsten goldbordierten Galakleide stand im Zimmer. »Wissen Sie schon, mein Vater«, rief ihm Etienne entgegen, »daß wir die Hochzeit doch aufschieben müssen? Ich ahnte gestern abend wohl, als beide Väter so unerwartet einig waren in einem phantastischen Entschluß und beide Kinder schwiegen und die Häupter senkten, daß auch ein Dritter – es ist nun auch ein Vater – Einspruch tun könnte!«

»Alles weiß ich«, sagte der Marquis, »Hochzeiten und Begräbnisse dürfen nicht zusammen gefeiert werden, bei keinem Volke der Welt. Warten schadet nichts, Pläne reifen durch Geduld, die Zeit ist nie verloren für einen, der sie zu nützen weiß. Ich war bei deiner Braut; sie tröstet sich.«

»Sie sprachen vermutlich den Wundarzt?«

»Ich kenne ihn seit alters; ein ehrenwertes Exemplar, zu Land- und Seedienst geschickt, von unerschütterlichem Geistesgleichmut.«

»Es war ein streng rechtlicher Mann, mein Vater«, unterbrach ihn Etienne. »Sein gerader Sinn wußte sich nur nicht zu fügen in die gewundenen Wege, die ihn das Schicksal führte. Es ist rührend zu hören, was mir der Feldscher von seinen Träumen erzählte. Dem verstandeskräftigen Mann, der kein Geheimnis, kein Wunder gelten ließ, trat überall das Gespenst seines Gottlieb entgegen, es kratzte nachts an die Tür, es setzte sich an sein Bett; es klagte ihn an, daß er zu streng gewesen sei. Sie unterhielten sich miteinander, der Vater bat flehentlich und bat so lange, bis Gottlieb ihm vergab. Auch im wachen Zustande hatte er diese Vision. Mein Hund hatte den Vater seines alten Herrn wiedererkannt, er hatte sich bei ihm einquartiert. Er kam die Nacht nicht von des Inspektors Bett, und es hat den Anschein nach allem, was der alte Chirurgus gehört, daß er ihn für seinen leibhaftigen Sohn gehalten. Er hat ihn immer gestreichelt und geliebkost, und am Morgen, als man die Tür öffnete, fand man meinen Pudel mit den Vorderpfoten auf dem Bett, den letzten brechenden Blick des Alten bewachend. Der Tote hielt noch mit seiner Linken die eine Pfote. – Seine Züge sollen ganz heiter geworden sein. – Ich will ihn selbst noch einmal sehen, ehe sie den Mann, den ich so lange für meinen Vater hielt, in sein letztes kleines Haus tragen.«

Der Marquis erklärte, mitgehen zu wollen, er duldete nicht, daß Etienne seinen Hochzeitsstaat ablege, denn in einem Leichenhaus werde auch eine Hochzeit gefeiert, die jedem bevorstände, er sei noch so häßlich, noch so arm, alt wie Methusalem oder ein Kind in der Wiege, eine Hochzeit zu einer Ehe, welche kein Konsistorium und kein Papst trenne, die einmal nur gefeiert werde und dann nie wieder, die Hochzeit mit dem Tode. Auf dem Wege war er still. Beim Anblick der Leiche brach er in Tränen aus und hub eine Lobrede auf den Verblichenen an, die, anfangs in weit hergeholten Bildern und Gleichnissen umherirrend und -springend, im Fortschreiten immer ernster und inniger wurde. Er redete sich selbst in wirkliche Rührung hinein, und seine Tränen wurden Wahrheit. Er warf sich auf die Leiche, küßte sie, nannte den Toten einen Mann, der seine Mannes-, Vater- und Ehrenpflicht übernommen, als treuer Knecht verwaltet und, verkannt von der Welt, seinen Kindern und Verwandten, in ein besseres Land scheide. Die Diensttuenden, der alte Feldscher wurden belohnt und das Leichenbegängnis, zu welchem die entferntesten Verwandten geladen waren, auch die französischen folgten, wurde mit Aufwand bestritten. Bis dahin war der Marquis einsilbig, traurig; mit diesem Begräbnis schien er einer drückenden Verpflichtung quitt geworden zu sein, es freute ihn, daß man darüber rede, es für den Stand des Verblichenen zuviel finde, und zu Etienne sprach er: »Nun, denke ich, wird sie zufrieden sein!«

Das Wort Amerika schwebte oft auf des Marquis Lippen, er studierte in der königlichen Bibliothek und erzählte der Komtesse mit entzückten Worten von den stillen, gewerbefleißigen Ansiedlungen in den ungeheuren Urwäldern Nordamerikas, wo nie eines Europäers Axt erklungen sei, wo es keinen Adel gäbe, keine Titel, keine Orden, wo das Bedürfnis die Menschen auf den Zustand ursprünglicher Gleichheit zurückführe. Und doch freute er sich, als er hörte, daß Friedrich bei der letzten Cour sehr gnädig mit dem Grafen Meroni gesprochen, sich nach seiner Tochter erkundigt und gefragt habe, wann die Hochzeit sein werde, und geäußert habe, sie bekomme einen braven Offizier zum Manne. Der König hatte sich auch gewundert, das Brautpaar noch nicht bei Hofe gesehen zu haben, und der Marquis ruhte jetzt nicht, bis die Wagen vor der Tür standen, welche den Grafen, seine Tochter und den Offizier zur Cour nach dem Schlosse fuhren, es war der Tag vor der Hochzeit.

Der König stand am Marmortisch inmitten des Glanzes, den sein Land, arm an Gold und Kleinodien, aber reich an großen Namen, den schon das halbe Europa, glückwünschend, über den unerschütterten Helden ausbreitete. Es strahlte um ihn von Brillanten, Ehrenkleidern, Federbüschen, reichen Orden, von stolzen Heldengestalten in den verschiedensten Uniformen, von gewichtigen Diplomaten, von hohen Frauen, in allem überflüssigen Reichtum der üppigen Mode. Inmitten all des Glanzes er, der Scheinloseste, ein vernachlässigter Anzug, eine gedrückte Stellung, eine Miene wie der Stoff des Tisches, auf dessen Alabasterplatte sich der müde Sieger stützte. Und doch strahlte er heller als alle. Seine Lippen blieben geschlossen, nur Phrasen, gleichgültige, gedankenlose, kamen heraus; aber seine Augen, wenn sie umherflogen durch die bunten Reihen, als suchten sie einen verwandten Blick, trugen die Majestät des Genius, vor dem der Glanz der Brillanten matt und die leuchtenste Farbe bleich wurden.

Eugenie empfand eine niegekannte Bangigkeit. Instinktartig trugen sie ihre Knie, Schritt für Schritt, bis das Zeremoniell vorüber war. Sie sah niemand um sich, sie wünschte, es wäre alles vorüber, sie säße schon in ihrer Loge in der Oper. Da klang es ihr in die Ohren: »Es ist die Hofmarschallin von Kurz, die Gattin des sächsischen außerordentlichen Gesandten.« Eine stolze, hochgeputzte Dame, deren Reifrock bei der dreimaligen Verneigung ihr Luft zuwehte, war in einer lebhaften Konversation mit dem König begriffen. Im reichsten Hofkleid stand in demütigem Ernst neben ihr der ehemalige Kammerherr von Kurz. »Wie lange sich Seine Majestät mit ihr unterhalten«, bemerkte man. »Das ist heut' die erste Dame, welche dies außerordentliche Glück hat.« – Jetzt wendete sich die Dame um – ihr ehemaliges Gesellschaftsfräulein. Ein wohlwollend lächelnder Blick Amaliens über den Fächer winkte die Komtesse heran, und Friedrich selbst machte eine Bewegung; der Sieger von Prag und Leuthen hatte sein Auge auf sie gerichtet, er wollte mit ihr reden. Wohin war der helle Blick, die klare Entschlossenheit, die geborene Würde, die sie in jedem Verhältnis zu bewahren gehofft hatte? Sie zitterte nicht, aber das Blut schoß wie ein reißender Strudel vom Wirbel zur Zeh, von der Zeh zum Wirbel. Sie sah Friedrich und nur Friedrich, aber drehte sich im Kreise mit ihr um, bald kleiner als sie, bald so groß wie ein Riese. Erst als er beide Namen nannte, erkannte sie Etienne, ihren Vater an ihrer Seite. Friedrich hatte gelächelt; er hatte zu ihr einige freundliche Worte gesprochen, auf mehr wußte sie sich nicht zu entsinnen, und doch meinten die anderen, er habe seit langem nicht so freundlich mit einer Dame geredet.

»Einer Ihrer Militärs, durchlauchtigster Herr«, entgegnete Amalie auf eine schmeichelhafte Bemerkung des Königs, »hat sie uns weggekapert. Eigentlich sollte mein Gatte sie auch unter der Liste der sächsischen Reklamationen aufführen und als sächsisches Eigentum zurückfordern; indessen fürchtet man bei uns in Dresden, wenn wir alle die Sächsinnen reklamieren, welche Ihre Tapferen gebunden und gefesselt mitgeführt haben, möchte so viel preußische Neigung mitkommen, daß es lauter Rebellion im Lande gäbe.«

Friedlich erwiderte im selben scherzenden Ton etwas davon, daß, als seine Generäle bei Trommelklang die heiratslustigen Sächsinnen hätten aufrufen lassen, das halbe schöne Sachsen den preußischen Marssöhnen zugelaufen wäre, und daß, wenn sie nicht schnell zur Retraite hätten blassen lassen, ganz Sachsen in Gefahr gewesen sei, alle seine heiratsfähigen Frauen zu verlieren. »Man hätte zeigen müssen«, setzte er hinzu, »daß die Preußen auch galant sind und ihren Nachbarn nicht alles Schöne haben fortnehmen wollen.«

Zu Etienne gewandt, hob er den Finger und sprach: »Ihm mach' ich's zur absonderlichen Pflicht, die Untertanin unseres Nachbarn gut zu halten, sonst gibt's Reklamationen von drüben, und Er will doch nicht, daß ich noch mal Krieg haben soll von wegen einer Dame?«

»Sire«, entgegnete die Hofmarschallin, tief sich verneigend, »unsere Helden wurden längst stumme Pygmäen in Ihrer Gegenwart, aber seitdem Sie die eine Dame besiegt haben, wo darf noch irgendeine andere in der Welt Rettung von dem starken Arm hoffen als im Wörtlein Gnade?«

»Welche Dame?« fragte der König, die Antwort ahnend.

»Fortuna.«

Es gibt Augenblicke, wo auch ein großer Mann von einem Alltagskompliment geschmeichelt wird. Friedrich wollte sich abwenden, er wandte sich aber noch nicht ab. Er musterte die Dame, den Offizier, und es schwebte etwas von Wohlwollen um die Lippen, aber die Worte eines Friedrich durften kein direkter Widerhall davon sein. Es wäre ihm vielleicht lieb gewesen, wenn Etienne gesprochen hätte; aber er schwieg, und der Monarch mußte die Worte hervorholen: »Will Er noch immer Krieg?«

»Sire, in Gedanken mit jedem, der zweifeln kann, daß mein erhabener Gebieter etwas anderes als Friede wünscht.«

»Ich glaube, um Ihn zu kontentieren, müßten alle Potentaten sich immer in den Haaren liegen.«

»Das Zeugnis des Gewissens, seine Schuldigkeit getan zu haben, muß den Mann zufriedenstellen.«

»Er hat sich brav gehalten«, sagte der König, »aber Er taugt doch nicht fürs Militär; Er denkt immer daran, Feldmarschall zu werden, und es kann nicht jeder General sein.« Etienne schwieg, der König winkte noch einmal. »Der Kastellan in Charlottenburg hat mir referiert, daß Er daselbst die Göttin Viktoria, als sie plünderten, mir salviert hat. Das ist brav von Ihm, sehr brav. Mir ist das Stück sehr lieb. Verstanden. Nun kann Er sich eine Gnade dafür ausbitten. Bitte Er!«

Etienne stand betroffen stillt »Sire«, stammelte er, »ich weiß nicht, um was ich mehr bitten soll, wenn die Majestät mir Ihre Gnade schenken.«

»So ernenne ich Ihn zu meinem Kammerherrn, und die Ausfertigung soll Er gratis haben. Versteht Er mich, er braucht nichts dafür zu bezahlen. Er kommt doch auch in die Oper?«

Der Monarch war gegangen, Etiennes Stirn glühte; die ihn kannten, sagten: »Zufrieden mit sich.« Es war ein Sieg des Augenblickes. Er zählte die Schnallenwinkel auf den Schuhen des Grafen, der ihm die Hand drückte und wieder drückte, die Hofmarschallin von Kurz umarmte nicht ohne Pathos die Komtesse und sprach zu den Damen umher: »Dies ist unsere liebe, gute Kusine, von der ich Ihnen erzählte. Wer durfte hoffen, daß Ihr gerechter, Ihr großer, Ihr einziger König so schnell, so großmütig Ihrer tugendhaften Liebe den Kranz aufdrücken würde? – Und Sie, mein würdiger Kammerherr, vergönnen Sie mir, Ihnen an diesem feierlichen Orte meine aufrichtigsten Glückwünsche abzustatten. Sie werden glücklich sein, das weiß ich, Sie werden meine kleine liebe, teure Kusine glücklich machen, darauf vertraue ich; ich binde sie Ihnen auf die Seele; Sie lieben wohl, aber Sie kennen noch nicht ganz den Schatz, den Sie gewonnen. O, aber der Segen, die Mitgift dieses Königs sei mir eine Bürgschaft von der ewigen Dauer Ihrer Neigung. Ja, vergessen Sie nie, meine Liebe, daß es dieser König war, der Ihren Bund geschlossen hat.«

Dann noch einmal Eugenie feierlich in ihre Arme drückend, flüsterte sie ihr ins Ohr: »Nach der Oper.«

Beim Hinausgehen wurde Eugenie in einem der Treppenappartements durch einen königlichen Lakaien aus ihren Träumereien aufgeschreckt, der plötzlich ihrem Vater um den Hals fiel, dann ihr, dann Etienne, dann ihr nochmals, und sich wie toll, aber toll vor Freude, herumdrehte. »Ich habe alles mit angehört«, rief der Marquis von Cabanis, denn dieser steckte in dem von Silberschnüren und Borten strotzenden Kleide, »alles habe ich vernommen. Er war ein Richter, ein König, ein Gott. Das kann nur Friedrich, Friedrich allein. Mein Sohn Kammerherr, den Degen hat er dir abgesprochen, aber er wird ihn dir wieder zusprechen, er wird mir Satisfaktion geben, oder ich müßte nicht Aloysius Xaver von Cabanis heißen. Nach der Oper sehen wir uns wieder. Ich höre ihn.« Er stürzte nach den inneren Appartements.

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