12. Kapitel. Die Schule der Erfahrung

Komme, was kommen mag,
die Stunde rinnt auch durch den rauhesten Tag.

Praktische Weisheit läßt sich nur in der Schule der Erfahrung lernen. Vorschriften und Unterweisungen sind zwar recht nützlich; aber ohne die Schule des wirklichen Lebens bleiben sie nur Theorie. Erst gegenüber dem rauhen Daseinskampfe erhält der Mensch jenen echten Klang seines Charakters, der sich nie durch Lesen oder Unterricht, sondern nur durch die Berührung mit den Leidenschaften der Menschen erwerben läßt.

Der Charakter hat nur dann einen Wert, wenn er in der Welt der täglichen Arbeit, Versuchungen und Prüfungen standhalten und das Einerlei des tätigen Lebens ertragen kann. Eine klösterliche Tugend hat nicht viel zu bedeuten. Das Leben, welches sich an der Einsamkeit erfreut, kann nur selbstsüchtig sein. Die Abgeschlossenheit kann Weltverachtung anzeigen, obwohl sie gewöhnlich mehr der Indolenz, Feigheit und Selbstverzärtelung entspringt. Jedem menschlichen Wesen gebührt sein wohlgemessener Anteil an Arbeit und Pflichterfüllung, und er kann ihm ohne Verlust für das Individuum selbst wie für die Allgemeinheit nicht entlassen werden. Nur durch Einmischung in das tägliche Leben der Welt und Anteilnahme an ihren Angelegenheiten kann eine praktische Kenntnis und Weisheit erworben werden. Darin finden wir unsere Hauptsphäre, daß wir arbeiten lernen und daß wir uns zu jener Geduld, Emsigkeit und Ausdauer erziehen, die den Charakter gestalten und festigen. So meistern wir die Schwierigkeiten, Prüfungen und Versuchungen, die unserem ganzen späteren Leben eine besondere Färbung geben, je nachdem wir uns mit ihnen abfinden, und dort nimmt uns das Leiden in seine hohe Schule, in der wir mehr lernen als in der sicheren Abgeschlossenheit des Studierzimmers oder des Klosters.

Auch zur Selbsterkenntnis ist die Berührung mit anderen erforderlich. Nur wenn man sich in das Weltgetriebe mischt, kann man ein richtiges Urteil über seine Kräfte gewinnen. Ohne diese Erfahrung wird man leicht dünkelhaft, aufgeblasen und arrogant, auf alle Fälle bleibt man aber unwissend in bezug auf sich selbst, wenn man auch bisher keine andere Gesellschaft als nur sich selbst gehabt hat. Swift sagte einst: »Es ist eine unbestreitbare Wahrheit, daß niemand je eine schlechte Figur spielte, der seine Fähigkeiten kannte, und daß ebenso nie jemand eine gute spielte, der sich nicht kannte.« Viele Personen sind aber viel eher bereit, die Fähigkeiten anderer als die ihrigen abzumessen. »Bringt ihn mir her,« sagte ein gewisser Dr. Tronchin zu Genf über Rousseau, »damit ich sehe, ob etwas an ihm ist,« dabei hätte aber wahrscheinlich Rousseau leichter Tronchin, als Tronchin ihn beurteilen können.

Daher ist eine gewisse Selbsterkenntnis für jeden erforderlich, der in der Welt etwas sein oder tun will. Sie ist auch wesentlich für die Bildung einer bestimmten persönlichen Überzeugung. Friedrich Perthes sagte einst zu einem jungen Manne: »Sie wissen nur zu wohl, was Sie tun können; aber ehe Sie nicht erfahren haben, was Sie nicht können, werden Sie nie etwas Bedeutendes in der Welt leisten, noch inneren Frieden kennen.«

Wer die Erfahrung benutzen will, darf sich nicht zu erhaben fühlen, manchmal um Hilfe zu bitten. Wer sich immer zu weise dünkt, etwas von anderen zu lernen, wird nie etwas Gutes oder Großes tun können. Wir müssen Herz und Geist offen halten und uns nicht schämen, von Weiseren und Erfahreneren zu lernen.

Ein Mensch, der durch Erfahrung klug geworden ist, bemüht sich, alles, was er beobachtet und was im täglichen Leben vorkommt, richtig zu beurteilen. Was wir gesunden Menschenverstand nennen, ist größtenteils nur das Resultat klug angewandter Erfahrung. Man braucht keine besondere Geschicklichkeit, um sie zu erwerben, sondern vielmehr Geduld, Genauigkeit und Achtsamkeit. Hazlitt hielt intelligente Geschäftsleute und Weltmänner für die verständigsten Leute, da sie nach dem urteilen, was sie sehen und wissen, anstatt sich Hirngespinste zu bilden, wie die Dinge sein sollten.

Aus demselben Grunde entfalten die Frauen oft mehr gesunden Menschenverstand als die Männer, da sie weniger Vorurteile haben und die Dinge infolge des unwillkürlichen Eindrucks auf den Geist natürlicher beurteilen. Ihre Beobachtungsgabe ist schärfer, ihr Begriffsvermögen schneller, ihre Sympathie lebhafter und ihr Benehmen paßt sich mehr dem besonderen Zweck an. Daher ihr größerer Takt im Verkehr mit anderen, und daher gelingt es Frauen von geringen Geistesgaben, sogar die unlenksamsten Männer zu lenken und zu beherrschen. Pope zollte dem Takt und gesunden Verstand der Königin Maria, Gemahlin Wilhelms III., großes Lob, wenn er von ihr sagte, daß sie zwar nicht Gelehrsamkeit, aber, was mehr wert wäre, Klugheit besäße. Das ganze Leben kann als eine Schule der Erfahrung angesehen werden, wo die Menschen die Zöglinge sind. Wie in der Schule müssen dabei viele Lektionen auf Treu und Glauben hingenommen werden. Wir verstehen sie manchmal nicht und finden es schwer, sie zu lernen, besonders wenn Prüfungen, Sorgen, Versuchungen und Schwierigkeiten die Lehrer sind; und dennoch müssen wir die Lehren nicht nur annehmen, sondern sie auch als göttliche Bestimmung anerkennen.

Was haben die Schüler dann für Vorteil von ihren Erfahrungen in der Schule des Lebens? Was für Nutzen haben sie aus der Gelegenheit zum Lernen gezogen? Was haben sie an Geistes- und Herzensbildung gewonnen? Was an Weisheit, Mut, Selbstbeherrschung? Haben sie im Wohlergehen ihre Unbescholtenheit bewahrt und das Leben mit Mäßigkeit genossen? Oder ist ihnen das Leben ein selbstsüchtiges Gelage gewesen, ohne daß sie sich um andere kümmerten? Was haben sie aus Prüfungen und Not gelernt? Haben sie Geduld, Ergebenheit und Gottvertrauen gelernt, oder nichts als Ungeduld, Grämlichkeit und Unzufriedenheit?

Die Resultate der Erfahrung ergeben sich natürlich erst im Laufe des Lebens, sie sind also eine Frage der Zeit. Ein erfahrener Mann lernt auf die Zeit als auf seine Gehilfin bauen. »Die Zeit und ich gegen zwei beliebige andere,« war ein Grundsatz des Kardinals Mazarin. Die Zeit soll verschönern und trösten, sie ist aber auch eine Lehrerin, denn Erfahrung und Weisheit werden durch sie genährt. Sie kann die Freundin oder Feindin der Jugend sein und sitzt tröstend oder peinigend im Alter zur Seite, wenn sie gut oder schlecht angewendet wurde und das vergangene Leben ein gutes oder schlechtes war.

»Die Zeit,« sagt George Herbert, »ist der Reiter, der die Jugend zügelt.« Wie schön erscheint die Welt dem Jüngling, wie voller Neuheit, Genuß und Freude! Aber wenn Jahre verstrichen sind, ist die Welt für uns eine Stätte der Sorge wie der Freude. Wie wir im Leben vorwärtsschreiten, so tun sich viele dunkle Pfade auf, Mühe, Leiden, Schwierigkeiten und vielleicht Unglück und Mißgeschick. Glücklich diejenigen, welche mit festem Geist und reinem Herzen hindurchschreiten können, die Schwierigkeiten mit Heiterkeit überwindend und auch unter der schwersten Last aufrecht stehend.

Ein wenig jugendliches Feuer ist eine große Hilfe im Leben und als energische Triebkraft nützlich. Es wird allmählich durch die Zeit abgekühlt und durch die Erfahrung gezügelt und unterdrückt, wie sehr es auch glühte. Aber es ist ein heilsames, hoffnungsvolles Anzeichen für den Charakter, und man sollte es in die richtige Bahn lenken und nicht durch Spott unterdrücken. Es ist ein Zeichen für eine kräftige selbstlose Natur, wie der Egoismus eines für eine enge und beschränkte. Wenn man sein Leben mit Selbstsucht und Dünkel beginnt, wird alle Größe und Kraft des Charakters erstickt. Das Leben wäre in diesem Falle wie ein Jahr ohne Frühling. Ohne eine hochherzige Saat ist es ein Sommer ohne Blüten und ein unfruchtbarer Herbst. Und die Jugend ist der Frühling des Lebens, und wenn sie keine Begeisterung kennt, wird darin wenig versucht und noch weniger getan. Sie befördert auch die Arbeitskraft, flößt Vertrauen und Hoffnung ein und führt einen durch die trockenen Einzelheiten des Geschäfts und der Pflicht mit Heiterkeit und Freude.

»Eine tüchtige Beimischung von Romantik und Wirklichkeit bringt den Menschen am besten durchs Leben,« sagte Henry Lawrence. »Die Eigenschaft der Romantik oder Begeisterung ist als eine Energie zu betrachten, die den menschlichen Geist allezeit zu den edelsten Anstrengungen antreibt.« Sir Henry ermahnt stets die jungen Leute, daß sie die Begeisterung nicht unterdrücken, sondern eifrig pflegen und leiten sollten als ein Gefühl, das zu weisen und edlen Zwecken eingepflanzt wäre. »Wenn Idealismus und Realismus richtig gemischt sind, so verfolgt dieser einen geraden rauhen Pfad zu einem wünschenswerten praktischen Ziel, während der Idealismus den Weg erleichtert, dadurch, daß er auf die Schönheiten aufmerksam macht und dem Menschen die tiefe und feste Überzeugung einflößt, daß es selbst in diesem dunklen materiellen Leben Freuden gibt, die ein Fremder nicht kennt, ein Licht, das allmählich zum hellen Tag wird.«

Wenn ein Mensch in einem großen Unternehmen Erfolg haben will, bedarf es der ganzen Kraft der Begeisterung. Ohne sie werden ihn der Widerstand und die Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat, besiegen; aber mit Mut und Beharrlichkeit, im Verein mit Enthusiasmus, fühlt der Mensch sich stark genug, jeder Gefahr und Schwierigkeit Trotz zu bieten. Wie groß war die Begeisterung des Kolumbus, der so fest an die Existenz eines neuen Weges nach Ostindien glaubte, daß er den Gefahren unbekannter Meere trotzte. Und als sich seine Umgebung in ihrer Verzweiflung gegen ihn erhob und ihn ins Meer zu werfen drohte, blieb er noch fest bei seiner Hoffnung und seinem Mut, bis das ersehnte Land am Horizont auftauchte. Der Tapfere läßt sich nicht abschrecken, sondern versucht immer wieder, bis er Erfolg hat. Der Baum fällt nicht auf einen Streich, sondern erst nach schwerer Arbeit. Wenn wir den Erfolg eines Mannes sehen, vergessen wir darüber häufig die Mühe, Leiden und Gefahren, durch die er ihn errungen hat. Als ein Freund des Marschalls Lefevre ihn wegen seiner Besitzungen und seines Glücks Komplimente machte, sagte der Marschall: »Sie beneiden mich darum? Nun, Sie sollen das alles billiger als ich haben. Stellen Sie sich in den Hof, ich werde auf dreißig Schritt Entfernung zwanzigmal auf Sie schießen. Wenn ich Sie nicht töte, gehört das alles Ihnen – Wie? Sie wollen nicht? Nun gut, aber erinnern Sie sich, daß man mehr als tausendmal und auf geringere Entfernung auf mich geschossen hat, ehe ich das alles erworben habe!« Auch die größten Männer mußten eine schwere Lehrzeit durchmachen; diese ist oft der beste Ansporn und das beste Bildungsmittel des Charakters. Sie erweckt Kräfte, die ohne sie geschlummert hätten. Wie Kometen zuweilen durch Sonnenfinsternisse sichtbar werden, so werden Helden bisweilen durch plötzliches Unglück entdeckt. Es scheint sogar, als ob das Genie manchmal wie Eisen und Feuerstein einen starken heftigen Schlag brauchte, um den göttlichen Funken zu sprühen. Es gibt Naturen, die unter Schwierigkeit blühen und gedeihen und die in einer Atmosphäre des Behagens und Wohllebens dahinwelken würden. Es ist daher besser für die Menschen, wenn sie durch Schwierigkeiten zu Tätigkeit emporgerüttelt und zu Selbstvertrauen angehalten werden, als daß sie ihr Leben in nutzloser Apathie und Indolenz verbringen.

Ein großer Musiker sagte einst von einer talentvollen, aber leidenschaftslosen Sängerin: »Sie singt gut, aber es fehlt ihr ein gewisses Etwas und damit Alles. Wenn ich ledig wäre, würde ich mich um sie bewerben, sie heiraten, mißhandeln und ihr das Herz brechen; und in einem halben Jahre wäre sie die größte Sängerin in Europa.«

Der Kampf ist die Vorbedingung zum Sieg. Wenn es keine Versuchungen gäbe, gäbe es keine Selbstbeherrschung und die Tugend wäre nur ein geringes Verdienst; wenn es keine Schwierigkeiten gäbe, brauchte man auch keine Anstrengungen; wenn es keine Prüfungen und Leiden gäbe, so gäbe es auch keine Erziehung zu Geduld und Ergebenheit. So sind Schwierigkeiten, Bedrängnis und Leiden nicht ganz Übel, sondern oft die beste Quelle der Stärke, Disziplin und Tugend. Aus demselben Grunde ist es für einen Menschen oft gut, wenn er mit Armut kämpfen und sie besiegen muß. »Wer gekämpft hat,« sagt Carlyle, »und wäre es nur mit Armut und harter Arbeit, wird sich als stärker und erfahrener erweisen als der, welcher zu Hause blieb, sich bei den Proviantwagen versteckte oder bei dem Hausrat blieb.«

Gelehrte haben die Armut erträglicher gefunden als die Entziehung geistiger Nahrung. Reichtum belastet nur die geistige Spannkraft. »Ich möchte der Armut nur zurufen,« sagt Richter, »Sei willkommen! wenn du nicht zu spät im Leben kommst.« Wie Horaz erzählt, brachte ihn die Armut zur Dichtkunst und diese zu Varus, zu Virgil und Mäcenas. »Hindernisse«, sagt Michelet, »sind nur ein Ansporn. Ich hatte jahrelang nur meinen Birgil und befand mich wohl dabei. Ein vereinzelter Band Racine, der auf dem Kai gekauft wurde, hat den Dichter von Toulon geschaffen.«

Die Spanier sollen sich sogar in recht gemeiner Weise über die Armut des Cervantes gefreut haben, denn ihr schrieben sie seine großen Werke zu. Als der Erzbischof von Toledo den französischen Gesandten zu Madrid besuchte, äußerten die Herren im Gefolge des Franzosen ihre hohe Bewunderung vor den Schriften des Cervantes und drückten den Wunsch aus, den kennen zu lernen, der ihnen so großes Vergnügen bereitet hatte. Sie erhielten zur Antwort, daß Cervantes in der Armee seines Vaterlandes gedient hätte und jetzt arm und alt wäre. »Wie,« rief einer der Franzosen aus, »lebt Señor Cervantes nicht in guten Verhältnissen? Warum unterstützt man ihn nicht aus dem Staatsschatz?« – »Gott behüte,« war die Antwort, »wie sollten wir seine Not lindern, da sie ihn zum Schreiben veranlaßt. Seine Armut ist es gerade, welche die Welt reich macht!«

Nicht so sehr der Wohlstand als die Bedrängnis, nicht so sehr das Glück als die Not entzünden die Beharrlichkeit starker und gesunder Naturen, erregen ihre Energie und entwickeln ihren Charakter. Burke sagt von sich: »Man hat mich nicht zum Gesetzgeber gewiegt und aufgepäppelt. Nitor in adversum ist das Motto für manche Leute.« Manchen Menschen braucht sich nur eine große Schwierigkeit in den Weg zu stellen, so enthüllt sich die Kraft ihres Charakters und Genies, und die einmal überwundene Schwierigkeit wird eins der stärksten Antriebsmittel auf ihrem ferneren Weg.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Menschen nur durch den Erfolg vorwärts kommen; sie gelangen noch häufiger durch Mißerfolge ans Ziel. Die bei weitem beste Lebenserfahrung der Menschen setzt sich zusammen aus der Erinnerung an Fehlschläge in den Angelegenheiten des Lebens. Solche Fehler spornen empfindliche Leute zu besserer Führung, größerem Takt und mehr Selbstbeherrschung an, um sie künftig zu vermeiden. Man frage den Diplomaten und er wird erzählen, daß er seine Kunst viel mehr durch Enttäuschungen, Niederlagen, Widerwärtigkeiten und Mißerfolge als durch Erfolge erlernt hat. Vorschriften, Studium und Ratschläge hätten ihm nie so viel wie ein Mißerfolg genützt. Er hat ihn experimentell unterrichtet und ihm gelehrt, was zu tun und – was bisweilen in der Diplomatie noch wichtiger ist – was nicht zu tun sei.

Manche haben immer wieder Mißerfolge überwinden müssen, ehe sie Glück hatten; wenn sie aber Energie haben, wird der Mißerfolg nur ihren Mut reizen und sie zu neuen Anstrengungen anspornen. Talma, der größte Schauspieler, wurde bei seinem ersten Auftreten ausgepfiffen. Lacordaire, einer der größten Kanzelredner der neueren Zeit, erlangte erst nach wiederholten Fehlschlägen seine Berühmtheit. Montalembert sagt von seinem ersten Auftreten in der St. Rochuskirche: »Es war ein gänzlicher Fehlschlag und beim Herausgehen sagte einer: ›Er mag wohl Talent haben, aber er wird nie ein Prediger werden‹.« Wieder und wieder versuchte es Lacordaire ohne Erfolg, doch schon zwei Jahre nach seinem ersten Auftreten predigte er in der Notre-Dame-Kirche vor so viel Zuhörern, wie sie wenig französische Kanzelredner seit den Tagen des Bossuet und Massillon gehabt hatten. Als Cobden das erstemal als Redner in einer Volksversammlung zu Manchester auftrat, blamierte er sich vollständig, und der Vorsitzende mußte für ihn um Entschuldigung bitten. James Graham und Disraeli hatten auch zuerst kein Glück und wurden ausgelacht; nur durch Anstrengung und Fleiß gelangten sie zu Erfolgen. James Graham wollte in seiner Verzweiflung das öffentliche Reden ganz aufgeben. Er sagte zu seinem Freund Francis Baring: »Ich habe es auf alle Weise versucht, aus dem Stegreif, nach Notizen, und aus dem Gedächtnis – aber ich bringe es nicht fertig. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber ich glaube, es wird mir nie gelingen.« Doch durch Beharrlichkeit wurde Graham wie Disraeli einer der wirksamsten und eindringlichsten Parlamentsredner. Ein Mißgeschick in einem Berufe hat oft weitblickende Menschen veranlaßt, sich einem anderen zuzuwenden. So würde das Mißgeschick Prideaux', der sich vergeblich um das Amt eines Küsters zu Ugboro in Devon bewarb, die Ursache daß er sich dem Studium zuwandte und Bischof von Worcester wurde. Als Boileau, der zum Rechtsanwalt bestimmt war, sein erstes Plaidoyer hielt, mußte er unter Lachstürmen aufhören. Dann versuchte er sich als Kanzelredner, aber mit ebensowenig Erfolg. Hierauf wandte er sich mit vielem Glück der Poesie zu. Fontenelle und Voltaire hatten beide als Rechtsanwälte kein Glück. Cowper blamierte sich durch seine Befangenheit und Schüchternheit, als er das erstemal plädierte; aber im Laufe seines Lebens erneute er die Poesie in England. Montesquieu und Bentham hatten beide als Rechtsanwälte kein Glück und verließen diesen Beruf, um sich einem sympathischeren zuzuwenden – und doch hinterließ der letztere einen Schatz legislativer Weisheit. Goldsmith bemühte sich vergeblich, Wundarzt zu werden, aber er schrieb »Das verlassene Dorf« und den »Landprediger von Wakefield«; während Addison kein Glück als Redner hatte, schrieb er »Sir Roger de Coverley« und zahlreiche berühmte Aufsätze für den »Spectator«.

Auch das Fehlen eines wichtigen Sinnes, wie des Gesichts oder Gehörs, hat mutige Männer nicht davon abgeschreckt, den Kampf des Lebens mit Eifer aufzunehmen. Als Milton erblindete, ließ er sich nicht niederdrücken und steuerte mutig vorwärts.« Seine größten Werke entstanden zu der Lebenszeit, wo er am meisten litt, als er arm, krank, alt, blind, verleumdet und verfolgt war.

Das Leben einiger der größten Männer ist ein beständiger Kampf mit Schwierigkeiten und Niederlagen gewesen. Dante schuf sein größtes Werk, als er in der Verbannung lebte. Von der ihm feindlichen Partei vertrieben, wurde sein Haus der Plünderung preisgegeben und er selbst in contumaciam zum Scheiterhaufen verdammt. Als ein Freund ihm mitteilte, er könne nach Florenz zurückkehren, wenn er Abbitte leiste, sagte er: »Nein! das ist nicht der Weg, der mich in meine Vaterstadt führen soll. Ich will schnell zurückkehren, wenn du oder ein anderer mir einen Weg zeigst, bei dem ich den Ruhm und die Ehre meines Geschlechts nicht verletze, aber wenn dies nicht geschehen kann, werde ich nicht nach Florenz zurückkehren.« Da seine Feinde unversöhnlich blieben, starb Dante nach zwanzigjähriger Verbannung im Exil. Sie verfolgten ihn noch übers Grab hinaus, denn sein Buch »De Monarchia« wurde auf Befehl des päpstlichen Legaten zu Bologna öffentlich verbrannt.

Auch Camoens schrieb seine großen Dichtungen fast alle in der Verbannung. Der Einsamkeit in Santarem müde, schloß er sich einer Expedition gegen die Mauren an, worin er sich durch seine Tapferkeit auszeichnete. Er verlor beim Entern eines feindlichen Schiffes ein Auge. Zu Goa in Ostindien sah er mit Entrüstung die Grausamkeiten der Portugiesen gegen die Eingeborenen und machte dem Gouverneur deswegen Vorstellungen. Deshalb wurde er aus der Niederlassung verbannt und nach China geschickt. Im Verlauf seiner Abenteuer und Prüfungen erlitt Camoens Schiffbruch und rettete nur das Manuskript seiner »Lusiaden«. Überall schien ihm Verfolgung und Mühsal zu drohen. Zu Macao wurde er eingekerkert. Er entkam und schiffte sich nach Lissabon ein, wo er nach sechzehnjähriger Abwesenheit arm und verlassen ankam. Seine »Lusiaden«, die kurz danach veröffentlicht wurden, brachten ihm viel Ruhm, aber kein Geld. Ohne seinen alten indischen Sklaven Antonio, der für ihn bettelte, wäre Camoens verhungert.

Er starb schließlich in einem Armenhause, aufgerieben von Krankheit und Mühsal. Auf sein Grab setzte man die Inschrift: »Hier ruht Luis de Camoens: er übertraf alle Dichter seiner Zeit; er lebte und starb arm und elend MDLXXIX.« Diese wenig anmutige, aber wahre Inschrift ist seitdem entfernt worden und eine lügenhafte pompöse Grabschrift wurde an ihrer Statt dem größten Nationaldichter Portugals gesetzt.

Sogar Michelangelo war während des größten Teiles seines Lebens den Verfolgungen seiner Neider ausgesetzt – gemeine Adlige und Priester und Leute jeden Standes, die weder mit ihm sympathisieren noch seinen Genius begreifen konnten. Als Paul IV. einiges an seinem »Jüngsten Gericht« tadelte, sagte der Künstler, der Papst täte besser, sich mit der Abstellung der Unordnung und Lasterhaftigkeit, welche die Welt schänden, zu befassen, als an seiner Kunst törichte Kritik zu üben.

Auch die Wissenschaft hat ihre Märtyrer gehabt, die sich ihren Weg zum Licht durch Schwierigkeiten, Leiden und Verfolgungen erkämpften. Wir brauchen nicht nochmals an Giordano Bruno, Galilei und andere zu erinnern, die wegen der vermeintlichen Ketzerei ihrer Ansichten verfolgt wurden. Aber es hat noch andere Unglückliche gegeben, deren Genie sie nicht vor der Wut ihrer Feinde retten konnte. So wurden der berühmte französische Astronom Bailly (ehemals Maire von Paris) und der große Chemiker Lavoisier in der ersten französischen Revolution guillotiniert. Als dieser, nachdem er von dem Wohlfahrtsausschuß zu Tode verurteilt war, um einige Tage Aufschub bat, damit er das Resultat einiger während seiner Gefangenschaft angestellten Experimente feststellen könnte, verweigerte das Tribunal sein Gesuch und ließ ihn sofort hinrichten, – denn einer der Richter sagte: »die Republik braucht keine Philosophen.« In England zündete man dem Dr. Priestley, dem Vater der modernen Chemie, das Haus über dem Kopfe an und zerstörte unter dem Rufe »Fort mit den Philosophen« seine Bibliothek, so daß er ins Ausland floh, wo er auch starb.

Einige der größten Entdecker mußten ebenfalls ihr Werk unter Verfolgung, Not und Leiden tun. Columbus, der eine neue Welt entdeckte und sie der alten schenkte, wurde bei Lebzeiten von ebendenselben, die er reich gemacht, verleumdet, beraubt und verfolgt. Mungo Park ertrank in dem afrikanischen Flusse, den er entdeckte, aber nicht mehr beschreiben konnte, Clapperton erlag dem Fieber am Ufer des großen Sees, im Innern desselben Erdteils, der später von anderen wieder entdeckt und beschrieben wurde; Franklin kam in der Eiswüste um, vielleicht nachdem er die lange gesuchte nordwestliche Durchfahrt gefunden hatte – das alles gehört zu den traurigsten Ereignissen in der Geschichte der Entdeckungen und des Genies.

Ein besonders hartes Schicksal hatte der Seefahrer Flinders, der sechs Jahre lang auf Isle de France gefangen lag. Im Jahre 1801 segelte er von England auf dem »Investigator« ab, mit einem französischen Passe versehen, der alle französischen Gouverneure trotz des Krieges zwischen England und Frankreich anwies, ihm in dem heiligen Namen der Wissenschaft Schutz und Hilfe zu gewähren. Im Verlaufe seiner Reise erforschte er einen großen Teil von Australien, Vandiemensland und der Nachbarinseln. Da der »Investigator« leck und unbrauchbar wurde, schiffte sich der Entdecker auf der »Pourpoise« als Passagier nach England ein, um der Admiralität die Ergebnisse seiner dreijährigen Arbeit zu unterbreiten. Auf der Heimreise strandete die »Pourpoise« auf einem Riff in der Südsee und Flinders erreichte mit einem Teil der Mannschaft in einem offenen Boote Port Jackson, obgleich dies etwa 750 Seemeilen entfernt war. Dort verschaffte er sich einen kleinen Schooner, die »Cumberland«, nicht größer als ein Gravesender Segelboot, und holte den Rest der Mannschaft, der auf dem Riff zurückgelassen worden war. Nachdem er sie gerettet hatte, schiffte er sich nach England ein, erreichte aber nur Isle de France, weil die »Cumberland,« ein elendes, schlecht gebautes Fahrzeug, unbrauchbar geworden war. Zu seiner Überraschung wurde er mit seiner ganzen Mannschaft gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen, wo er trotz seines französischen Passes sehr brutal behandelt wurde. Was die Schrecken seiner Lage aber noch vermehrte, war der Gedanke, daß der französische Seefahrer Baudin, dem er bei seiner Forschungsreise an der Küste Australiens begegnet war, Europa zuerst erreichen und das Verdienst seiner Entdeckungen für sich in Anspruch nehmen würde. Es kam so, wie er erwartet hatte, und während Flinders noch immer auf Isle de France im Gefängnis lag, erschien der französische Atlas mit den neuen Entdeckungen, und alle Punkte, die Flinders und seine Vorgänger benannt, hatten neue Namen erhalten. Schließlich wurde Flinders nach sechsjähriger Gefangenschaft befreit, aber seine Gesundheit war gebrochen. Trotzdem verbesserte er unermüdlich seine Karten und arbeitete seine Reisebeschreibung aus. Er lebte noch lang genug, um den letzten Druckbogen zu korrigieren, und er starb an demselben Tage, an dem sein Buch erschien!

Mutige Männer haben oft die erzwungene Einsamkeit dazu benutzt, Werke von großer Bedeutung und Wirkung zu schreiben. In der Einsamkeit erwacht der Drang nach geistiger Vervollkommnung am stärksten. Die Seele berät sich in der Einsamkeit mit sich selbst und ihre Energie wächst dann oft bedeutend. Aber ob jemand Nutzen daraus zieht oder nicht, hängt von seinem Temperament, Charakter und seiner Erziehung ab. Während bei einer groß angelegten Natur die Einsamkeit das Herz noch reiner macht, so wird bei einer engherzigen das Herz noch mehr verhärtet; denn wenn die Einsamkeit auch die Amme großer Geister ist, so ist sie für kleine eine Qual.

Manche, die vollständig unterzugehen schienen, haben oft einen mächtigeren und nachhaltigeren Einfluß auf die Menschheit ausgeübt, als diejenigen, deren Laufbahn eine ununterbrochene Reihe von Erfolgen war. Der Charakter eines Mannes beruht nicht darauf, ob seine Anstrengungen von Erfolg gekrönt sind oder nicht. Der Märtyrer hat nicht vergeblich gelitten, wenn die Wahrheit, um die er duldete, durch sein Opfer neuen Glanz erhält. Der Patriot, der sein Leben für die gute Sache opfert, kann so deren Sieg beschleunigen, und diejenigen, welche sich im Vordertreffen einer großen Bewegung dem Tode weihen, öffnen oft eine Gasse für ihre Hintermänner, die über ihre Leichen zum Siege eilen. Der Triumph kann spät kommen, doch wenn er kommt, dann verdankt man ihn ebensosehr denen, die in ihren ersten Bestrebungen scheiterten, wie denen, die ihn herbeifühlten. Das Beispiel eines großen Todes kann ebenso wie das eines guten Lebens für andere eine Inspiration sein. Eine große Tat geht nicht mit dem unter, der sie vollbrachte, sondern lebt weiter und erzeugt ähnliche Handlungen bei den Überlebenden, die sein Andenken ehren. Von einigen großen Männern könnte man fast sagen, daß ihr Leben erst mit ihrem Tode begann. Die Namen der Männer, die für die Religion, die Wissenschaft und Wahrheit litten, bezeichnen auch die Männer, deren Andenken bei der Menschheit in der größten Achtung und Ehre stehen. Wenn sie auch umkamen, so lebt doch das, wofür sie stritten, fort. Sie schienen gescheitert zu sein und hatten doch Erfolg. Sie waren vielleicht im Gefängnis, aber ihre Gedanken ließen sich nicht durch Mauern einschließen: sie durchbrachen sie und trotzten der Wut ihrer Verfolger.

Milton tat den Ausspruch: »Wer am meisten dulden kann, der kann am meisten vollbringen.« Die Arbeit vieler großer, pflichterfüllter Männer wurde inmitten Leiden, Prüfungen und Schwierigkeiten vollbracht. Sie kämpften gegen den Strom und erreichten erschöpft das Ufer, nur um es zu fassen und zu sterben. Sie taten ihre Pflicht und hauchten ihr Leben Zufrieden aus. Aber der Tod hat keine Gewalt über diese Menschen, ihr geheiligtes Andenken lebt fort und tröstet, reinigt und segnet uns. »Leben« sagte Goethe, »heißt für uns kämpfen. Wer außer Gott dürfte Rechenschaft von uns fordern? Laßt uns die Toten nicht tadeln. Nicht was sie gefehlt oder gelitten, sondern was sie geleistet haben, sollte die Überlebenden beschäftigen.«

So ist es nicht das Behagen oder Glück, das den Menschen auf die Probe stellt und das Gute in ihm offenbart, sondern vielmehr Schwierigkeiten und Prüfungen bewirken dies. Die Not ist der Prüfstein des Charakters. Wie man gewisse Kräuter zerdrücken muß, damit sie den süßesten Duft spenden, so müssen manche Naturen in großes Leid geraten, damit ihre innere Vortrefflichkeit erweckt wird. So enthüllt das Mißgeschick oft Tugenden und weckt schlummernde Geistesgaben. Menschen, die vorher nutzlos und energielos erschienen, entwickeln in schwierigen, verantwortungsreichen Lagen oft unvermutete Charakterstärke und wo man vorher nur Wankelmut und Nachlässigkeit sah, da ist jetzt Kraft, Mut und Selbstverleugnung. Wie es keine Segnung gibt, die nicht zum Fluche werden kann, so kann auch jedes Übel zum Segen werden. Alles kommt darauf an, wie wir es anfassen. Auf ein vollkommenes Glück darf man in dieser Welt nicht rechnen. Selbst wenn man es erlangte, würde es sich als nutzlos erweisen. Die hohlste aller Verkündigungen ist das Evangelium von ungetrübtem Behagen. Schwierigkeiten und sogar Mißgeschick sind weit bessere Lehrmeister. Humphrey Davy sagte: »Auch im Privatleben schädigt überschwengliches Glück entweder den Menschen in sittlicher Beziehung und verursacht eine Lebensführung, die mit Leiden endigt, oder es wird von dem Neide, der Verleumdung und Mißgunst anderer angegriffen.« Das Mißgeschick bessert, zähmt und kräftigt den Charakter. Sogar der Kummer ist auf geheimnisvolle Weise mit der Freude und der Zärtlichkeit verknüpft.

Das Leid ist vielleicht das gottgewollte Mittel, durch welche die höchsten Eigenschaften geschult und entwickelt werden. Wenn man das Glück als das Endziel des Daseins betrachtet, so ist der Kummer die unerläßliche Bedingung, unter der man es erreicht. Daher kommt auch die paradox klingende Beschreibung, die Paulus von dem Leben der Christen macht, die einhergehen »als die Gezüchtigten und doch nicht ertötet, als die Traurigen aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen, als die nicht innehaben und doch alles haben.«

Selbst der Schmerz ist nicht nur schmerzhaft, denn einerseits ist er mit dem Leiden, andererseits mit dem Glück verknüpft. Das Leid ist von einem Gesichtspunkt aus ein Unglück, von dem anderen dagegen ein Erziehungsmittel. Ohne das Leid würde der beste Teil der menschlichen Natur in tiefem Schlafe liegen. Man kann fast sagen, daß Schmerz und Kummer für den Erfolg mancher Menschen unerläßlich und ein notwendiges Mittel ist, um ihr Genie zu seiner höchsten Ausbildung zu bringen.

Viele der besten und nützlichsten Werke, die Männer und Frauen je vollbrachten, sind inmitten schwerer Bedrängnis getan worden, entweder als ein Trost oder weil das Pflichtgefühl die persönliche Sorge überstieg. »Wenn ich nicht so kränklich gewesen wäre,« sagte Darwin zu einem Freunde, »hätte ich bei weitem nicht so viel geleistet, als ich so vollbringen konnte.«

Schiller schuf seine größten Dramen inmitten physischer Leiden, die sich oft zu unerträglichen Qualen steigerten. Händel war nie größer, als wenn er, durch Schlaganfälle von dem Nahen des Todes benachrichtigt und mit Not und Leiden kämpfte, sich niedersetzte, um die großen Werke zu komponieren, die seinen Namen unsterblich gemacht haben. Mozart komponierte seine großen Opern und zuletzt sein »Requiem«, als er von Schulden bedrückt war und mit einem tötlichen Leiden rang. Beethoven schuf seine größten Werke, als er schwermütig und fast taub war. Und der arme Schubert starb nach einem kurzen, wenn auch glänzenden Leben im Alter von zweiunddreißig Jahren; sein ganzer Nachlaß bestand aus seinen Manuskripten, den Kleidern, die er trug und dreiundsechzig Gulden Bargeld.

Gewinn und Erfolg an sich bedeuten noch nicht das Glück; es kommt sogar ziemlich häufig vor, daß ein Mensch mit den wenigsten Erfolgen im Leben am fröhlichsten ist. Keiner war erfolgreicher als Goethe – denn er besaß eine vorzügliche Gesundheit, Ehre, Macht und auch genug Güter dieser Welt – und doch bekannte er, daß er im Laufe seines Lebens nicht fünf Wochen reiner Freude gehabt hätte. Als der Kalif Abdalrahman seine fünfzigjährige erfolgreiche Regierung überschaute, fand er, daß er nur vierzehn Tage reinen und echten Glücks gehabt hatte. Darf man somit nicht sagen, daß das Streben nach vollkommenem Glück eine Illusion ist?

Der Weise lernt allmählich, nicht zuviel vom Leben zu erwarten. Während er auf würdige Weise um den Erfolg ringt, ist er auch auf Fehlschläge gefaßt. Er öffnet seinen Geist der Freude, aber er unterwirft sich auch geduldig dem Leid. Klagen und Jammern führt im Leben zu nichts; nur fortgesetztes und heiteres Arbeiten auf dem rechten Wege hat Wert.

Auch erwartet der Weise nicht zu viel von seiner Umgebung. Wenn er mit anderen in Frieden leben will, erträgt und entsagt er. Und auch die Besten haben bisweilen Charakterschwächen, die man teilnehmend ertragen und vielleicht bemitleiden muß. Wer ist vollkommen? Wer trägt nicht irgend einen Dorn in seinem Fleisch? Wer braucht nicht Duldsamkeit, Nachsicht und Vergebung? Was die arme gefangene Königin Karoline Mathilde von Dänemark an das Fenster ihrer Kapelle schrieb, sollte das Gebet aller sein: »O, erhalte mich unschuldig und mache andere groß!«

Wie sehr hängt ferner die Gemütsart eines Menschen von seiner Konstitution und seiner Umgebung in der Jugend ab, von der Behaglichkeit oder Öde in dem Haus, wo er erzogen wurde, von seinen ererbten Eigentümlichkeiten und dem guten oder bösen Beispiel, dem er im Leben ausgesetzt war! Die Beachtung alles dessen sollte allen Menschen Mitleid und Nachsicht lehren.

Indessen ist das Leben zum großen Teil immer das, wozu wir es machen. Jeder Geist baut sich seine eigene kleine Welt. Der Heitere macht sie fröhlich, der Unzufriedene elend. »Mein Geist ist mein Königreich,« ziemt dem Bauern wie dem König. Jener ist vielleicht im Herzen ein König, dieser ein Sklave. Das Leben ist größtenteils nur das Spiegelbild unseres individuellen Wesens. Unser Geist verleiht allen Situationen, allen Lebensstellungen, den hohen wie den niedrigen, ihren wahren Charakter. Dem Guten scheint die Welt gut, dem Schlechten schlecht. Wenn unsere Ansicht vom Leben veredelt ist, wenn mir es als eine Sphäre nützlicher Anstrengung, edlen Lebens und Denkens, des Arbeitens für das Wohl anderer wie des unsrigen ansehen, so scheint es uns fröhlich, hoffnungsvoll und gesegnet. Wenn wir es andererseits nur als eine Gelegenheit ansehen, unsere Selbstsucht, Vergnügungsliebe und Ruhmbegierde zu befriedigen, so finden wir es voller Mühe, Sorge und Enttäuschung.

Es gibt viel im Leben, das wir hier nicht begreifen können Es ist viel Geheimnisvolles darin. Vieles, das wir jetzt nur wie in einem trüben Lichte sehen. Aber wenn wir auch die volle Bedeutung der Prüfungen, die wir zu bestehen haben, nicht einsehen, so müssen wir doch an die Vollkommenheit des Ganzen glauben, von dem unser kleines Ich nur einen winzigen Teil bildet.

Wir müssen alle in der Lebenssphäre, die uns zugewiesen ist, unsere Pflicht erfüllen. Nur die Pflicht ist wahr. Es gibt keine Wahrheit ohne Pflichterfüllung. Die Pflicht ist das Ende und Ziel des besten Lebens, das echteste Vergnügen flieht aus dem Bewußtsein ihrer treuen Erfüllung. Diese Freude verleiht völlige Befriedigung und ist am wenigsten von Bedauern und Enttäuschung begleitet. Nach den Worten George Herberts ist das Bewußtsein der Pflichterfüllung »Musik bei mitternächtigem Wachen«. Und wenn wir unser Werk auf Erden getan haben – das Werk der Notwendigkeit, Arbeit, Liebe oder Pflicht – so gehen wir von hinnen, wie der Seidenwurm stirbt, nachdem er seinen Kokon gesponnen hat. Aber wie kurz unser Aufenthalt im Leben auch sein mag, es ist die uns angewiesene Sphäre, wo jeder nach besten Kräften das Ziel des Daseins zu erreichen suchen soll. Wenn das geschehen ist, so können die Leiden dieser Welt nur wenig die Unsterblichkeit trüben, deren wir am Ende teilhaftig werden sollen.

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