Menschen der alten und neuen Zeit

Wie ein Jeder von Uns sich entwickelte, was er erstrebte, erlangte oder verfehlte, welche Zwecke er einst verfolgte und an welchen Plänen und Wünschen sein Herz im Augenblicke hängt, welche Umwandlungen seine Ansichten, welche Erschütterungen seine Prinzipien erfuhren, kurz wie er heute geworden, was er gestern oder vor Jahren nicht war: das hebt er mit mehr oder minderer Leichtigkeit aus seiner Erinnerung wieder hervor und empfindet besonders dann recht lebhaft, welche Veränderungen in ihm selbst vorgegangen sind, wenn er das Abrollen eines fremden Lebens vor Augen hat.

Schauen Wir daher in das Treiben hinein, welches Unsere Voreltern verführten.

1. Die Alten

Da das Herkommen einmal Unseren vorchristlichen Ahnen den Namen der »Alten« beigelegt hat, so wollen Wir es ihnen nicht vorrücken, daß sie gegen Uns erfahrene Leute eigentlich die Kinder heißen müßten, und sie lieber nach wie vor als Unsere guten Alten ehren. Wie aber sind sie dazu gekommen zu veralten, und wer konnte sie durch seine vorgebliche Neuheit verdrängen?

Wir kennen den revolutionären Neuerer und respektlosen Erben wohl, der selbst den Sabbath der Väter entheiligte, um seinen Sonntag zu heiligen, und die Zeit in ihrem Laufe unterbrach, um bei sich mit einer neuen Zeitrechnung zu beginnen: Wir kennen ihn und wissen's, daß es der – Christ ist. Bleibt er aber ewig jung und ist er heute noch der neue, oder wird auch er antiquiert werden, wie er die »Alten« antiquiert hat? –

Es werden die Alten wohl selbst den Jungen erzeugt haben, der sie hinaustrug. Belauschen Wir denn diesen Zeugungsakt.

»Den Alten war die Welt eine Wahrheit«, sagt Feuerbach, aber er vergißt den wichtigen Zusatz zu machen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten, und endlich wirklich kamen. Was mit jenen Feuerbachschen Worten gesagt sein soll, wird man leicht erkennen, wenn man sie mit dem christlichen Satze von der »Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt« zusammenhält. Wie der Christ nämlich sich niemals von der Eitelkeit des göttlichen Wortes überzeugen kann, sondern an die ewige und unerschütterliche Wahrheit desselben glaubt, die, je mehr in ihren Tiefen geforscht werde, nur um so glänzender an den Tag kommen und triumphieren müsse: so lebten die Alten ihrerseits in dem Gefühle, daß die Welt und weltliche Verhältnisse (z. B. die natürlichen Blutsbande) das Wahre seien, vor dem ihr ohnmächtiges Ich sich beugen müsse. Gerade dasjenige, worauf die Alten den größten Wert legten, wird von den Christen als das Wertlose verworfen, und was jene als das Wahre erkannten, brandmarken diese als eitle Lüge: die hohe Bedeutung des Vaterlandes verschwindet, und der Christ muß sich für einen »Fremdling auf Erden« ansehen, die Heiligkeit der Totenbestattung, aus der ein Kunstwerk wie die sophokleische Antigone entsprang, wird als eine Erbärmlichkeit bezeichnet (»Laß die Toten ihre Toten begraben«), die unverbrüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahrheit dargestellt, von der man nicht zeitig genug sich losmachen könne, und so in Allem.

Sieht man nun ein, daß beiden Teilen das Umgekehrte für Wahrheit gilt, den Einen das Natürliche, den Andern das Geistige, den Einen die irdischen Dinge und Verhältnisse, den Andern die himmlischen (das himmlische Vaterland, »das Jerusalem, das droben ist« usw.), so bleibt immer noch zu betrachten, wie aus dem Altertum die neue Zeit und jene unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die Alten aber selbst darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer Lüge zu machen.

Greifen Wir sogleich mitten in die glänzendsten Jahre der Alten hinein, in das perikleische Jahrhundert. Damals griff die sophistische Zeitbildung um sich, und Griechenland trieb mit dem Kurzweile, was ihm seither ein ungeheurer Ernst gewesen war.

Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüttelten Bestehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen sollen, sich zu fühlen. Mit mutiger Keckheit sprechen daher die Sophisten das ermannende Wort aus: »Laß Dich nicht verblüffen!« und verbreiten die aufklärende Lehre: »Brauche gegen alles Deinen Verstand, Deinen Witz, Deinen Geist; mit einem guten und geübten Verstande kommt man am besten durch die Welt, bereitet sich das beste Los, das angenehmste Leben.« Sie erkennen also in dem Geiste die wahre Waffe des Menschen gegen die Welt. Darum halten sie so viel auf die dialektische Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputierkunst etc. Sie verkünden, daß der Geist gegen Alles zu brauchen ist; aber von der Heiligkeit des Geistes sind sie noch weit entfernt, denn er gilt ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern List und Trotz dazu dient: ihr Geist ist der unbestechliche Verstand.

Heutzutage würde man das eine einseitige Verstandesbildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht bloß Euren Verstand, sondern besonders auch Euer Herz. Dasselbe tat Sokrates. Wurde nämlich das Herz von seinen natürlichen Trieben nicht frei, sondern blieb es vom zufälligsten Inhalt erfüllt und als eine unkritisierte Begehrlichkeit ganz in der Gewalt der Dinge, d. h. nichts als ein Gefäß der verschiedensten Gelüste, so konnte es nicht fehlen, daß der freie Verstand dem »schlechten Herzen« dienen mußte und alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.

Darum sagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in allen Dingen seinen Verstand gebrauche, sondern es komme darauf an, für welche Sache man ihn anstrenge. Wir würden jetzt sagen: Man müsse der »guten Sache« dienen. Der guten Sache dienen, heißt aber – sittlich sein. Daher ist Sokrates der Gründer der Ethik.

Allerdings mußte das Prinzip der Sophistik dahin führen, daß der unselbständigste und blindeste Sklave seiner Begierden doch ein trefflicher Sophist sein und mit Verstandesschärfe alles zu Gunsten seines rohen Herzens auslegen und zustutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür sich nicht ein »guter Grund« auffinden, und was sich nicht durchfechten ließe?

Darum sagt Sokrates: Ihr müßt »reinen Herzens sein«, wenn man eure Klugheit achten soll. Von hier ab beginnt die zweite Periode griechischer Geistesbefreiung, die Periode der Herzensreinheit. Die erste nämlich kam durch die Sophisten zum Schluß, indem sie die Verstandesallmacht proklamierten. Aber das Herz blieb weltlich gesinnt, blieb ein Knecht der Welt, stets affiziert durch weltliche Wünsche. Dies rohe Herz sollte von nun an gebildet werden: die Zeit der Herzensbildung. Wie aber soll das Herz gebildet werden? Was der Verstand, diese eine Seite des Geistes, erreicht hat, die Fähigkeit nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu spielen, das steht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß vor ihm zu Schanden werden, so daß zuletzt Familie, Gemeinwesen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d. h. der Seligkeit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.

Alltägliche Erfahrung bestätigt es, daß der Verstand längst einer Sache entsagt haben kann, wenn das Herz noch viele Jahre für sie schlägt. So war auch der sophistische Verstand über die herrschenden, alten Mächte so weit Herr geworden, daß sie nur noch aus dem Herzen, worin sie unbelästigt hausten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menschen gar kein Teil mehr zu haben.

Dieser Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht seinen Friedensschluß erst am Todestage der alten Welt.

Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren Anfang, und aller Inhalt des Herzens wird gesichtet. In ihren letzten und äußersten Anstrengungen warfen die Alten allen Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts mehr schlagen: dies war die Tat der Skeptiker. Dieselbe Reinheit des Herzens wurde nun in der skeptischen Zeit errungen, welche in der sophistischen dem Verstande herzustellen gelungen war.

Die sophistische Bildung hat bewirkt, daß Einem der Verstand vor nichts mehr still steht, und die skeptische, daß das Herz von nichts mehr bewegt wird.

Solange der Mensch in das Weltgetriebe verwickelt und durch Beziehungen zur Welt befangen ist – und er ist es bis ans Ende des Altertums, weil sein Herz immer noch um die Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat – solange ist er noch nicht Geist; denn der Geist ist körperlos und hat keine Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn existiert nicht die Welt, nicht natürliche Bande, sondern nur Geistiges und geistige Bande. Darum mußte der Mensch erst so völlig rücksichtslos und unbekümmert, so ganz beziehungslos werden, wie ihn die skeptische Bildung darstellt, so ganz gleichgültig gegen die Welt, daß ihn ihr Einsturz selbst nicht rührte, ehe er sich als weltlos, d. h. als Geist fühlen konnte. Und dies ist das Resultat von der Riesenarbeit der Alten, daß der Mensch sich als beziehungs- und weltloses Wesen, als Geist weiß.

Nun erst, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlassen hat, ist er sich Alles in Allem, ist nur für sich, d. h. ist Geist für den Geist, oder deutlicher: bekümmert sich nur um das Geistige.

In der christlichen Schlangenklugheit und Taubenunschuld sind die beiden Seiten der antiken Geistesbefreiung, Verstand und Herz so vollendet, daß sie wieder jung und neu erscheinen, das eine und das andere sich nicht mehr durch das Weltliche, Natürliche verblüffen lassen.

Zum Geiste also schwangen sich die Alten auf und geistig strebten sie zu werden. Es wird aber ein Mensch, der als Geist tätig sein will, zu ganz anderen Aufgaben hingezogen, als er sich vorher zu stellen vermochte, zu Aufgaben, welche wirklich dem Geiste und nicht dem bloßen Sinne oder Scharfsinn zu tun geben, der sich nur anstrengt, der Dinge Herr zu werden. Einzig um das Geistige bemüht sich der Geist, und in Allem sucht er die »Spuren des Geistes« auf: dem gläubigen Geiste »kommt alles von Gott« und interessiert ihn nur insofern, als es diese Abkunft offenbart; dem philosophischen Geiste erscheint alles mit dem Stempel der Vernunft und interessiert ihn nur so weit, als er Vernunft, d. h. geistigen Inhalt, darin zu entdecken vermag.

Nicht den Geist also, der es schlechterdings mit nichts Ungeistigem, mit keinem Dinge, sondern allein mit dem Wesen, welches hinter und über den Dingen existiert, mit den Gedanken zu tun hat, nicht ihn strengten die Alten an, denn sie hatten ihn noch nicht; nein, nach ihm rangen und sehnten sie sich erst und schärften ihn deshalb gegen ihren übermächtigen Feind, die Sinnenwelt (was wäre aber für sie nicht sinnlich gewesen, da Jehova oder die Götter der Heiden noch weit von dem Begriffe »Gott ist Geist« entfernt waren, da an die Stelle des sinnlichen Vaterlandes noch nicht das »himmlische« getreten war usw.?), sie schärften gegen die Sinnenwelt den Sinn, den Scharfsinn. Noch heute sind die Juden, diese altklugen Kinder des Altertums, nicht weiter gekommen, und können bei aller Subtilität und Stärke der Klugheit und des Verstandes, der der Dinge mit leichter Mühe Herr wird, und sie, ihm zu dienen, zwingt, den Geist nicht finden, der sich aus den Dingen gar nichts macht.

Der Christ hat geistige Interessen, weil er sich erlaubt ein geistiger Mensch zu sein; der Jude versteht diese Interessen in ihrer Reinheit nicht einmal, weil er sich nicht erlaubt, den Dingen keinen Wert beizulegen. Zur reinen Geistigkeit gelangt er nicht, einer Geistigkeit, wie sie religiös z. B. in dem allein d. h. ohne Werke rechtfertigenden Glauben der Christen ausgedrückt ist. Ihre Geistlosigkeit entfernt die Juden auf immer von den Christen; denn dem Geistlosen ist der Geistige unverständlich, wie dem Geistigen der Geistlose verächtlich ist. Die Juden haben aber nur den »Geist dieser Welt«.

Der antike Scharfsinn und Tiefsinn liegt so weit vom Geiste und der Geistigkeit der christlichen Welt entfernt, wie die Erde vom Himmel.

Von den Dingen dieser Welt wird, wer sich als freien Geist fühlt, nicht gedrückt und geängstigt, weil er sie nicht achtet; soll man ihre Last noch empfinden, so muß man borniert genug sein, auf sie Gewicht zu legen, wozu augenscheinlich gehört, daß es einem noch um das »liebe Leben« zu tun sei. Wem alles darauf ankommt, sich als freier Geist zu wissen und zu rühren, der fragt wenig darnach, wie kümmerlich es ihm dabei ergehe, und denkt überhaupt nicht darüber nach, wie er seine Einrichtungen zu treffen habe, um recht frei oder genußreich zu leben. Die Unbequemlichkeiten des von den Dingen abhängigen Lebens stören ihn nicht, weil er nur geistig und von Geistesnahrung lebt, im Übrigen aber, ohne es kaum zu wissen, nur frißt oder verschlingt, und wenn ihm der Fraß ausgeht, zwar körperlich stirbt, als Geist aber sich unsterblich weiß und unter einer Andacht oder einem Gedanken die Augen schließt. Sein Leben ist Beschäftigung mit Geistigem, ist – Denken, das Übrige schiert ihn nicht; mag er sich mit Geistigem beschäftigen, wie er immer kann und will, in Andacht, in Betrachtung oder in philosophischer Erkenntnis, immer ist das Tun ein Denken, und darum konnte Cartesius, dem dies endlich ganz klar geworden war, den Satz aufstellen: »Ich denke, das heißt: – Ich bin.« Mein Denken, heißt es da, ist Mein Sein oder Mein Leben; nur wenn Ich geistig lebe, lebe Ich; nur als Geist bin Ich wirklich oder – Ich bin durch und durch Geist und nichts als Geist. Der unglückliche Peter Schlemihl, der seinen Schatten verloren hat, ist das Portrait jenes zu Geist gewordenen Menschen: denn des Geistes Körper ist schattenlos. – Dagegen wie anders bei den Alten! Wie stark und männlich sie auch gegen die Gewalt der Dinge sich betragen mochten, die Gewalt selbst mußten sie doch anerkennen, und weiter brachten sie es nicht, als daß sie ihr Leben gegen jene so gut als möglich schützten. Spät erst erkannten sie, daß ihr »wahres Leben« nicht das im Kampfe gegen die Dinge der Welt geführte, sondern das »geistige«, von diesen Dingen »abgewandte« sei, und als sie dies einsahen, da wurden sie – Christen, d. h. die »Neuen« und Neuerer gegen die Alten. Das von den Dingen abgewandte, das geistige Leben, zieht aber keine Nahrung mehr aus der Natur, sondern »lebt nur von Gedanken«, und ist deshalb nicht mehr »Leben«, sondern – Denken.

Nun muß man jedoch nicht glauben, die Alten seien gedankenlos gewesen, wie man ja auch den geistigsten Menschen sich nicht so vorstellen darf, als könnte er leblos sein. Vielmehr hatten sie über alles, über die Welt, den Menschen, die Götter usw. ihre Gedanken, und bewiesen sich eifrig tätig, alles dies sich zum Bewußtsein zu bringen. Allein den Gedanken kannten sie nicht, wenn sie auch an allerlei dachten und »sich mit ihren Gedanken plagten«. Man vergleiche ihnen gegenüber den christlichen Spruch: »Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken, und so viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch Meine Gedanken höher, denn Eure Gedanken,« und erinnere sich dessen, was oben über Unsere Kindergedanken gesagt wurde.

Was sucht also das Altertum? Den wahren Lebensgenuß, Genuß des Lebens! Am Ende wird es auf das »wahre Leben« hinauskommen.

Der griechische Dichter Simonides singt: »Gesundheit ist das edelste Gut dem sterblichen Menschen, das Nächste nach diesem ist Schönheit, das dritte Reichtum ohne Tücke erlanget, das vierte geselliger Freuden Genuß in junger Freunde Gesellschaft.« Das sind alles Lebensgüter, Lebensfreuden. Wonach anders suchte Diogenes von Sinope, als nach dem wahren Lebensgenuß, den er in der möglichst geringen Bedürftigkeit entdeckte? Wonach anders Aristipp, der ihn im heiteren Mute unter allen Lagen fand? Sie suchen den heitern, ungetrübten Lebensmut, die Heiterkeit, sie suchen »guter Dinge zu sein«.

Die Stoiker wollen den Weisen verwirklichen, den Mann der Lebensweisheit, den Mann, der zu leben weiß, also ein weises Leben; sie finden ihn in der Verachtung der Welt, in einem Leben ohne Lebensentwickelung, ohne Ausbreitung, ohne freundliches Vernehmen mit der Welt, d. h. im isolierten Leben, im Leben als Leben, nicht im Mitleben: nur der Stoiker lebt, alles Andere ist für ihn tot. Umgekehrt verlangen die Epikureer ein bewegliches Leben.

Die Alten verlangen, da sie guter Dinge sein wollen, nach Wohlleben (die Juden besonders nach einem langen, mit Kindern und Gütern gesegneten Leben), nach der Eudämonie, dem Wohlsein in den verschiedensten Formen. Demokrit z. B. rühmt als solches die »Gemütsruhe«, in der sich's »sanft lebe, ohne Furcht und ohne Aufregung«.

Er meint also, mit ihr fahre er am besten, bereite sich das beste Los und komme am besten durch die Welt. Da er aber von der Welt nicht loskommen kann, und zwar gerade aus dem Grunde es nicht kann, weil seine ganze Tätigkeit in dem Bemühen aufgeht, von ihr loszukommen, also im Abstoßen der Welt (wozu doch notwendig die abstoßbare und abgestoßene bestehen bleiben muß, widrigenfalls nichts mehr abzustoßen wäre): so erreicht er höchstens einen äußersten Grad der Befreiung, und unterscheidet sich von den weniger Befreiten nur dem Grade nach. Käme er selbst bis zur irdischen Sinnenertötung, die nur noch das eintönige Wispern des Wortes »Brahm« zuläßt, er unterschiede sich dennoch nicht wesentlich vom sinnlichen Menschen.

Selbst die stoische Haltung und Mannestugend läuft nur darauf hinaus, daß man sich gegen die Welt zu erhalten und zu behaupten habe, und die Ethik der Stoiker (ihre einzige Wissenschaft, da sie nichts von dem Geiste auszusagen wußten, als wie er sich zur Welt verhalten solle, und von der Natur [Physik] nur dies, daß der Weise sich gegen sie zu behaupten habe) ist nicht eine Lehre des Geistes, sondern nur eine Lehre der Weltabstoßung und Selbstbehauptung gegen die Welt. Und diese besteht in der »Unerschütterlichkeit und dem Gleichmute des Lebens«, also in der ausdrücklichsten Römertugend.

Weiter als zu dieser Lebensweisheit brachten es auch die Römer nicht (Horaz, Cicero usw.).

Das Wohlergehen (Hedone) der Epikureer ist dieselbe Lebensweisheit wie die der Stoiker, nur listiger, betrügerischer. Sie lehren nur ein anderes Verhalten gegen die Welt, ermahnen nur eine kluge Haltung gegen die Welt sich zu geben: die Welt muß betrogen werden, denn sie ist meine Feindin.

Vollständig wird der Bruch mit der Welt von den Skeptikern vollführt. Meine ganze Beziehung zur Welt ist »wert- und wahrheitslos«. Timon sagt: »die Empfindungen und Gedanken, welche wir aus der Welt schöpfen, enthalten keine Wahrheit.« »Was ist Wahrheit!« ruft Pilatus aus. Die Welt ist nach Pyrrhon's Lehre weder gut noch schlecht, weder schön noch häßlich usw., sondern dies sind Prädikate, welche Ich ihr gebe. Timon sagt: »An sich sei weder etwas gut noch sei es schlecht, sondern der Mensch denke sich's nur so oder so«; der Welt gegenüber bleibe nur die Ataraxie (die Ungerührtheit) und Aphasie (das Verstummen – oder mit andern Worten: die isolierte Innerlichkeit) übrig. In der Welt sei »keine Wahrheit mehr zu erkennen«, die Dinge widersprechen sich, die Gedanken über die Dinge seien unterschiedslos (gut und schlecht seien einerlei, so daß, was der Eine gut nennt, ein Anderer schlecht findet); da sei es mit der Erkenntnis der »Wahrheit« aus, und nur der erkenntnislose Mensch, der Mensch, welcher an der Welt nichts zu erkennen findet, bleibe übrig, und dieser Mensch lasse die wahrheitsleere Welt eben stehen und mache sich nichts aus ihr.

So wird das Altertum mit der Welt der Dinge, der Weltordnung, dem Weltganzen fertig; zur Weltordnung oder den Dingen dieser Welt gehört aber nicht etwa nur die Natur, sondern alle Verhältnisse, in welche der Mensch durch die Natur sich gestellt sieht, z. B. die Familie, das Gemeinwesen, kurz die sogenannten »natürlichen Bande«. Mit der Welt des Geistes beginnt dann das Christentum. Der Mensch, welcher der Welt noch gewappnet gegenüber steht, ist der Alte, der – Heide (wozu auch der Jude als Nichtchrist gehört); der Mensch, welchen nichts mehr leitet als seine »Herzenslust«, seine Teilnahme, Mitgefühl, sein – Geist, ist der Neue, der – Christ.

Da die Alten auf die Weltüberwindung hinarbeiteten und den Menschen von den schweren umstrickenden Banden des Zusammenhanges mit Anderem zu erlösen strebten, so kamen sie auch zuletzt zur Auflösung des Staates und Bevorzugung alles Privaten. Gemeinwesen, Familie usw. sind ja als natürliche Verhältnisse lästige Hemmungen, die meine geistige Freiheit schmälern.

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