Georg Simmel

Sozialismus und Pessimismus

Die Lebensauffassung der Philosophen, die von der der großen Massen so vielfach abweicht, pflegt mit ihr doch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt gemein zu haben - beides in dem Problem beschlossen, das Schiller als die Wahl »zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden« formuliert.

Alles, was das Leben an Aufforderungen zum Handeln, als Möglichkeiten der äußerlichsten wie der innerlichsten Entscheidungen an uns heranbringt, steht - so ist die allgemeine Meinung - vor der Alternative, entweder dem eigenen Glück des Handelnden oder der Erfüllung seiner sittlichen Pflicht zu dienen.

An diesen beiden haben wir das ganze Material des handelnden Daseins, die Grundmotive, auf die schließlich alle anderen zurückführbar sind.

Eben darum kommt es zu einer Befriedigung und inneren Versöhntheit des Lebens nur da, wo beiden Antrieben gleichmäßig genügt ist - nicht nur, weil die Unbefriedigtheit eines jeden für sich ausreichen würde, unser Gefühl von uns selbst unabsehbar herabzusetzen, sondern weil, darüber hinaus, die Disharmonie dieser letzten Instanzen unseres Daseins, die Verfehlung des einen, wenn man dem anderen genügen will, einen unversöhnlichen Riss durch das ganze Bild des Lebens ergeben muss.

Alle Moralphilosophen, von Sokrates an, haben deshalb ihr ganzes Bemühen an den Nachweis gesetzt, dass zwischen der sittlichen Forderung und der des persönlichen Glückes ein eigentlicher Widerstreit überhaupt nicht bestehen könne.

Wenn Sokrates lehrt: Niemand sei freiwillig böse, es sei nur ein theoretischer Irrtum, unsittlich zu sein, der Wissende sei auch immer sittlich - so kann diese wunderliche These sich nur auf die unbefangene Voraussetzung gründen, dass Tugend und Glückseligkeit zusammenfallen; denn wenn dies, und nur wenn dies der Fall ist, wenn in jeder Situation eine und dieselbe Handlung die Forderung der Pflicht und die des Eigeninteresses befriedigt - dann freilich kann nur Verblendung, nur mangelnde Kenntnis dieser Handlung uns an ihr vorbeiführen; das Sittliche nicht zu tun, ist freilich bloße Torheit, wenn es doch zugleich dem subjektiven, dem Glücksinteresse des Handelnden genügt.

Trotz des tausendfachen Auseinanderfallens von Tugend und Glück, das natürlich auch das griechische Leben zeigte, lag dennoch dem Griechen jener naive Glaube an ihre Einheit näher als uns.

Die Tugend war ihm im wesentlichen die politische, die Wirksamkeit für das Wohl und die Macht seines Staates.

Und diese griechischen Staaten waren klein genug, um den Anteil an Sicherheit, Ruhm, Reichtum, unmittelbar erkennen zu lassen, den die Förderung des Ganzen dem Einzelnen zurückgewährte.

Je kleiner und einfacher gebaut ein Gemeinwesen ist, je solidarischer es deshalb mit seinen einzelnen Bestandteilen ist, desto eher wird alles, was der Gesamtheit zugute kommt, auch den Interessen des Individuums dienen.

Das aber heißt nichts anderes, als dass das pflichtmäßige Handeln auch das glückfördernde ist.

Die Erweiterung des gesellschaftlichen Kreises nun stellt den Einzelnen in eine immer größere und deshalb von dem Zentrum immer weiter abliegende Peripherie, sie zerspaltet die Interessengemeinschaft, die zwischen dem, was die Gesellschaft an Pflicht fordert, und dem, was sie an Glück gewährt, eine unmittelbare Einheit ermöglichte.

Und das Problem dieser Disharmonie wird schwerer und beängstigender durch die Wendung in das Subjektivere, Persönlichere, Innerlichere, die die seelische Entwicklung seit dem Altertum genommen hat.

Was unser Glück ist und was unsere Pflicht ist, wird immer weniger von äußeren Instanzen abhängig, immer weniger von allgemeinen Normen bestimmt.

Um so unzulänglicher erscheint aber gerade deshalb die Kraft des Individuums, von sich aus die Harmonie beider zu erringen; der Glücksertrag, den die Verwehung unseres so individuellen Seins mit unseren Schicksalen und den äußeren Mächten ergibt, verhält sich um so zufälliger, ja gegensätzlicher zu dem Maß der Sittlichkeit, das wir aufbringen können.

Um so verpflichteter aber fühlt sich das philosophische Denken, es dabei nicht bewenden zu lassen; es wiederholt vielmehr in seiner Sphäre den mehr oder weniger gedankenlosen Optimismus, mit dem der durchschnittliche Mensch doch an einer Harmonie jener Grundbedürfnisse des Daseins festhält - sei es, dass für ihn »ehrlich am längsten währt«, sei es in dem Glauben, dass sich jede Schuld irgendwie rächt, sei es, dass ein jenseitiger Richter für die Ausgleichung von Verdienst und Glück sorge.

Nicht viel kritischer pflegt auch die Moralphilosophie zu behaupten, dass die Tugend der sicherste Weg zum Glück sei, oder dass beides die Seiten einer und derselben inneren Wirklichkeit seien; oder dass, wie Spinoza sich ausdrückt, die Glückseligkeit nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst sei.

Selbst pessimistische Lehren, die alles positive Glück für unerreichbar ausgeben, pflegen doch zu erklären, dass mit dem Gehorsam gegen ihre sittlichen Ideale wenigstens die Last des Lebens am erträglichsten, die Summe des Leidens die kleinste wäre.

Ja, man kann sagen, dass der Nachweis der innerlich notwendigen Zusammengehörigkeit von Sittlichkeit und Glück das eine große Ziel aller Moralphilosophie ausgemacht habe.

Aber mehr vielleicht als sonst irgendwo - etwa mit Ausnahme der Beweise theologischer Dogmen -fühlt man diesen Bemühungen an, dass hier keine von Vorurteil freie Untersuchung geführt wird, sondern ein siegessicheres Herzensbedürfnis das Ergebnis von vornherein festgelegt hat.

Der ganzen Reihe dieser Versöhnungsversuche nun steht Kant mit ganz einsamer Gegensätzlichkeit gegenüber: er verneint jegliche notwendige, erweisbare, innerliche Verbindung zwischen Sittlichkeit und persönlichem Glück.

Wir gelangen nicht zur Tugend, indem wir das Glück suchen - und damit richtet er jenen weitverbreiteten Glauben, dass die Tugend nichts anderes sei, als das richtig verstandene Eigeninteresse, als ob das dauernde, tiefe, das allein nicht zu teuer erkaufte Glück nur um den Preis des sittlichen Verhaltens zu gewinnen sei.

Und ebenso wenig liegt das Glück notwendig auf dem Wege zur Tugend - und damit widerspricht er all den wohlwollenden einschläfernden Theorien, die jeder guten Tat ihren Lohn, wenn nicht äußeren, so doch inneren, jeder bösen ihre Strafe, wenn nicht materiale, so doch religiöse, sichern wollen.

Das Glück vielmehr, so meint er, hängt von äußeren Chancen und ihrer geschickten Benutzung ab, und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, von den inneren Chancen des Temperamentes und des Lebensgefühles.

Glück und Leid sind zufällige Verhältnisse zwischen den Bedürfnissen des Subjekts und der Unberechenbarkeit seiner sozialen, physischen, seelischen Schicksale; sie gerade von dem sittlichen Verhalten des Menschen abhängig zu machen, ist weder logisch noch durch die Erfahrung gerechtfertigt.

Es sind Elemente unseres Wesens, die miteinander so wenig prinzipiell verbunden sind, wie unsere Haarfarbe mit unserer musikalischen Begabung.

Um die ganze Größe dieser so einfach erscheinenden Behauptung zu fühlen, muss man sich das leidenschaftliche Interesse vor Augen halten, das sich für den Moralphilosophen, und für Kant vielleicht mehr als für alle anderen, an die Einheit und Versöhnung dieser Ideale knüpft.

Sie sind ihm die Pole alles wirklich gelebten Lebens, die eigentlichen und letzten Themata, die das ethische Denken bewegen.

An ihrer Einung hängt deshalb die Harmonie, die Abrundung, der innere Zusammenhang der Seele und ihrer Welt.

Auf Kosten des teuersten Ideales also geschah es, dass er den Faden zwischen jenen beiden zerschnitt, an dem die ganze Moralphilosophie gesponnen hatte; erst wenn man die Höhe dieses Preises schätzen kann, wird man den ungeheueren Mut, die Überzeugungstiefe, die rücksichtslose - auch gegen sich selbst rücksichtslose Wahrheitsliebe begreifen, die in seinen kühlen, sachlichen, abstrakten Sätzen von der Zusammenhangslosigkeit von Glück und Tugend pulsiert.

Er, der selbst erklärte, Sittlichkeit sei nichts, als die Würdigkeit, glücklich zu sein, erkennt an, dass innerhalb der bestehenden Weltordnung diese Würdigkeit eine bloß platonische bleibe, dass sie den Wechsel nicht honoriere, den unsere innersten Bedürfnisse, die Harmonie von Tugend und Glück, die Gerechtigkeit von Lohn und Strafe fordernd, auf sie ziehen.

Die tiefe Glückssehnsucht, im Mittelalter mystisch-religiös verpuppt, hatten die höchsten Kunstleistungen der Renaissance erfüllt: aber doch nur wie in einem Gleichnis und durch die Umbildung in das Ästhetische.

Den modernen Menschen treibt sie als ein begrifflich bewusstes Verlangen, von dem man nicht weiß, ob es durch seine Versagtheiten oder durch seine gelegentlichen Erfüllungen zu umfassenderen und leidenschaftlicheren Forderungen aufgeregt wird.

Niemand wusste dies besser als Kant: ja, mit einer nicht gerechtfertigten, beinahe grausamen Einseitigkeit, hat er alle Werte und Bedeutsamkeiten unseres subjektiven Willenslebens, die nicht direkt sittlicher Art sind, unbedingt in den einzigen Begriff des Glücksinteresses eingeordnet.

Und mit der gleichen Energie und der gleichen Einseitigkeit reduziert er alles, was man als die objektiven Werte des Lebens bezeichnen kann, auf den einzigen Begriff Sittlichkeit.

Indem er nun beide als einander wesensfremd erkennt, hat er durch die Welt der Ideale einen Riss gelegt, der mitten durch das menschliche Herz hindurchgeht.

Damit ist das Leben von Grund auf in eine neue Position gebracht; die zwei Strömungen, die seinen ganzen inneren Lauf ausmachen: was es will und was es soll - gehen von verschiedenen Ausgangspunkten zu verschiedenen Zielen und keine unterirdische Quelle entlässt sie mit der Hoffnung, wiederum gemeinsam zu münden.

So müssen wir uns mit einer unbarmherzigen Zweiheit abfinden, zugleich auf zwei Wegen gehen, von denen wir sonst geheim gehofft hatten, jeder von ihnen führe auf das Ziel, das der andere bezeichnet.

Damit ist eine neue Reinheit des Denkens erreicht, in der sich eine unvergleichlich gewissenhafte Klarheit des Fühlens spiegelt.

Freilich ist nun der Sittlichkeit die Stütze entzogen, die sie an der Hoffnung eines früher oder später eintretenden Lohnes besaß; dem Streben nach Glück die Rechtfertigung, die es aus seiner Verbindung mit der Moral zog.

Es steht jetzt auf sich allein und muss von seinen eigenen Gnaden bestehen. Das Leben verlangt auf dieser Basis der Selbstherrlichkeit seiner wesentlichen Prinzipien ein ganz anderes Maß von Kraft und Mut, als da eines noch am anderen, wie in einem circulus vitiosus einen trügerischen Halt fand.

Die Verselbständigung der einzelnen Triebe, in der sich die Entwicklungshöhe der menschlichen Organisation überhaupt kundgibt, hat hiermit die tiefsten Wurzeln unsrer Existenz ergriffen, das Freiheitsbedürfnis des modernen Menschen ist gleichsam in die Elemente seines Wesens hinabgestiegen und hat jedem die Unabhängigkeit von dem anderen gesichert.

Aber es ist wirklich die gegenseitige Unabhängigkeit dieser Strömungen des tiefsten Lebens, die hier gelehrt wird.

Es ist nicht etwa ein Gegensatz zwischen ihnen, der jenen unklaren oder gewaltsamen Optimismus in eine pessimistische Ordnung verkehrte, als ob es nun das notwendige Los des Edlen sei, auf Glück zu verzichten, als ob Glück nie anders als um den Preis der Unsittlichkeit zu erreichen sei, als ob die grundsätzliche Ordnung der irdischen Dinge auf den Triumph des Bösen ausgehe.

Es gibt religiöse und zynische, melancholische und satanistische Weltbilder, die ein derartiges konträres Verhältnis zwischen den Werten des Glücks und denen der Sittlichkeit vertreten.

Nichts aber liegt Kant ferner, als ein Pessimismus, der die Selbständigkeit jener Wesenstendenzen, soeben dem Optimismus unter Preisgabe der tiefsten Herzenswünsche abgerungen, von neuem in eine gegenseitige Verursachung, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, überführte.

Wenn die Tugend keine Anweisung auf einen Glückserfolg gibt, so muss doch auch das Laster abwarten, ob die Verkettung der äußeren und die Entwicklung der inneren Schicksale ihm einen solchen gewähren.

Die Souveränität des sittlichen Gebietes und die des Empfindungsgebietes wäre nicht weniger erschüttert, wenn die Sittlichkeit notwendig in Leiden und Entsagung auslaufen müsste, als wenn der gefährliche Reiz eines sicheren Glückserfolges ihr einen ihr selbst nicht entstrahlenden Schimmer liehe.

Der letzte Grund aber, der Kant zu dieser Scheidung trieb, war die Überzeugung, dass die Tatsache der sittlichen Pflicht uns in eine übersinnliche Ordnung hebt, oder vielmehr: dass sie eine mehr als sinnliche Energie als den Kern unseres Wesens erweist.

Die unbezweifelte Fähigkeit des Menschen, entgegen allem Egoismus und allen persönlichen Neigungen, entgegen aller Selbsterhaltung und allen Instinkten dem Pflichtgebot zu gehorchen, lässt uns mit einem Teile unseres Wesens über das, was man »Natur« zu nennen pflegt, hinausreichen.

Und eben diesen Teil, so gering er im Verhältnis zu unserer gesamten Existenz sei, so sehr er oft in einer bloßen unverwirklichten Forderung und Möglichkeit bestehen mag, empfinden wir doch als den wesentlichsten Wert unserer Existenz, ohne den alles andere Tun und Besitzen nichtig und für unser innerstes Selbstgefühl bedeutungslos ist.

Ja die Sittlichkeit ist der Wert, der allein dem freien Menschen eigentümlich ist: denn es ist der einzige, den wir uns selbst geben können.

Während alle anderen Güter und Bedeutsamkeiten des Lebens von der Gunst der Natur und der äußeren oder inneren Schicksale abhängen, liegt die Erfüllung der Pflicht ausschließlich in unserer Hand; hier und nur hier ist zugleich mit der Bindung an alles äußere Dasein auch alle Abschiebung der Verantwortlichkeit aufgehoben.

Es gehört zu den Triumphen der menschlichen Wesensart, dass der höchste Wertpunkt in uns zugleich das Eigenste, Persönlichste, Zentralste unserer Existenz ist: wir sind nur da ganz wir selbst, wo wir zugleich am wertvollsten sind, und umgekehrt: unser Dasein gewinnt sein Wertmaximum nur unter der Bedingung, dass sein ganzes Handeln der Ausdruck seiner eigensten Innerlichkeit sei und völlig frei von allem, was nicht wir selbst sind.

Es ist die unsterbliche Tat Kants, diesen keineswegs selbstverständlichen Zusammenhang zwischen dem Werte unseres Daseins und seiner für sich selbst verantwortlichen Freiheit aufgedeckt zu haben.

Hier aber liegt das eigentliche Motiv, das die gegenseitige Unabhängigkeit von Sittlichkeit und Glück erfordert.

Wäre unser sittliches Tun nur ein Umweg zum Glück, so zeigte sich damit der Punkt unserer Freiheit doch wieder in die Abhängigkeit von den Mächten des Daseins außer uns verflochten, ohne deren Gunst kein Glück vollkommen sein kann.

Die Souveränität des Ich gegenüber allen Außenwerken des Lebens - der kostbarste Besitz des modernen Bewusstseins, das Minimum und zugleich Maximum seiner »Freiheit« - wäre vernichtet, wenn die Sittlichkeit nur ein Mittel zum Glück wäre; denn sie ist der Ort und Träger unserer Freiheit, ihr Sinn liegt in der Selbstverantwortlichkeit, weil sie allein aus der Quelle unseres Ich genährt wird; sie in eine Glückseligkeit münden zu lassen, die immer eine Passivität und Abhängigkeit des Gefühles bedeutet, hieße den einzigen Freiheitswert, den der Zwang der Dinge uns nicht rauben kann, in die Botmäßigkeit einer von unserem Willen unabhängigen Empfindung geben, die über uns kommt, wie Regen und Sonnenschein.

Wie es das Bedürfnis nach der Selbständigkeit unserer wesentlichen Triebe war, das Kant die alten, trügerischen Verbindungen von Pflicht und Glück zerschneiden ließ, so enthüllt sich nun die Unbarmherzigkeit dieser Trennung als die Bedingung jener Freiheit des ganzen Menschen, die mit dem unbedingten und innerlichen Werte seiner Existenz zusammenfällt.

 

aus: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Hrsg. Max Henning, 3. Jahrgang, Nr. 14 vom Oktober 1903, pp. 548-553. (Frankfurt am Main)

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