Die phallischen Riten

Bis auf heute hat sich in der ländlichen Umgebung Hannovers ein um Pfingsten aufgeführtes Maskenspiel erhalten. Der Hedemöpel, Dämon der dürren winterlichen Heide, führt mit seinem Gegner, einem Laubfrosch, dem Dämon der Feuchte und Fruchtbarkeit, ein Streitspiel auf, das um die Greitje geht, eine weibliche Gestalt, die für die Erde oder das Lebendige figuriert. Nach vielem Streit und groteskem Geprügel gewinnt der Laubfrosch die Greitje und führt mit ihr einen Tanz auf, dessen Charakter wohl charakterisiert, daß der Laubfrosch mit einem mächtigen Phallus ausgestattet ist. F. von Reitzenstein vermutet in diesem alljährlichen Maskenfest einen phallischen Ritus, wie er von den antiken Völkern des Mittelmeerbeckens, Ägyptern, Phöniziern, Griechen, Römern überliefert ist, wie ihn die alten amerikanischen Kulturen übten und wie er heute noch Brauch ist bei einigen zentralamerikanischen Indianerstämmen.

Dem ersten Dionysoskult, wie er aus Thrakien nach Griechenland kam, fehlt das phallische Moment durchaus, denn er war als ein Totenkult die im ekstatischen von Musik und Tanz und Geschrei begleiteten Rasen versuchte und erwirkte Vereinigung der vom Leiblichen erlösten Seele mit der Gottheit: dieser Kult war Absage an das Leben durch Eingang in den heiligen Wahnsinn, wie ihn die Sufis und die tanzenden Derwische übten, wie ihn periodisch wiederkehrend jene Raserei zeigt, die im Mittelalter als Spring- und Tanzwut ganze Völker ergreift.

Unter dem Einfluß der umwälzenden dorischen Wanderung kommt der dionysische Totenkult und dessen Raserei unter das beruhigende apollinische Gebot. Es entstehen die Ventile der Tragödie und des Satyrspieles, worin es der Schauspieler auf sich nimmt, verwandelt zu rasen. Es entstehen an den dionysischen alten Kultstätten die apollinischen Orakel, wo es eine Priesterin ist, die allein den heiligen Wahnsinn der Vereinigtheit mit der Gottheit auf sich nimmt. Und was von nun ab als Dionysien, Elephobolien, Pamylien, Bacchen gefeiert wurde, war festliche Begehung von Winterende und Frühlingsanfang. Diese Feste vollzogen sich unter dem Symbol des Lebenspendenden, als welches das phallische Symbol ist: er gibt die Feuchte, den befruchtenden Regen.

Was die frühen Kirchenväter, Tertullian oder Theodoret, über den Phalluskultus berichten, wird, abgesehen von der asketischen Einstellung, die sie auszeichnet, sich mehr auf das gestützt haben, was nach als was während des festlichen Umzuges geschah. Ich schäme mich, von den Phallusmysterien zu berichten, deklamiert Arnobius, der zur Zeit des Diokletian lebte. Und entrüstet schreibt Augustinus: Um den Gott Liber zu beruhigen, um eine reiche Ernte zu erhalten, um von den Feldern Mißwuchs fernzuhalten, ist eine ehrenwerte Frau verpflichtet, vor allem Volke das zu tun, was man nicht einmal einer Prostituierten auf dem Theater erlauben dürfte. Der Satz deutet an, worum es sich bei diesen Riten handelte. Und daß ihr Sinn ihnen selbst in diesen spätrömischen Tagen noch erhalten geblieben und jedem geläufig war. Aber es galt bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als eine erwiesene Tatsache, daß die antiken Völker den Phallus als dem Lustbringer zum Gotte erhoben und ihm kultische Ehren erwiesen hätten. Was die ungebundene sexuelle Glückseligkeitslehre der antiken Völker ganz ausschloß. Ihnen so Nahes, durch kein Gebot Verbotenes wie das geschlechtliche Funktionieren zu vergöttlichen, hatten sie gar keinen Anlaß. Der Phallus war ihnen auch dann nichts weiter als ein Symbol der Fruchtbarkeit, wenn sie figürliche Darstellungen dieses Symboles als Amulette gebrauchten. So wenig wie der wächserne Uterus, den heute noch die Bäuerin am Bildnisse ihres Heiligen befestigt, um ihn zu erinnern, daß er sie fruchtbar machen solle, zum Gotte wird, so wenig wurden es die phallischen Amulette, die man in Tempeln aufhängte oder um den Hals trug.

Die ältere klassische Archäologie hat sich die Einschränkungen und Richtigstellungen der Ethnographen gefallen lassen müssen, die von den Sitten und Bräuchen halbzivilisierter Völker berichten, wie den Amerindiern von Texas und Neu-Mexiko, in deren phallophorischen Prozessionen Reste jener phallischen Riten weiterleben, die man, oft bis in alle Details, aus den Monumenten, Inschriften und schriftlichen Weistümern der untergegangenen zentralamerikanischen Kulturvölker las. Die ersten meist geistlichen Entdecker und Beschreiber dieser Länder sprachen, wie ehemals die Kirchenväter, nur Entrüstung aus über die heidnischen ruchlosen und teuflischen Bräuche und Gottesdienste. Die neueren Erforscher haben ihre gewonnenen kontrollierbaren Kenntnisse dazu benutzt, daß sie ihnen auch das Alte deuten helfen, das in Resten auf uns gekommen ist. Auf einem Blatte des mexikanischen Codex Borbonicus empfängt die Ähren tragende Maisgöttin Tlagolteotl eine herantänzelnde Prozession kleiner maskierter spitzhütiger Männer, die in ihrer rechten Hand den monströsen Phallus halten. Es sind die Huazteken, die Dämonen der Vegetation, und das Ganze eine bildliche Darstellung einer agrarischen Zeremonie. Ihr verwandt ist eine andere Darstellung aus Awatobi, die im Berliner Museum verwahrt wird: zwölf Phallophoren schreiten hintereinander, gesenkten Hauptes, sich an der Hüfte des Vordermannes haltend. Zwei andere Phallophoren schütten über die Schultern der Zwölf aus einem Gefäß Flüssiges.

Es ist eine rituelle Geste. Wie bei den alten Völkern, so standen bei den Mexikanern die Sexualorgane in Beziehung zum Wasser. Heute noch gibt es bei den Zuni, Amerindiern von Neu-Mexiko, eine Brüderschaft von besonderen Individuen, Kovemamaschi genannt, deren Funktion es ist, Regen zu besorgen und eine gute Ernte. Sie verkleiden sich mittels Masken und Körperbemalung. Und einer ihrer Riten besteht darin, daß sie in Prozession einer hinter dem andern marschieren, sich an der Hüfte haltend. Sie ziehen an einem Haus vorbei, von wo herab andere Akteure, meist Frauen, ihnen über die Schultern Wasser, Urin oder Mehl schütten. Genau dasselbe ist auf der Berliner alt-mexikanischen Vase dargestellt. Ein amerikanischer Beobachter berichtet, daß diese heutigen Huazteken obszöne Gesten ausführen, wie die Greitjetänzer im Hannoverschen. Ein anderer Stamm, die Hopiindianer, haben ganz gleiche Bruderschaften, von denen man zwei phallisch nennt, die Tataukyamu und die Wüwütcimtu, weil ihre Mitglieder auf Brust, Rücken, Armen und Beinen phallische Malereien tragen und in ihren Händen in Holz gebildete weibliche Genitalien. Auch sie tanzen in Prozession längs Häusern, von deren Terrassen die Frauen sie mit Wasser besprengen. Bei keiner dieser Zeremonien wird der Geschlechtsakt wirklich ausgeführt oder simuliert. Die Verwendung der phallischen Symbole in diesen Riten hat nichts zu tun mit deren Qualität als Organe der Fortpflanzung oder gar der Lustempfindung, sondern sie symbolisieren das Flüssigkeit Spendende. Die Prozessionen beten um Regen. Es sei noch an einen Hindu-Ritus erinnert: um Dürre zu vermeiden, wird in Gegenden Nordindiens der Phallus der Mahadeva-Statue besprengt, um unausgesetzt feucht zu bleiben.

Man nimmt heute an, daß es sich auch bei den antiken Phallusriten um nichts anderes gehandelt hat als um Regenbeschwörung. In den Darstellungen griechischer Phallophorien, die auch uns geläufiger sind, zeigt eine Zeichnung sechs Männer, die mit großer Mühe ein Gestell tragen, auf dem ein enormer, mit einem Auge versehener Phallus angebracht ist, von dessen Spitze zwei flüssige Faden laufen. Ein nackter Riese hält mit der Linken diesen Phallus, mit der Rechten zieht er gegen ihn eine Weinrebe. Auf einer anderen Zeichnung sind es acht Männer, welche das Gestell tragen, und hier stützt den Phallus ein riesiger Satyr, auf dem ein kleiner Kerl reitet, der ein Trinkhorn schwingt; die Weinrebe ist als ein separates Ornament angebracht.

Allen diesen Riten liegt der universelle Glaube zugrunde, daß zwischen dem Menschen und der Natur eine magische Beziehung besteht: wenn der Mensch feierlich eine Handlung begeht, dann begeht die Natur notwendigerweise den gleichen Akt. Wasser über heilige Akteure gießen gibt Regen. Samen in einen Topf pflanzen, wie im Adoniskult, gibt Fruchtbarkeit der Felder. Sich rituell vereinigen, gibt Befruchtung der Erde. Es ist ein magischer Vorgang. Wie in der Beschwörung durch das Wort. Wie in der Annahme, daß Qualitäten durch Kontakt oder auf Distanz übertragbar sind. Es gibt Heilige, zu denen die unfruchtbare Frau um Kindersegen bittet. Es gibt, auch heute noch und in Europa, Riten, bei denen die Frau das Nachgebilde eines Geschlechtsorganes berührt, um durch diese Zauberhandlung den Effekt zu erzielen, den sie von der natürlichen Handlung bis nun vergeblich erwartet hat. Von der Venerierung eines zum Gotte gemachten Phallus ist dabei keine Rede. Bei der Einnahme der Stadt Mende im Jahre 1580 ließ der protestantische Heerführer die große Glocke der Kathedrale zu Kanonen einschmelzen. Mit dem Klöppel, der 2,30 m in der Höhe und an seiner Basis 1,10 m im Umfang mißt, gelang ihm dies nicht. Später stellte man diesen Klöppel an einer Seitenpforte der Kathedrale auf. Er steht noch dort, und jede Frau der Umgebung, die sich ein Kind wünscht, pilgert zu dem Klöppel, der eine auffallende phallische Form zeigt, um ihren Leib daran zu reiben und zur heiligen Jungfrau zu beten. Dies ist nicht, wie der Beobachter und Berichter meint, christianisierter Überrest eines phallischen Kultes, sondern Magie durch einen rituellen Kontakt. Einen göttlichen Kult des Phallus, eine Mythologisierung des menschlichen Geschlechtsvorganges hat es nie und nirgendswo gegeben.

Der Schritt vom Flursegen spendenden Fruchtbarkeitssymbol des Phallus zum schlechthin Glück spendenden oder vor Unglück bewahrenden Symbol war klein. So wurde der Phallus zum auf dem Leibe getragenen Amulett bei Kindern, er wird Weihgeschenk, wird auf Häusern, Toren und Gräbern aufgepflanzt zur Abwehr böser Geister. Er dient als ein Zaubergerät der Beschwörung, er wird als Zeichen der Macht zum Kommandostab des Zauberers wie der Doppelphallus, den man aus dem älteren Megdalenien in Laugerie Basse gefunden hat. Das Phallussymbol erscheint auf bronzenen sakralen Erntewagen, die man durch das Feld gezogen hat. Phallische Bildwerke erscheinen in der gotischen Kirchenplastik an den Fassaden zur Abwehr des Bösen. Phallusähnliche Steine, die Stenkloten, vergruben die Germanen in der Erde, um diese zur Fruchtbarkeit zu beschwören. Dem Gebäck gibt man noch heute bei ihm erhaltene und weitergebrauchte phallische Formen, wie man es auch mit den Flur- und Meilensteinen hielt und hält.

Die Meinung, daß es sich bei den phallischen Symbolen der antiken und halbzivilisierten Völker um einen regelrechten obszönen Kultus mit dem Träger und Bereiter einer Lustempfindung gehandelt habe, ist sicher vom ungläubig gewordenen Verhalten der Spätantike diesen Symbolen gegenüber bestimmt. Als man die Götter verspottete, da nahm man sicher auch dem phallischen Gebilde seine kultische Bedeutung und gab ihm eine nichts als sexuelle.

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