7.
Das Wahre
Ein wahrer Kaufmann betrügt nicht, weil Betrug nie bereichert; so wenig ein wahrer Gelehrter mit falscher Wissenschaft groß tut, oder ein wahrer Rechtsgelehrter wissentlich ungerecht sein wird, weil alle diese damit sich nicht zu Meistern, sondern zu Lehrlingen ihrer Kunst bekennten. Ebenso gewiß wird auch eine Zeit kommen, da auch der Staatsunvernünftige sich seiner Unvernunft schämt; sobald man nämlich klar einsieht, daß jede Staatsunvernunft mit einem falschen Einmaleins rechne und keinen Vorteil bringe. Dazu ist die Geschichte geschrieben, damit nach allen Unordnungen der Mensch endlich lerne, daß die Wohlfahrt seines Geschlechts nicht auf Willkür, sondern auf einem ihm wesentlichen Naturgesetz; Vernunft und Billigkeit, ruhe.
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Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ordnerinnen der Welt, als sie sich ein inneres Heiligtum suchten, fanden sie es auf Erden nirgend, als im Geiste, in der Brust des Menschen. Da wohnen sie noch, da tönt ihre Stimme wieder.
In tausend Farben bricht sich der Strahl und hängt an jedem Gegenstande anders. Alle Farben aber gehören einem Licht der Wahrheit. In vielen melodischen Gängen wandelt der Ton auf und nieder; und doch ist nur eine Harmonie auf einer Tonleiter der Weltbegebenheiten und des Verhältnisses der Dinge möglich. Was jetzt mißklingt, löset sich auf in einem anderen Zeitalter.
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Hypothesen sind Träume, und bei jedem Traume, sei er himmlisch oder irdisch, sei er durch die schwarze oder weiße Pforte zu uns geschlüpft, bleibt's für den Menschensinn die bildendste Kenntnis zu wissen, wie der ward? Wie sein Finder oder Dichter dazu gekommen ?
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Auch bei dem Irrtum ist Eifer für die Wahrheit schätzbar; die Leidenschaft, die daher entsteht, daß mein keiner Leidenschaft, keinem Trug unterworfen sein will, ist hochachtungswürdig. Nicht jeder gelangt zu dieser warmen Kälte, zu dieser leidenschaftlichen Leidenschaft für Wahrheit und für alles, was zu ihr führet.
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Nicht alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es gibt für uns, insonderheit im Praktischen wie im Moralischen, eine gewisse sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im politischen Geräusch, sie spricht für jeden, der sie hören will, in seinem innersten Herzen und straft jede Sirenenstimme gefälliger Meinungen Lüge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen; auch in der größesten Verwirrung der Welthändel war sie dem Unbefangenen ein sicheres Richtmaß.
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Freidenker sollen wir alle sein, d. i. wir sollen dem Recht und der Wahrheit frei nachstreben, ihnen nacheifern, frei von allen Fesseln des Ansehens und Vorurteils, mit ungeteilter Seele. Wenn aber ein wilder Geist sich einen Freidenker nennt, und einen anderen bescheidenen Mann zum Deckmantel seiner Frechheit mißbraucht, wenn dann ein Dritter, ein ohnmächtiger Sklave des Vorurteils, jenem diesen Ehrennamen als Ekelnamen nachwirft, sind sie im gleichen Falle? Der Name Freidenker, wie verschiedenen Denkern ist er gegeben, die fast nichts miteinander gemein haben!
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Freie Untersuchung der Wahrheit von allen Seiten ist das einzige Mittel gegen den Wahn und Irrtum, von welcher Art sie sein mögen. Lasset den Wähnenden seinen Wahn, den anders Meinenden seine Meinung verteidigen; das ist ihre Sache. Würden beide auch nicht gebessert, so entspringt für den Unbefangenen aus jedem bestrittenen Irrtum gewiß ein neuer Grund, eine neue Ansicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht glaube, Wahrheit könne je durch bewaffneten Wahn gefangen oder gar ewig im Gefängnis festgehalten werden! Sie ist ein Geist und teilt sich Geistern mit, fast ohne Körper. Oft darf ihr Ton an einem Weltende geregt werden, und er erklingt in entlegenen Ländern; immer aber läutert sich der Strom des menschlichen Erkenntnisses durch Gegensätze, durch starke Kontraste. Hier reißt er ab, dort setzt er an; und zuletzt gilt ein lange und vielgeläuterter Wahn den Menschen für Wahrheit.
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Ein Mensch, der sich um Wahrheit bemühet, ist immer achtenswert; wer bei unschuldigen Bestrebungen nur Zwecke hat, ist nie verächtlich, gesetzt, daß diese auch bei weitem nicht Endzwecke wären. Denn ist was Endzweck in der Welt? Wo liegt das Ende? Jedes gute Bestreben aber hat seinen Zweck in sich. Mögen die Philosophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben (welches doch ohne Wortspiel nicht behauptet werden kann), genug, sie bestrebten sich um Wahrheit. Sie erweckten den menschlichen Verstand, hielten ihn im Gange, führten ihn weiter; alles, was er auf diesem Gange erfunden, geübt hat, haben wir also der Philosophie zu danken, wenn sie gleich selbst nichts hätte erfinden können und mögen. Der philosophische Geist ist schätzbar; die ausgemachte Meister- und Zunftphilosophie bei weitem nicht so sehr, ja, sie ist dem Fortdringenden oft schädlich.
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Im menschlichen Leben sollte nicht eben dies Gesetz walten, das, innern Naturkräften gemäß, aus dem Chaos Ordnung schafft?. . . Kein Zweifel! Wir tragen dies Prinzip in uns, und es muß und wird seiner Art gemäß wirken.
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Alle Irrtümer des Menschen sind ein Nebel der Wahrheit: alle Leidenschaften seiner Brust sind wildere Triebe einer Kraft, die sich selbst noch nicht kennt, die ihrer Natur nach aber nicht anders als aufs Bessere wirket. Auch die Stürme des Meeres, oft zertrümmernd und verwüstend, sind Kinder einer harmonischen Weltordnung und müssen derselben, wie die säuselnden Zephyre, dienen.
Eben durch sie und an ihnen hat unser Geschlecht seine Vernunft geschärft und tausend Mittel, Regeln und Künste erfunden, sie nicht nur einzuschränken, sondern selbst zum Besten zu lenken, wie die ganze Geschichte zeigt. Ein leidenschaftloses Menschengeschlecht hätte auch seine Vernunft nie ausgebildet; es läge noch irgend in einer Troglodytenhöhle.
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Wahn und Wahnsinn sind überhaupt nicht so weit voneinander, als man glaubt. Solange der Wahn sich in einem Winkel der Seele aufhält und nur wenige Ideen angreift, behält er diesen Namen; verbreitet er seine Herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere Handlungen sichtbar, so nennt man ihn Wahnsinn. Wer kann nun jederzeit das mehr und weniger bestimmen? zumal sowohl bei einzelnen Menschen als bei ganzen Völkern nach Umständen und Perioden nichts als Konvention die Wage in der Hand hat und Namen verteilet. Die größesten Veränderungen der Welt sind von Halbwahnsinnigen bewirkt worden, und zu mancher rühmlichen Handlung, zu manchem scharf verfolgten Geschäfte des Lebens gehörte wirklich eine Art bleibenden Wahnsinnes.
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Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ist's gegeben, über die wichtigsten Striche ihrer Denkart sich unparteiisch zu prüfen, Wahrheit und Irrtum, Vorurteil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden, und sodann dem unschuldigen oder gar notwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mitnichten ihn aber zum Richter jeder fremden Denk- und Sinnesart zu erheben.
Diese seltenen, vom Himmel privilegierten Seelen sind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann, sie schonen den Wahn des andern auch in Fällen, in denen er ihrem eigenen liebsten Wahn entgegenstehet. Sie sind die duldsamsten Freunde, die lehrreichsten Gesellschafter, denn auch über die verwickeltsten Aufgaben der Menschengeschichte läßt sich mit ihnen ohne Haß und Zorn disputieren. Der gemeine Haufen der Menschen ist nur so lange Freund gegeneinander, als sein Lieblingswahn gefördert, oder wenigstens nicht beleidigt wird.
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Der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten, Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Elemente und ist seiner Kunst Meister.
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Menschen, die sich einander nicht mitteilen dürfen, denen die Sprache selbst einen Zwang, ein Zeremoniell auflegt, daß die freie Wahrheit, sie, die nicht anders als unmittelbar von Seele zu Seele, vom Herz zum Herzen sprechen will und kann, immer Umwege nehmen und unter niedrigen Schlagbäumen durchkriechen muß, Menschen, denen beruf- und standesmäßig ein Schloß am Munde hängt, oder gar die Zunge am Gaumen klebet: sie kennen keine andere, als Sinesische Etikett-Wahrheit.
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Die Wahrheit muß man durch Gründe mühsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung oft unvermerkt aus Gefälligkeit durch das bloße Zusammensein mit dem Wähnenden, durch Teilnehmung an seinen übrigen guten Gesinnungen, auf guten Glauben an. Walm teilt sich mit, wie sich das Gähnen mitteilt, wie Gesichtszüge und Stimmungen in uns übergehen, wie eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die BeStrebsamkeit des Wähnenden dazu, uns die Lieblingsmeinungen seiner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen; wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerst unschuldig mitwähnen, bald mächtig glauben, und auf andere mit eben der Bestrebsamkeit seinen Glauben fortpflanzen? Durch guten Glauben hängt das Menschengeschlecht aneinander; durch ihn haben wir wo nicht alles, so doch das Nützlichste und Meiste gelernt: und ein Wähnender, sagt man, ist deshalb ja noch kein Betrüger. Der Wahn, eben weil er Wahn ist, gefällt sich so gern in Gesellschaft; in ihr erquicket er sich, da er für sich selbst ohne Grund und Gewißheit wäre. Zu diesem Zweck ist ihm auch die schlechteste Gesellschaft die beste.
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Das Beste kann zuerst gemißbraucht werden, eben weil an ihm etwas zu mißbrauchen ist; ja, die Wahrheit, die nicht auf der Gasse liegt, muß sich eben vom Sprachgebrauch manchmal entfernen. Nur ist's noch keinem Astronomen eingefallen, seine Theorie vom Weltsystem deshalb zu ändern, weil der Sprachgebrauch anders redet. Kann er's erklären, warum der so reden mußte? so ist alles getan und seine Gründe gelten.
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Wenn das Bessere dastehet, schäumt sich das Schlechtere, und so sehr es der falsche Geschmack festhalten will, es verschwindet. Verzweifle niemand an der Macht des Wahren und Schönen; so wie die Sonne hinter Wolken, schafft es sich Raum und leuchtet. Verzweifle niemand an der Macht der Natur im Winter; der Frühling kommt und das alte dürre Laub fällt.
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Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist: daß man ihm nicht beizukommen scheine. Man schütze sich vor ihm und lasse ihn seines Weges wandern, oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Überredung unvermerkt auf andere Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehre Beispiele, daß mitleidige Krankenwärter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber teilet sich leichter mit, als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben. Alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschränkt, daß man sie isoliert.
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Durch Waffen werden Irrtümer weder bestritten noch ausgerottet; der schlechteste Wahn hingegen dünkte sich eine Märtyrer-Wahrheit, sobald er mit Blute gefärbt dasteht. Eben durch dergleichen gewaltsame Schleichmittel sind Irrtümer, die sich selbst bald überlebt hätten, Meinungen, von denen die Betrogenen in kurzem zurückgekommen wären, schädlich verewiget worden. Nie hat die reine Wahrheit mit schlauer Politik etwas zu schaffen gehabt, so wenig die Politik es je zum Zwecke gehabt hat, reine Wahrheit zu befördern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder lassen sich von politischen Wahrheitsphrasen dieser oder jener Partei, oder wie die Griechen sagen, von der Suada mit der Geißel in der Hand täuschen.
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Das Vermögen zu fehlen, konnte oder wollte die Gottheit uns nicht nehmen; — sie legte es aber in die Natur des menschlichen Fehlers, daß er früher oder später sich als solchen zeigen und dem rechnenden Geschöpfe offenbar werden mußte. Wir haben daher die Gottheit zu preisen, daß sie uns bei unserer fehlbaren schwachen Natur Vernunft gab, einen ewigen Lichtstrahl aus ihrer Sonne, dessen Wesen es ist, die Nacht zu vertreiben und die Gestalten der Dinge, wie sie sind, zu zeigen.
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Viel sind der Wege, auf denen wir von der frühesten Kindheit an zu Meinungen gelangen, mit denen wir uns Leib und Seele überkleiden; viele davon halten sehr fest und die albernsten haben wir meistens hinter unsere innerste, neunte Haut verborgen, wo sie ja niemand antaste! Unglücklicherweise tastet sie die Zeit dennoch an, oft mit sehr rauhen Händen; und wer nun, um sein Leben, die Vernunft, Ruhe und Selbstgefühl eines inneren Wertes zu retten, dem antastenden Satanas nicht Haut und Haare von Meinungen lassen kann, der ist in Übeln Händen. Denn was bloße oder gar falsche Meinung ist, geht im scharfen Feuer der Läuterung gewiß unter. Ist es nicht aber etwas besseres, was dagegen empor kommen soll? Statt der auf Autorität, oder gar, wie Franklin erzählt, aus Höflichkeit angenommenen Meinungen soll Wissen aus Überzeugung, Vernunft durch eigene Prüfung bewährt, und eine selbst errungene Glückseligkeit unser Teil werden. Der alte Mensch in uns soll sterben, damit eine neue Jugend empor keime.