Mittwoch, den 19. November 1823

Gestern ging ich in Sorgen umher. Es ward außer seiner Familie niemand zu ihm gelassen.

Heute gegen Abend ging ich hin und wurde auch angenommen. Ich fand ihn noch in seinem Lehnstuhl sitzen, er schien dem Äußern nach noch ganz wie ich ihn am Sonntag verlassen, doch war er heiteren Geistes.

Wir sprachen besonders über Zauper und die sehr ungleichen Wirkungen, die aus dem Studium der Literatur der Alten hervorgehen.

 


 

Freitag, den 21. November 1823

Goethe ließ mich rufen. Ich fand ihn zu meiner großen Freude wieder auf, und in seinem Zimmer umhergehen. Er gab mir ein kleines Buch: ›Ghaselen‹ des Grafen Platen. »Ich hatte mir vorgenommen,« sagte er, »in ›Kunst und Altertum‹ etwas darüber zu sagen, denn die Gedichte verdienen es. Mein Zustand läßt mich aber zu nichts kommen. Sehen Sie doch zu, ob es Ihnen gelingen will, einzudringen und den Gedichten etwas abzugewinnen.«

Ich versprach, mich daran zu versuchen.

»Es ist bei den Ghaselen das Eigentümliche,« fuhr Goethe fort, »daß sie eine große Fülle von Gehalt verlangen; der stets wiederkehrende gleiche Reim will immer einen Vorrat ähnlicher Gedanken bereit finden. Deshalb gelingen sie nicht jedem; diese aber werden Ihnen gefallen.« Der Arzt trat herein, und ich ging.

 


 

Montag, den 24. [?] November 1823

Sonnabend und Sonntag studierte ich die Gedichte. Diesen Morgen schrieb ich meine Ansicht darüber und schickte sie Goethen zu, denn ich hatte erfahren, daß er seit einigen Tagen niemanden vor sich lasse, indem der Arzt ihm alles Reden verboten.

Heute gegen Abend ließ er mich dennoch rufen. Als ich zu ihm hineintrat, fand ich einen Stuhl bereits in seine Nähe gesetzt; er reichte mir seine Hand entgegen und war äußerst liebevoll und gut. Er fing sogleich an, über meine kleine Rezension zu reden. »Ich habe mich sehr darüber gefreut,« sagte er, »Sie haben eine schöne Gabe. Ich will Ihnen etwas sagen,« fuhr er dann fort, »wenn Ihnen vielleicht von andern Orten her literarische Anträge gemacht werden sollten, so lehnen Sie solche ab oder sagen es mir wenigstens zuvor; denn da Sie einmal mit mir verbunden sind, so möchte ich nicht gerne, daß Sie auch zu anderen ein Verhältnis hätten.«

Ich antwortete, daß ich mich bloß zu ihm halten wolle, und daß es mir auch vorderhand um anderweitige Verbindungen durchaus nicht zu tun sei.

Das war ihm lieb, und er sagte darauf, daß wir diesen Winter noch manche hübsche Arbeit miteinander machen wollten.

Wir kamen dann auf die ›Ghaselen‹ selbst zu sprechen, und Goethe freute sich über die Vollendung dieser Gedichte und daß unsere neueste Literatur doch manches Tüchtige hervorbringe.

»Ihnen«, fuhr er dann fort, »möchte ich unsere neuesten Talente zu einem besonderen Studium und Augenmerk empfehlen. Ich möchte, daß Sie sich von allem, was in unserer Literatur Bedeutendes hervortritt, in Kenntnis setzten und mir das Verdienstliche vor Augen brächten, damit wir in den Heften von ›Kunst und Altertum‹ darüber reden und das Gute, Edle und Tüchtige mit Anerkennung erwähnen könnten. Denn mit dem besten Willen komme ich bei meinem hohen Alter und bei meinen tausendfachen Obliegenheiten ohne anderweitige Hülfe nicht dazu.«

Ich versprach dieses zu tun, indem ich mich zugleich freute zu sehen, daß unsere neuesten Schriftsteller und Dichter Goethen mehr am Herzen liegen, als ich mir gedacht hatte.

 

Die Tage darauf sendete Goethe mir die neuesten literarischen Tagesblätter zu dem besprochenen Zwecke. Ich ging einige Tage nicht zu ihm und ward auch nicht gerufen. Ich hörte, sein Freund Zelter sei gekommen, ihn zu besuchen.

 


 

Montag, den 1. Dezember 1823

Heute ward ich bei Goethe zu Tisch geladen. Ich fand Zelter bei ihm sitzen, als ich hereintrat. Sie kamen mir einige Schritte entgegen und gaben mir die Hände. »Hier«, sagte Goethe, »haben wir meinen Freund Zelter. Sie machen an ihm eine gute Bekanntschaft; ich werde Sie bald einmal nach Berlin schicken, da sollen Sie denn von ihm auf das beste gepflegt werden.« – »In Berlin mag es gut sein«, sagte ich. »Ja,«sagte Zelter lachend, »es läßt sich darin viel lernen und verlernen.«

Wir setzten uns und führten allerlei Gespräche. Ich fragte nach Schubarth. »Er besucht mich wenigstens alle acht Tage«, sagte Zelter. »Er hat sich verheiratet, ist aber ohne Anstellung, weil er es in Berlin mit den Philologen verdorben.«

Zelter fragte mich darauf, ob ich Immermann kenne. »Seinen Namen«, sagte ich, »habe ich bereits sehr oft nennen hören, doch von seinen Schriften kenne ich bis jetzt nichts.« – »Ich habe seine Bekanntschaft zu Münster gemacht,« sagte Zelter; »es ist ein sehr hoffnungsvoller junger Mann, und es wäre ihm zu wünschen, daß seine Anstellung ihm für seine Kunst mehr Zeit ließe.« Goethe lobte gleichfalls sein Talent. »Wir wollen sehen,« sagte er, »wie er sich entwickelt; ob er sich bequemen mag, seinen Geschmack zu reinigen und hinsichtlich der Form die anerkannt besten Muster zur Richtschnur zu nehmen. Sein originelles Streben hat zwar sein Gutes, allein es führt gar zu leicht in die Irre.«

Der kleine Walter kam gesprungen und machte sich an Zelter und seinen Großpapa mit vielen Fragen. »Wenn du kommst, unruhiger Geist,« sagte Goethe, »so verdirbst du gleich jedes Gespräch.« Übrigens liebte er den Knaben und war unermüdet, ihm alles zu Willen zu tun.

Frau von Goethe und Fräulein Ulrike traten herein; auch der junge Goethe in Uniform und Degen, um an Hof zu gehen. Wir setzten uns zu Tisch. Fräulein Ulrike und Zelter waren besonders munter und neckten sich auf die anmutigste Weise während der ganzen Tafel. Zelters Person und Gegenwart tat mir sehr wohl. Er war als ein glücklicher gesunder Mensch immer ganz dem Augenblick hingegeben, und es fehlte ihm nie am rechten Wort. Dabei war er voller Gutmütigkeit und Behagen und so ungeniert, daß er alles heraussagen mochte und mitunter sogar sehr Derbes. Seine eigene geistige Freiheit teilte sich mit, so daß alle beengende Rücksicht in seiner Nähe sehr bald wegfiel. Ich tat im stillen den Wunsch, eine Zeitlang mit ihm zu leben, und bin gewiß, es würde mir gut tun.

Bald nach Tisch ging Zelter. Auf den Abend war er zur Großfürstin gebeten.

 


 

Donnerstag, den 4. Dezember 1823

Diesen Morgen brachte mir Sekretär Kräuter eine Einladung bei Goethe zu Tisch. Dabei gab er mir von Goethe den Wink, Zeltern doch ein Exemplar meiner ›Beiträge zur Poesie‹ zu verehren. Ich tat so und brachte es ihm ins Wirtshaus. Zelter gab mir dagegen die ›Gedichte‹ von Immermann. »Ich schenkte das Exemplar Ihnen gerne,« sagte er; »allein Sie sehen, der Verfasser hat es mir zugeschrieben, und so ist es mir ein wertes Andenken, das ich behalten muß.«

Ich machte darauf mit Zelter vor Tisch einen Spaziergang durch den Park nach Oberweimar. Bei manchen Stellen erinnerte er sich früherer Zeiten und erzählte mir dabei viel von Schiller, Wieland und Herder, mit denen er sehr befreundet gewesen, was er als einen hohen Gewinn seines Lebens schätzte.

Er sprach darauf viel über Komposition und rezitierte dabei mehrere Lieder von Goethe. »Wenn ich ein Gedicht komponieren will,« sagte er, »so suche ich zuvor in den Wortverstand einzudringen und mir die Situation lebendig zu machen. Ich lese es mir dann laut vor, bis ich es auswendig weiß, und so, indem ich es mir immer einmal wieder rezitiere, kommt die Melodie von selber.«

Wind und Regen nötigten uns, früher zurückzugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn bis vor Goethes Haus, wo er zu Frau von Goethe hinaufging, um mit ihr vor Tisch noch einiges zu singen.

Darauf um zwei Uhr kam ich zu Tisch. Ich fand Zelter bereits bei Goethe sitzen und Kupferstiche italienischer Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat herein, und wir gingen zu Tisch. Fräulein Ulrike war heute abwesend, desgleichen der junge Goethe, welcher bloß hereinkam, um guten Tag zu sagen, und dann wieder an Hof ging.

Die Tischgespräche waren heute besonders mannigfaltig. Sehr viel originelle Anekdoten wurden erzählt, sowohl von Zelter als Goethe, welche alle dahin gingen, die Eigenschaften ihres gemeinschaftlichen Freundes Friedrich August Wolf zu Berlin ins Licht zu setzen. Dann ward über die Nibelungen viel gesprochen, dann über Lord Byron und seinen zu hoffenden Besuch in Weimar, woran Frau von Goethe besonders teilnahm. Das Rochusfest zu Bingen war ferner ein sehr heiterer Gegenstand, wobei Zelter sich besonders zwei schöner Mädchen erinnerte, deren Liebenswürdigkeit sich ihm tief eingeprägt hatte und deren Andenken ihn noch heute zu beglücken schien. Das gesellige Lied ›Kriegsglück‹ von Goethe ward darauf sehr heiter besprochen. Zelter war unermüdlich in Anekdoten von blessierten Soldaten und schönen Frauen, welche alle dahin gingen, um die Wahrheit des Gedichts zu beweisen. Goethe selber sagte, er habe nach solchen Realitäten nicht weit zu gehen brauchen, er habe alles in Weimar persönlich erlebt. Frau von Goethe aber hielt immerwährend ein heiteres Widerspiel, indem sie nicht zugeben wollte, daß die Frauen so wären, als das ›garstige‹ Gedicht sie schildere.

Und so vergingen denn auch heute die Stunden bei Tisch sehr angenehm.

Als ich darauf später mit Goethe allein war, fragte er mich über Zelter. »Nun,« sagte er, »wie gefällt er Ihnen?« Ich sprach über das durchaus Wohltätige seiner Persönlichkeit. »Er kann«, fügte Goethe hinzu, »bei der ersten Bekanntschaft etwas sehr derbe, ja mitunter sogar etwas roh erscheinen. Allein das ist nur äußerlich. Ich kenne kaum jemanden, der zugleich so zart wäre wie Zelter. Und dabei muß man nicht vergessen, daß er über ein halbes Jahrhundert in Berlin zugebracht hat. Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.«

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