Sonntag, den 29. Februar 1824

Ich ging um zwölf Uhr zu Goethe, der mich vor Tisch zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Ich fand ihn frühstückend, als ich zu ihm hereintrat, und setzte mich ihm gegenüber, indem ich das Gespräch auf die Arbeiten brachte, die uns gemeinschaftlich in bezug auf die neue Ausgabe seiner Werke beschäftigten. Ich redete ihm zu, sowohl seine ›Götter, Helden und Wieland‹ als auch seine ›Briefe des Pastors‹ in diese neue Edition mit aufzunehmen.

»Ich habe«, sagte Goethe, »auf meinem jetzigen Standpunkt über jene jugendlichen Produktionen eigentlich kein Urteil. Da mögt ihr Jüngeren entscheiden. Ich will indes jene Anfänge nicht schelten; ich war freilich noch dunkel und strebte in bewußtlosem Drange vor mir hin, aber ich hatte ein Gefühl des Rechten, eine Wünschelrute, die mir anzeigte, wo Gold war.«

Ich machte bemerklich, daß dieses bei jedem großen Talent der Fall sein müsse, indem es sonst bei seinem Erwachen in der gemischten Welt nicht das Rechte ergreifen und das Verkehrte vermeiden würde.

Es war indes angespannt, und wir fuhren den Weg nach Jena hinaus. Wir sprachen verschiedene Dinge, Goethe erwähnte die neuen französischen Zeitungen.

»Die Konstitution in Frankreich,« sagte er, »bei einem Volke, das so viele verdorbene Elemente in sich hat, ruht auf ganz anderem Fundament als die in England. Es ist in Frankreich alles durch Bestechungen zu erreichen, ja die ganze Französische Revolution ist durch Bestechungen geleitet worden.«

Darauf erzählte mir Goethe die Nachricht von dem Tode Eugen Napoleons, Herzog von Leuchtenberg, die diesen Morgen eingegangen, welcher Fall ihn tief zu betrüben schien. »Er war einer von den großen Charakteren,« sagte Goethe, »die immer seltener werden, und die Welt ist abermals um einen bedeutenden Menschen ärmer. Ich kannte ihn persönlich; noch vorigen Sommer war ich mit ihm in Marienbad zusammen. Er war ein schöner Mann von etwa zweiundvierzig Jahren, aber er schien älter zu sein, und das war kein Wunder, wenn man bedenkt, was er ausgestanden und wie in seinem Leben sich ein Feldzug und eine große Tat auf die andere drängte. Er teilte mir in Marienbad einen Plan mit, über dessen Ausführung er viel mit mir verhandelte. Er ging nämlich damit um, den Rhein mit der Donau durch einen Kanal zu vereinigen. Ein riesenhaftes Unternehmen, wenn man die widerstrebende Lokalität bedenkt. Aber jemandem, der unter Napoleon gedient und mit ihm die Welt erschüttert hat, erscheint nichts unmöglich. Karl der Große hatte schon denselbigen Plan und ließ auch mit der Arbeit anfangen; allein das Unternehmen geriet bald in Stocken: der Sand wollte nicht Stich halten, die Erdmassen fielen von beiden Seiten immer wieder zusammen.«

 


 

Montag, den 22. März 1824

Mit Goethe vor Tisch nach seinem Garten gefahren.

Die Lage dieses Gartens, jenseits der Ilm, in der Nähe des Parks, an dem westlichen Abhange eines Hügelzuges, hat etwas sehr Trauliches. Vor Nord- und Ostwinden geschützt, ist er den erwärmenden und belebenden Einwirkungen des südlichen und westlichen Himmels offen, welches ihn besonders im Herbst und Frühling zu einem höchst angenehmen Aufenthalte macht.

Der in nordwestlicher Richtung liegenden Stadt ist man so nahe, daß man in wenigen Minuten dort sein kann, und doch, wenn man umherblickt, sieht man nirgend ein Gebäude oder eine Turmspitze ragen, die an eine solche städtische Nähe erinnern könnte; die hohen dichten Bäume des Parks verhüllen alle Aussicht nach jener Seite. Sie ziehen sich links, nach Norden zu, unter dem Namen des Sternes, ganz nahe an den Fahrweg heran, der unmittelbar vor dem Garten vorüberführt.

Gegen Westen und Südwesten blickt man frei über eine geräumige Wiese hin, durch welche in der Entfernung eines guten Pfeilschusses die Ilm in stillen Windungen vorbeigeht. Jenseits des Flusses erhebt sich das Ufer gleichfalls hügelartig, an dessen Abhängen und auf dessen Höhen, in den mannigfaltigen Laubschattierungen hoher Erlen, Eschen, Pappelweiden und Birken, der sich breit hinziehende Park grünet, indem er den Horizont gegen Mittag und Abend in erfreulicher Entfernung begrenzet.

Diese Ansicht des Parkes über die Wiese hin, besonders im Sommer, gewährt den Eindruck, als sei man in der Nähe eines Waldes, der sich stundenweit ausdehnt. Man denkt, es müsse jeden Augenblick ein Hirsch, ein Reh auf die Wiesenfläche hervorkommen. Man fühlt sich in den Frieden tiefer Natureinsamkeit versetzt, denn die große Stille ist oft durch nichts unterbrochen als durch die einsamen Töne der Amsel oder durch den pausenweise abwechselnden Gesang einer Walddrossel.

Aus solchen Träumen gänzlicher Abgeschiedenheit erwecket uns jedoch das gelegentliche Schlagen der Turmuhr, das Geschrei der Pfauen von der Höhe des Parks herüber, oder das Trommeln und Hörnerblasen des Militärs der Kaserne. Und zwar nicht unangenehm; denn es erwacht mit solchen Tönen das behagliche Nähegefühl der heimatlichen Stadt, von der man sich meilenweit versetzt glaubte.

Zu gewissen Tages- und Jahreszeiten sind diese Wiesenflächen nichts weniger als einsam. Bald sieht man Landleute, die nach Weimar zu Markt oder in Arbeit gehen und von dort zurückkommen, bald Spaziergänger aller Art längs den Krümmungen der Ilm, besonders in der Richtung nach Oberweimar, das zu gewissen Tagen ein sehr besuchten Ort ist. Sodann die Zeit der Heuernte belebt diese Räume auf das heiterste. Hinterdrein sieht man weidende Schafherden, auch wohl die stattlichen Schweizerkühe der nahen Ökonomie.

Heute jedoch war von allen diesen die Sinne erquickenden Sommererscheinungen noch keine Spur. Auf den Wiesen waren kaum einige grünende Stellen sichtbar, die Bäume des Parks standen noch in braunen Zweigen und Knospen; doch verkündigte der Schlag der Finken sowie der hin und wieder vernehmbare Gesang der Amsel und Drossel das Herannahen des Frühlings.

Die Luft war sommerartig, angenehm; es wehte ein sehr linder Südwestwind. Einzelne kleine Gewitterwolken zogen am heitern Himmel herüber; sehr hoch bemerkte man sich auflösende Cirrusstreifen. Wir betrachteten die Wolken genau und sahen, daß sich die ziehenden geballten der untern Region gleichfalls auflösten, woraus Goethe schloß, daß das Barometer im Steigen begriffen sein müsse.

Goethe sprach darauf sehr viel über das Steigen und Fallen des Barometers welches er die Wasserbejahung und Wasserverneinung nannte. Er sprach über das Ein- und Ausatmen der Erde nach ewigen Gesetzen, über eine mögliche Sündflut bei fortwährender Wasserbejahung. Ferner: daß jeder Ort seine eigene Atmosphäre habe, daß jedoch in den Barometerständen von Europa eine große Gleichheit stattfinde. Die Natur sei inkommensurabel, und bei den großen Irregularitäten sei es sehr schwer, das Gesetzliche zu finden.

Während er mich so über höhere Dinge belehrte, gingen wir in dem breiten Sandwege des Gartens auf und ab. Wir traten in die Nähe des Hauses, das er seinem Diener aufzuschließen befahl, um mir später das Innere zu zeigen. Die weißabgetünchten Außenseiten sah ich ganz mit Rosenstöcken umgeben, die, von Spalieren gehalten, sich bis zum Dache hinaufgerankt hatten. Ich ging um das Haus herum und bemerkte zu meinem besonderen Interesse an den Wänden in den Zweigen des Rosengebüsches eine große Zahl mannigfaltiger Vogelnester, die sich von vorigem Sommer her erhalten hatten und jetzt bei mangelndem Laube den Blicken freistanden, besonders Nester der Hänflinge und verschiedener Art Grasemücken, wie sie höher oder niedriger zu bauen Neigung haben.

Goethe führte mich darauf in das Innere des Hauses, das ich vorigen Sommer zu sehen versäumt hatte. Unten fand ich nur ein wohnbares Zimmer, an dessen Wänden einige Karten und Kupferstiche hingen, desgleichen ein farbiges Porträt Goethes in Lebensgröße, und zwar von Meyer gemalt bald nach der Zurückkunft beider Freunde aus Italien. Goethe erscheint hier im kräftigen mittleren Mannesalter, sehr braun und etwas stark. Der Ausdruck des wenig belebten Gesichtes ist sehr ernst; man glaubt einen Mann zu sehen, dem die Last künftiger Taten auf der Seele liegt.

Wir gingen die Treppe hinauf in die oberen Zimmer; ich fand deren drei und ein Kabinettchen, aber alle sehr klein und ohne eigentliche Bequemlichkeit. Goethe sagte, daß er in früheren Jahren hier eine ganze Zeit mit Freuden gewohnt und sehr ruhig gearbeitet habe.

Die Temperatur dieser Zimmer war etwas kühl, und wir trachteten wieder nach der milden Wärme im Freien. In dem Hauptwege in der Mittagssonne auf und ab gehend, kam das Gespräch auf die neueste Literatur, auf Schelling, und unter andern auch auf einige neue Schauspiele von Platen.

Bald jedoch kehrte unsere Aufmerksamkeit auf die uns umgebende nächste Natur zurück. Die Kaiserkronen und Lilien sproßten schon mächtig, auch kamen die Malven zu beiden Seiten des Weges schon grünend hervor.

Der obere Teil des Gartens, am Abhange des Hügels, liegt als Wiese mit einzelnen zerstreut stehenden Obstbäumen. Wege schlängeln sich hinauf, längs der Höhe hin und wieder herunter, welches einige Neigung in mir erregte, mich oben umzusehen. Goethe schritt, diese Wege hinansteigend, mir rasch voran, und ich freute mich über seine Rüstigkeit.

Oben an der Hecke fanden wir eine Pfauhenne, die vom fürstlichen Park herübergekommen zu sein schien; wobei Goethe mir sagte, daß er in Sommertagen die Pfauen durch ein beliebtes Futter herüberzulocken und herzugewöhnen pflege.

An der anderen Seite den sich schlängelnden Weg herabkommend, fand ich von Gebüsch umgeben einen Stein mit den eingehauenen Versen des bekannten Gedichtes:

Hier im Stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten –

und ich hatte das Gefühl, daß ich mich an einer klassischen Stelle befinde.

Ganz nahe dabei kamen wir auf eine Baumgruppe halbwüchsiger Eichen, Tannen, Birken und Buchen. Unter den Tannen fand ich ein herabgeworfenes Gewölle eines Raubvogels; ich zeigte es Goethen, der mir erwiderte, daß er dergleichen an dieser Stelle häufig gefunden, woraus ich schloß, daß diese Tannen ein beliebter Aufenthalt einiger Eulen sein mögen, die in dieser Gegend häufig gefunden werden.

Wir traten um die Baumgruppe herum und befanden uns wieder an dem Hauptwege in der Nähe des Hauses. Die soeben umschrittenen Eichen, Tannen, Birken und Buchen, wie sie untermischt stehen, bilden hier einen Halbkreis, den innern Raum grottenartig überwölbend, worin wir uns auf kleinen Stühlen setzten, die einen runden Tisch umgaben. Die Sonne war so mächtig, daß der geringe Schatten dieser blätterlosen Bäume bereits als eine Wohltat empfunden ward. »Bei großer Sommerhitze«, sagte Goethe, »weiß ich keine bessere Zuflucht als diese Stelle. Ich habe die Bäume vor vierzig Jahren alle eigenhändig gepflanzt, ich habe die Freude gehabt, sie heranwachsen zu sehen, und genieße nun schon seit geraumer Zeit die Erquickung ihres Schattens. Das Laub dieser Eichen und Buchen ist der mächtigsten Sonne undurchdringlich; ich sitze hier gerne an warmen Sommertagen nach Tische, wo denn auf diesen Wiesen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille herrscht, von der die Alten sagen würden: daß der Pan schlafe

Indessen hörten wir es in der Stadt zwei Uhr schlagen und fuhren zurück.

 


 

Dienstag, den 30. März 1824

Abends bei Goethe. – Ich war alleine mit ihm. Wir sprachen vielerlei und tranken eine Flasche Wein dazu. Wir sprachen über das französische Theater im Gegensatz zum deutschen.

»Es wird schwer halten,« sagte Goethe, »daß das deutsche Publikum zu einer Art von reinem Urteil komme, wie man es etwa in Italien und Frankreich findet. Und zwar ist uns besonders hinderlich, daß auf unseren Bühnen alles durcheinander gegeben wird. An derselbigen Stelle, wo wir gestern den ›Hamlet‹ sahen, sehen wir heute den ›Staberle‹, und wo uns morgen die ›Zauberflöte‹ entzückt, sollen wir übermorgen an den Späßen des ›Neuen Sonntagskindes‹ Gefallen finden. Dadurch entsteht beim Publikum eine Konfusion im Urteil, eine Vermengung der verschiedenen Gattungen, die es nie gehörig schätzen und begreifen lernt. Und dann hat jeder seine individuellen Forderungen und seine persönlichen Wünsche, mit denen er sich wieder nach der Stelle wendet, wo er sie realisiert fand. An demselbigen Baum, wo er heute Feigen gepflückt, will er sie morgen wieder pflücken, und er würde ein sehr verdrießliches Gesicht machen, wenn etwa über Nacht Schlehen gewachsen wären. Ist aber jemand Freund von Schlehen, der wendet sich an die Dornen.

Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus für die Tragödie zu bauen, auch jede Woche ein Stück bloß für Männer zu geben. Allein dies setzte eine sehr große Residenz voraus und war in unsern kleinen Verhältnissen nicht zu realisieren.«

Wir sprachen über die Stücke von Iffland und Kotzebue, die Goethe in ihrer Art sehr hoch schätzte. »Eben aus dem gedachten Fehler,« sagte er, »daß niemand die Gattungen gehörig unterscheidet, sind die Stücke jener Männer oft sehr ungerechterweise getadelt worden. Man kann aber lange warten, ehe ein paar so populare Talente wieder kommen.«

Ich lobte Ifflands ›Hagestolzen‹, die mir von der Bühne herunter sehr wohl gefallen hatten. »Es ist ohne Frage Ifflands bestes Stück,« sagte Goethe; »es ist das einzige, wo er aus der Prosa ins Ideelle geht.«

Er erzählte mir darauf von einem Stück, welches er mit Schiller als Fortsetzung der ›Hagestolzen‹ gemacht, aber nicht geschrieben, sondern bloß gesprächsweise gemacht. Goethe entwickelte mir die Handlung Szene für Szene; es war sehr artig und heiter, und ich hatte daran große Freude.

Goethe sprach darauf über einige neue Schauspiele von Platen. »Man sieht«, sagte er, »an diesen Stücken die Einwirkung Calderons. Sie sind durchaus geistreich und in gewisser Hinsicht vollendet, allein es fehlt ihnen ein spezifisches Gewicht, eine gewisse Schwere des Gehalts. Sie sind nicht der Art, um im Gemüt des Lesers ein tiefes und nachwirkendes Interesse zu erregen, vielmehr berühren sie die Saiten unseres Innern nur leicht und vorübereilend. Sie gleichen dem Kork, der auf dem Wasser schwimmend keinen Eindruck macht, sondern von der Oberfläche sehr leicht getragen wird.

Der Deutsche verlangt einen gewissen Ernst, eine gewisse Größe der Gesinnung, eine gewisse Fülle des Innern, weshalb denn auch Schiller von allen so hoch gehalten wird. Ich zweifle nun keinesfalls an Platens sehr tüchtigem Charakter, allein das kommt, wahrscheinlich aus einer abweichenden Kunstansicht, hier nicht zur Erscheinung. Er entwickelt eine reiche Bildung, Geist, treffenden Witz und sehr viele künstlerische Vollendung; allein damit ist es, besonders bei uns Deutschen, nicht getan.

Überhaupt: der persönliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die Künste seines Talents. Napoleon sagte von Corneille: ›S'il vivait, je le ferais Prince‹ – und er las ihn nicht. Den Racine las er, aber von diesem sagte er es nicht. Deshalb steht auch der Lafontaine bei den Franzosen in so hoher Achtung, nicht seines poetischen Verdienstes wegen, sondern wegen der Großheit seines Charakters, der aus seinen Schriften hervorgeht.«

Wir kamen sodann auf die ›Wahlverwandtschaften‹ zu reden, und Goethe erzählte mir von einem durchreisenden Engländer, der sich scheiden lassen wolle, wenn er nach England zurückkäme. Er lachte über solche Torheit und erwähnte mehrere Beispiele von Geschiedenen, die nachher doch nicht hätten voneinander lassen können.

»Der selige Reinhard in Dresden«, sagte er, »wunderte sich oft über mich, daß ich in bezug auf die Ehe so strenge Grundsätze habe, während ich doch in allen übrigen Dingen so läßlich denke.«

Diese Äußerung Goethes war mir aus dem Grunde merkwürdig, weil sie ganz entschieden an den Tag legt, wie er es mit jenem so oft gemißdeuteten Romane eigentlich gemeint hat.

Wir sprachen darauf über Tieck und dessen persönliche Stellung zu Goethe.

»Ich bin Tiecken herzlich gut,« sagte Goethe, »und er ist auch im ganzen sehr gut gegen mich gesinnt; allein es ist in seinem Verhältnis zu mir doch etwas, wie es nicht sein sollte. Und zwar bin ich daran nicht schuld, und er ist es auch nicht, sondern es hat seine Ursachen anderer Art.

Als nämlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu mächtig, und um mich zu balancieren, mußten sie sich nach einem Talent umsehen, das sie mir entgegenstellten. Ein solches fanden sie in Tieck, und damit er mir gegenüber in den Augen des Publikums genugsam bedeutend erscheine, so mußten sie mehr aus ihm machen, als er war. Dieses schadete unserm Verhältnis; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es sich eigentlich bewußt zu werden, in eine schiefe Stellung.

Tieck ist ein Talent von hoher Bedeutung, und es kann seine außerordentlichen Verdienste niemand besser erkennen als ich selber; allein wenn man ihn über ihn selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im Irrtum. Ich kann dieses geradeheraus sagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es wäre ebenso, wenn ich mich mit Shakespeare vergleichen wollte, der sich auch nicht gemacht hat und der doch ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.«

Goethe war diesen Abend besonders kräftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuskript ungedruckter Gedichte herbei, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuß ganz einziger Art, ihm zuzuhören, denn nicht allein daß die originelle Kraft und Frische der Gedichte mich in hohem Grade anregte, sondern Goethe zeigte sich auch beim Vorlesen von einer mir bisher unbekannten höchst bedeutenden Seite. Welche Mannigfaltigkeit und Kraft der Stimme! Welcher Ausdruck und welches Leben des großen Gesichtes voller Falten! Und welche Augen!

 Top