Mittwoch, den 26. Juli 1826

Diesen Abend hatte ich das Glück, von Goethe manche Äußerung über das Theater zu hören.

Ich erzählte ihm, daß einer meiner Freunde die Absicht habe, Byrons ›Two Foscari‹ für die Bühne einzurichten. Goethe zweifelte am Gelingen.«

»Es ist freilich eine verführerische Sache«, sagte er. »Wenn ein Stück im Lesen auf uns große Wirkung macht, so denken wir, es müßte auch von der Bühne herunter so tun, und wir bilden uns ein, wir könnten mit weniger Mühe dazu gelangen. Allein es ist ein eigenes Ding. Ein Stück, das nicht ursprünglich mit Absicht und Geschick des Dichters für die Bretter geschrieben ist, geht auch nicht hinauf, und wie man auch damit verfährt, es wird immer etwas Ungehöriges und Widerstrebendes behalten. Welche Mühe habe ich mir nicht mit meinem ›Götz von Berlichingen‹ gegeben – aber doch will es als Theaterstück nicht recht gehen. Es ist zu groß, und ich habe es zu zwei Teilen einrichten müssen, wovon der letzte zwar theatralisch wirksam, der erste aber nur als Expositionsstück anzusehen ist. Wollte man den ersten Teil, des Hergangs der Sache willen, bloß einmal geben und sodann bloß den zweiten Teil wiederholt fortspielen, so möchte es gehen. Ein ähnliches Verhältnis hat es mit dem ›Wallenstein‹; die ›Piccolomini‹ werden nicht wiederholt, aber ›Wallensteins Tod‹ wird immerfort gern gesehen.«

Ich fragte, wie ein Stück beschaffen sein müsse, um theatralisch zu sein.

»Es muß symbolisch sein«, antwortete Goethe. »Das heißt: jede Handlung muß an sich bedeutend sein und auf eine noch wichtigere hinzielen. Der ›Tartüffe‹ von Molière ist in dieser Hinsicht ein großes Muster. Denken Sie nur an die erste Szene, was das für eine Exposition ist! Alles ist sogleich vom Anfange herein höchst bedeutend und läßt auf etwas noch Wichtigeres schließen, was kommen wird. Die Exposition von Lessings ›Minna von Barnhelm‹ ist auch vortrefflich, allein diese des ›Tartüffe‹ ist nur einmal in der Welt da; sie ist das Größte und Beste, was in dieser Art vorhanden.«

Wir kamen auf die Calderonschen Stücke.

»Bei Calderon«, sagte Goethe, »finden Sie dieselbe theatralische Vollkommenheit. Seine Stücke sind durchaus bretterrecht, es ist in ihnen kein Zug, der nicht für die beabsichtigte Wirkung kalkuliert wäre. Calderon ist dasjenige Genie, was zugleich den größten Verstand hatte.«

»Es ist wunderlich,« sagte ich, »daß die Shakespearischen Stücke keine eigentlichen Theaterstücke sind, da Shakespeare sie doch alle für sein Theater geschrieben hat.«

»Shakespeare«, erwiderte Goethe, »schrieb diese Stücke aus seiner Natur heraus, und dann machte seine Zeit und die Einrichtung der damaligen Bühne an ihn keine Anforderungen; man ließ sich gefallen, wie Shakespeare es brachte. Hätte aber Shakespeare für den Hof zu Madrid oder für das Theater Ludwigs des Vierzehnten geschrieben, er hätte sich auch wahrscheinlich einer strengeren Theaterform gefügt. Doch dies ist keineswegs zu beklagen; denn was Shakespeare als Theaterdichter für uns verloren hat, das hat er als Dichter im allgemeinen gewonnen. Shakespeare ist ein großer Psychologe, und man lernt aus seinen Stücken, wie den Menschen zumute ist.«

Wir sprachen über die Schwierigkeit einer guten Theaterleitung.

»Das Schwere dabei ist,« sagte Goethe, »daß man das Zufällige zu übertragen wisse und sich dadurch von seinen höheren Maximen nicht ableiten lasse. Diese höheren Maximen sind: ein gutes Repertoire trefflicher Tragödien, Opern und Lustspiele, worauf man halten und die man als das Feststehende ansehen muß. Zu dem Zufälligen aber rechne ich: ein neues Stück, das man sehen will, eine Gastrolle und dergleichen mehr. Von diesen Dingen muß man sich nicht irreleiten lassen, sondern immer wieder zu seinem Repertoire zurückkehren. Unsere Zeit ist nun an wahrhaft guten Stücken so reich, daß einem Kenner nichts Leichteres ist, als ein gutes Repertoire zu bilden. Allein es ist nichts schwieriger, als es zu halten.

Als ich mit Schillern dem Theater vorstand, hatten wir den Vorteil, daß wir den Sommer über in Lauchstädt spielten. Hier hatten wir ein auserlesenes Publikum, das nichts als vortreffliche Sachen wollte, und so kamen wir denn jedesmal eingeübt in den besten Stücken nach Weimar zurück und konnten hier den Winter über alle Sommervorstellungen wiederholen. Dazu hatte das weimarische Publikum auf unsere Leitung Vertrauen und war immer, auch bei Dingen, denen es nichts abgewinnen konnte, überzeugt, daß unserm Tun und Lassen eine höhere Absicht zum Grunde liege.

In den neunziger Jahren«, fuhr Goethe fort, »war die eigentliche Zeit meines Theaterinteresses schon vorüber, und ich schrieb nichts mehr für die Bühne, ich wollte mich ganz zum Epischen wenden. Schiller erweckte das schon erloschene Interesse, und ihm und seinen Sachen zuliebe nahm ich am Theater wieder Anteil. In der Zeit meines ›Clavigo‹ wäre es mir ein leichtes gewesen, ein Dutzend Theaterstücke zu schreiben; an Gegenständen fehlte es nicht, und die Produktion ward mir leicht; ich hätte immer in acht Tagen ein Stück machen können, und es ärgert mich noch, daß ich es nicht getan habe.«

 


 

Mittwoch, den 8. November 1826

Goethe sprach heute abermals mit Bewunderung über Lord Byron. »Ich habe«, sagte er, »seinen ›Deformed Transformed‹ wieder gelesen und muß sagen, daß sein Talent mir immer größer vorkommt. Sein Teufel ist aus meinem Mephistopheles hervorgegangen, aber es ist keine Nachahmung, es ist alles durchaus originell und neu, und alles knapp, tüchtig und geistreich. Es ist keine Stelle darin, die schwach wäre, nicht so viel Platz, um den Knopf einer Nadel hinzusetzen, wo man nicht auf Erfindung und Geist träfe. Ihm ist nichts im Wege als das Hypochondrische und Negative, und er wäre so groß wie Shakespeare und die Alten.« Ich wunderte mich. »Ja«, sagte Goethe, »Sie können es mir glauben, ich habe ihn von neuem studiert und muß ihm dies immer mehr zugestehen.«

In einem früheren Gespräche äußerte Goethe: Lord Byron habe zu viel Empirie. Ich verstand nicht recht, was er damit sagen wollte, doch enthielt ich mich ihn zu fragen und dachte der Sache im stillen nach. Es war aber durch Nachdenken nichts zu gewinnen, und ich mußte warten, bis meine vorschreitende Kultur oder ein glücklicher Umstand mir das Geheimnis aufschließen möchte. Ein solcher führte sich dadurch herbei, daß abends im Theater eine treffliche Vorstellung des ›Macbeth‹ auf mich wirkte und ich tags darauf die Werke des Lord Byron in die Hände nahm, um seinen ›Beppo‹ zu lesen. Nun wollte dieses Gedicht auf den ›Macbeth‹ mir nicht munden, und je weiter ich las, je mehr ging es mir auf, was Goethe bei jener Äußerung sich mochte gedacht haben.

Im ›Macbeth‹ hatte ein Geist auf mich gewirkt, der, groß, gewaltig und erhaben wie er war, von niemanden hatte ausgehen können als von Shakespeare selbst. Es war das Angeborene einer höher und tiefer begabten Natur, welche eben das Individuum, das sie besaß, vor allen auszeichnete und dadurch zum großen Dichter machte. Dasjenige, was zu diesem Stück die Welt und Erfahrung gegeben, war dem poetischen Geiste untergeordnet und diente nur, um diesen reden und verwalten zu lassen. Der große Dichter herrschte und hob uns an seine Seite hinauf zu der Höhe seiner Ansicht.

Beim Lesen des ›Beppo‹ dagegen empfand ich das Vorherrschen einer verruchten empirischen Welt, der sich der Geist, der sie uns vor die Sinne führt, gewissermaßen assoziiert hatte. Nicht mehr der angebotene größere und reinere Sinn eines hochbegabten Dichters begegnete mir, sondern des Dichters Denkungsweise schien durch ein häufiges Leben mit der Welt von gleichem Schlage geworden zu sein. Er erschien in gleichem Niveau mit allen vornehmen geistreichen Weltleuten, vor denen er sich durch nichts auszeichnete als durch sein großes Talent der Darstellung, so daß er denn auch als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.

Und so empfand ich denn beim Lesen des ›Beppo‹: Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht, weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen führte, sondern weil seine höhere poetische Natur zu schweigen, ja von einer empirischen Denkungsweise ausgetrieben zu sein schien.

 


 

Mittwoch, den 29. November 1826

Lord Byrons ›Deformed Transformed‹ hatte ich nun auch gelesen und sprach mit Goethe darüber nach Tisch.

»Nicht wahr,« sagte er, »die ersten Szenen sind groß und zwar poetisch groß. Das übrige, wo es auseinander und zur Belagerung Roms geht, will ich nicht als poetisch rühmen, allein man muß gestehen, daß es geistreich ist.«

»Im höchsten Grade,« sagte ich; »aber es ist keine Kunst geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt hat.«

Goethe lachte. »Sie haben nicht ganz unrecht,« sagte er »man muß freilich zugeben, daß der Poet mehr sagt, als man möchte; er sagt die Wahrheit, allein es wird einem nicht wohl dabei, und man sähe lieber, daß er den Mund hielt. Es gibt Dinge in der Welt, die der Dichter besser überhüllet als aufdeckt; doch dies ist eben Byrons Charakter, und man würde ihn vernichten, wenn man ihn anders wollte.«

»Ja,« sagte ich, »im höchsten Grade geistreich ist er. Wie trefflich ist z. B. diese Stelle:

The Devil speaks truth much oftener than he's deemed,
He hath an ignorant audience.«

»Das ist freilich ebenso groß und frei, als mein Mephistopheles irgend etwas gesagt hat.

Da wir vom Mephistopheles reden,« fuhr Goethe fort, »so will ich Ihnen doch etwas zeigen, was Coudray von Paris mitgebracht hat. Was sagen Sie dazu?«

Er legte mir einen Steindruck vor, die Szene darstellend, wo Faust und Mephistopheles, um Gretchen aus dem Kerker zu befreien, in der Nacht auf zwei Pferden an einem Hochgerichte vorbeisausen. Faust reitet ein schwarzes, das im gestrecktesten Galopp ausgreift und sich sowie sein Reiter vor den Gespenstern unter dem Galgen zu fürchten scheint. Sie reiten so schnell, daß Faust Mühe hat sich zu halten; die stark entgegenwirkende Luft hat seine Mütze entführt, die, von dem Sturmriemen am Halse gehalten, weit hinter ihm herfliegt. Er hat sein furchtsam fragendes Gesicht dem Mephistopheles zugewendet und lauscht auf dessen Worte. Dieser sitzt ruhig, unangefochten, wie ein höheres Wesen. Er reitet kein lebendiges Pferd, denn er liebt nicht das Lebendige. Auch hat er es nicht vonnöten, denn schon sein Wollen bewegt ihn in der gewünschtesten Schnelle. Er hat bloß ein Pferd, weil er einmal reitend gedacht werden muß und da genügte es ihm, ein bloß noch in der Haut zusammenhängendes Gerippe vom ersten besten Anger aufzuraffen. Es ist heller Farbe und scheint in der Dunkelheit der Nacht zu phosphoreszieren. Es ist weder gezügelt noch gesattelt, es geht ohne das. Der überirdische Reiter sitzt leicht und nachlässig, im Gespräch zu Faust gewendet; das entgegenwirkende Element der Luft ist für ihn nicht da, er wie sein Pferd empfinden nichts, es wird ihnen kein Haar bewegt.

Wir hatten an dieser geistreichen Komposition große Freude. »Da muß man doch gestehen,« sagte Goethe, »daß man es sich selbst nicht so vollkommen gedacht hat. Hier haben Sie ein anderes Blatt, was sagen Sie zu diesem!«

Die wilde Trinkszene in Auerbachs Keller sah ich dargestellt, und zwar, als Quintessenz des Ganzen, den bedeutendsten Moment, wo der verschüttete Wein als Flamme auflodert und die Bestialität der Trinkenden sich auf die verschiedenste Weise kundgibt. Alles ist Leidenschaft und Bewegung, und nur Mephistopheles bleibt in der gewohnten heiteren Ruhe. Das wilde Fluchen und Schreien und das gezuckte Messer des ihm zunächst Stehenden sind ihm nichts. Er hat sich auf eine Tischecke gesetzt und baumelt mit den Beinen; sein aufgehobener Finger ist genug, um Flamme und Leidenschaft zu dämpfen.

Je mehr man dieses treffliche Bild betrachtete, desto mehr fand man den großen Verstand des Künstlers, der keine Figur der andern gleich machte und in jeder eine andere Stufe der Handlung darstellte.

»Herr Delacroix«, sagte Goethe, »ist ein großes Talent, das gerade am ›Faust‹ die rechte Nahrung gefunden hat. Die Franzosen tadeln an ihm seine Wildheit, allein hier kommt sie ihm recht zustatten. Er wird, wie man hofft, den ganzen ›Faust‹ durchführen, und ich freue mich besonders auf die Hexenküche und die Brockenszenen. Man sieht ihm an, daß er das Leben recht durchgemacht hat, wozu ihm denn eine Stadt wie Paris die beste Gelegenheit geboten.«

Ich machte bemerklich, daß solche Bilder zum besseren Verstehen des Gedichts sehr viel beitrügen. »Das ist keine Frage,« sagte Goethe; »denn die vollkommene Einbildungskraft eines solchen Künstlers zwingt uns, die Situationen so gut zu denken, wie er sie selber gedacht hat. Und wenn ich nun gestehen muß, daß Herr Delacroix meine eigene Vorstellung bei Szenen übertroffen hat, die ich selber gemacht habe, um wie viel mehr werden nicht die Leser alles lebendig und über ihre Imagination hinausgehend finden!«

 


 

Montag, den 11. [?] Dezember 1826

Ich fand Goethe in einer sehr heiter aufgeregten Stimmung. »Alexander von Humboldt ist diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen«, sagte er mir sehr belebt entgegen. »Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hierbleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt.«

 


 

Mittwoch, den 13. Dezember 1826

Über Tisch lobten die Frauen ein Porträt eines jungen Malers. »Und was bewundernswürdig ist,« fügten sie hinzu, »er hat alles von selbst gelernt.« Dieses merkte man denn auch besonders an den Händen, die nicht richtig und kunstmäßig gezeichnet waren.

»Man sieht,« sagte Goethe, »der junge Mann hat Talent; allein daß er alles von selbst gelernt hat, deswegen soll man ihn nicht loben, sondern schelten. Ein Talent wird nicht geboren, um sich selbst überlassen zu bleiben, sondern sich zur Kunst und guten Meistern zu wenden, die denn etwas aus ihm machen. Ich habe dieser Tage einen Brief von Mozart gelesen, wo er einem Baron, der ihm Kompositionen zugesendet hatte, etwa folgendes schreibt: ›Euch Dilettanten muß man schelten, denn es finden bei euch gewöhnlich zwei Dinge statt: entweder ihr habt keine eigene Gedanken, und da nehmet ihr fremde; oder wenn ihr eigene Gedanken habt, so wißt ihr nicht damit umzugehen.‹ Ist das nicht himmlisch? Und gilt dieses große Wort, was Mozart von der Musik sagt, nicht von allen übrigen Künsten?«

Goethe fuhr fort: »Lenardo da Vinci sagt: ›Wenn in euerm Sohn nicht der Sinn steckt, dasjenige, was er zeichnet, durch kräftige Schattierung so herauszuheben, daß man es mit Händen greifen möchte, so hat er kein Talent.‹

Und ferner sagt Lenardo da Vinci: ›Wenn euer Sohn Perspektive und Anatomie völlig innehat, so tut ihn zu einem guten Meister.‹

Und jetzt«, sagte Goethe, »verstehen unsere jungen Künstler beides kaum, wenn sie ihre Meister verlassen. So sehr haben sich die Zeiten geändert.

Unsern jungen Malern«, fuhr Goethe fort, »fehlt es an Gemüt und Geist; ihre Erfindungen sagen nichts und wirken nichts; sie malen Schwerter, die nicht hauen, und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt sich mir oft auf, als wäre aller Geist aus der Welt verschwunden.«

»Und doch«, versetzte ich, »sollte man glauben, daß die großen kriegerischen Ereignisse der letzten Jahre den Geist aufgeregt hätten.«

»Mehr Wollen«, sagte Goethe, »haben sie aufgeregt als Geist, und mehr politischen Geist als künstlerischen, und alle Naivetät und Sinnlichkeit ist dagegen gänzlich verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne diese beiden großen Erfordernisse etwas machen, woran man Freude haben könnte.«

Ich sagte, daß ich dieser Tage in seiner ›Italienischen Reise‹ von einem Bilde Correggios gelesen, welches eine Entwöhnung darstellt, wo das Kind Christus auf dem Schoße der Maria zwischen der Mutterbrust und einer hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß, welches von beiden es wählen soll.

»Ja«, sagte Goethe, »das ist ein Bildchen! Da ist Geist, Naivetät, Sinnlichkeit, alles beieinander. Und der heilige Gegenstand ist allgemein menschlich geworden und gilt als Symbol für eine Lebensstufe, die wir alle durchmachen. Ein solches Bild ist ewig, weil es in die frühesten Zeiten der Menschheit zurück- und in die künftigsten vorwärtsgreift. Wollte man dagegen den Christus malen, wie er die Kindlein zu sich kommen läßt, so wäre das ein Bild, welches gar nichts zu sagen hätte, wenigstens nichts von Bedeutung.

Ich habe nun«, fuhr Goethe fort, »der deutschen Malerei über funfzig Jahre zugesehen, ja nicht bloß zugesehen, sondern auch von meiner Seite einzuwirken gesucht, und kann jetzt so viel sagen, daß, so wie alles jetzt steht, wenig zu erwarten ist. Es muß ein großes Talent kommen, welches sich alles Gute der Zeit sogleich aneignet und dadurch alles übertrifft. Die Mittel sind alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben wir doch jetzt sogar auch die Phidiasse vor Augen, woran in unserer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt jetzt, wie gesagt, weiter nichts als ein großes Talent, und dieses, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht schon in der Wiege, und Sie können seinen Glanz noch erleben.«

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