Mittwoch, den 18. Juli 1827

»Ich habe Ihnen zu verkündigen,« war heute Goethes erstes Wort bei Tisch, »daß Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Lokalitäten und dergleichen gegen die großen inneren Eigenschaften um kein Haar zurücksteht. Das will etwas heißen.« Ich war verwundert und erfreut, dieses zu hören. »Der Eindruck beim Lesen«, fuhr Goethe fort, »ist der Art, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung wieder in die Rührung, so daß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht treiben. In diesem Roman sieht man erst recht, was Manzoni ist. Hier kommt sein vollendetes Innere zum Vorschein, welches er bei seinen dramatischen Sachen zu entwickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den besten Roman von Walter Scott lesen, etwa den ›Waverley‹, den ich noch nicht kenne, und ich werde sehen, wie Manzoni sich gegen diesen großen englischen Schriftsteller ausnehmen wird. Manzonis innere Bildung erscheint hier auf einer solchen Höhe, daß ihm schwerlich etwas gleichkommen kann; sie beglückt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des einzelnen, wie der italienische Himmel selber.« – »Sind auch Spuren von Sentimentalität in ihm?« fragte ich. – »Durchaus nicht«, antwortete Goethe. »Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität; die Zustände sind männlich und rein empfunden. Ich will heute nichts weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber sollen Sie mehr hören.«

 


 

Sonnabend, den 21. Juli 1827

Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzonis Roman. »Ich bin schon im dritten Bande,« sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, »und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerspiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher anderen Dichtung. Sie finden es in meinem ›Gott und die Bajadere‹, Sie finden es in jedem guten Lustspiele, und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den ›Sieben Mädchen in Uniform‹, indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ›Wahlverwandtschaften‹. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den ›Galeerensklaven‹ und im ›Freischütz‹; ja in der Szene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch, und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöset und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werden. Was sagen Sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.

Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom ›Globe‹ zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheit genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werkes ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gerne zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden, selbst bei dem Besten, immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.«

Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben. »Es kommen«, fuhr er sodann fort, »Manzoni vorzüglich vier Dinge zustatten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werkes beigetragen. Zunächst daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vorteilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde. So wie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten, die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und teils zugrunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comer See vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennet. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werkes, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Lokalität.«

 


 

Montag, den 23. Juli 1827

Als ich diesen Abend gegen acht Uhr in Goethes Hause anfragte, hörte ich, er sei noch nicht vom Garten zurückgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kühlen Linden sitzen, seinen Enkel Wolfgang an seiner Seite.

Goethe schien sich meiner Annäherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die ersten flüchtigen Reden des Zusammentreffens abgetan, als das Gespräch sich wieder auf Manzoni wendete.

»Ich sagte Ihnen doch neulich,« begann Goethe, »daß unserm Dichter in diesem Roman der Historiker zugute käme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung von Krieg, Hungersnot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind und die nun durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungersnot um einen guten Teil, und die der Pest um zwei Dritteil zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten. Hätte Manzoni einen ratgebenden Freund zur Seite gehabt, er hätte diesen Fehler sehr leicht vermeiden können. Aber er hatte als Historiker zu großen Respekt vor der Realität. Dies macht ihm schon bei seinen dramatischen Werken zu schaffen, wo er sich jedoch dadurch hilft, daß er den überflüssigen geschichtlichen Stoff als Noten beigibt. In diesem Falle aber hat er sich nicht so zu helfen gewußt und sich von dem historischen Vorrat nicht trennen können. Dies ist sehr merkwürdig. Doch sobald die Personen des Romans wieder auftreten, steht der Poet in voller Glorie wieder da und nötigt uns wieder zu der gewohnten Bewunderung.

Wir standen auf und lenkten unsere Schritte dem Hause zu.

»Man sollte kaum begreifen,« fuhr Goethe fort, »wie ein Dichter wie Manzoni, der eine so bewunderungswürdige Komposition zu machen versteht, nur einen Augenblick gegen die Poesie hat fehlen können. Doch die Sache ist einfach; sie ist diese.

Manzoni ist ein geborener Poet, so wie Schiller einer war. Doch unsere Zeit ist so schlecht, daß dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei großen Dingen: zu Philosophie und Geschichte; Manzoni zur Geschichte allein. Schillers ›Wallenstein‹ ist so groß, daß in seiner Art zum zweiten Mal nicht etwas Ähnliches vorhanden ist; aber Sie werden finden, daß eben diese beiden gewaltigen Hülfen, die Geschichte und Philosophie, dem Werke an verschiedenen Teilen im Wege sind und seinen reinen poetischen Sukzeß hindern. So leidet Manzoni durch ein Übergewicht der Geschichte.«

»Euer Exzellenz«, sagte ich, »sprechen große Dinge aus, und ich bin glücklich, Ihnen zuzuhören.« – »Manzoni«, sagte Goethe, »hilft uns zu guten Gedanken.« Er wollte in Äußerung seiner Betrachtungen fortfahren, als der Kanzler an der Pforte von Goethes Hausgarten uns entgegentrat und so das Gespräch unterbrochen wurde. Er gesellte sich als ein Willkommener zu uns, und wir begleiteten Goethe die kleine Treppe hinauf durch das Büstenzimmer in den länglichen Saal, wo die Rouleaus niedergelassen waren und auf dem Tische am Fenster zwei Lichter brannten. Wir setzten uns um den Tisch, wo dann zwischen Goethe und dem Kanzler Gegenstände anderer Art verhandelt wurden.

 


 

Mittwoch, den 24. September 1827

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. »Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht«, sagte Goethe. »Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden,« fuhr Goethe fort, »um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die ›Lazarett-Poesie‹ nennen; dagegen die echt ›tyrtäische‹ diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.« Goethes Worte erhielten meine ganze Zustimmung.

Im Wagen zu unsern Füßen lag ein aus Binsen geflochtener Korb mit zwei Handgriffen, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Ich habe ihn«, sagte Goethe, »aus Marienbad mitgebracht, wo man solche Körbe in allen Größen hat, und ich bin so an ihn gewöhnt, daß ich nicht reisen kann, ohne ihn bei mir zu führen. Sie sehen, wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr, als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann.«

»Er sieht sehr malerisch und sogar antik aus«, sagte ich. »Sie haben recht,« sagte Goethe, »er kommt der Antike nahe, denn er ist nicht allein so vernünftig und zweckmäßig als möglich, sondern er hat auch dabei die einfachste, gefälligste Form, so daß man also sagen kann: er steht auf dem höchsten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogischen Exkursionen in den böhmischen Gebirgen ist er mir besonders zustatten gekommen. Jetzt enthält er unser Frühstück. Hätte ich einen Hammer mit, so möchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stückchen abzuschlagen und ihn mit Steinen gefüllt zurückzubringen.«

Wir waren auf die Höhe gekommen und hatten die freie Aussicht auf die Hügel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links sahen wir in das Tal, das nach Hetschburg führt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns seine Schattenseite zukehrte und wegen der vorschwebenden Dünste des Ilmtales meinen Augen blau erschien. Ich blickte durch mein Glas auf dieselbige Stelle, und das Blau verringerte sich auffallend. Ich machte Goethen diese Bemerkung. »Da sieht man doch,« sagte ich, »wie auch bei den rein objektiven Farben das Subjekt eine große Rolle spielt. Ein schwaches Auge befördert die Trübe, dagegen ein geschärftes treibt sie fort oder macht sie wenigstens geringer.«

»Ihre Bemerkung ist vollkommen richtig,« sagte Goethe; »durch ein gutes Fernrohr kann man sogar das Blau der fernsten Gebirge verschwinden machen. Ja, das Subjekt ist bei allen Erscheinungen wichtiger, als man denkt. Schon Wieland wußte dieses sehr gut, denn er pflegte gewöhnlich zu sagen: Man könnte die Leute wohl amüsieren, wenn sie nur amüsabel wären. –« Wir lachten über den heiteren Geist dieser Worte.

Wir waren indes das kleine Tal hinabgefahren, wo die Straße über eine hölzerne, mit einem Dach überbaute Brücke geht, unter welcher das nach Hetschburg hinabfließende Regenwasser sich ein Bette gebildet hat, das jetzt trocken lag. Chausseearbeiter waren beschäftigt, an den Seiten der Brücke einige aus rötlichem Sandsteine gehauene Steine zu errichten, die Goethes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Etwa eine Wurfsweite über die Brücke hinaus, wo die Straße sich sachte an den Hügel hinanhebt, der den Reisenden von Berka trennet, ließ Goethe halten. »Wir wollen hier ein wenig aussteigen«, sagte er, »und sehen, ob ein kleines Frühstück in freier Luft uns schmecken wird.« Wir stiegen aus und sahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette über einen viereckigen Steinhaufen, wie sie an den Chausseen zu liegen pflegen, und holte aus dem Wagen den aus Binsen geflochtenen Korb, aus welchem er neben frischen Semmeln gebratene Rebhühner und saure Gurken auftischte. Goethe schnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Hälfte. Ich aß, indem ich stand und herumging; Goethe hatte sich dabei auf die Ecke eines Steinhaufens gesetzt. Die Kälte der Steine, woran noch der nächtliche Tau hängt, kann ihm unmöglich gut sein, dachte ich und machte meine Besorgnis bemerklich; Goethe aber versicherte, daß es ihm durchaus nicht schade, wodurch ich mich denn beruhigt fühlte und es als ein neues Zeichen ansah, wie kräftig er sich in seinem Innern empfinden müsse. Der Bediente hatte indes auch eine Flasche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einschenkte. »Unser Freund Schütze«, sagte Goethe, »hat nicht unrecht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muster nehmen, und wenn das Wetter sich nur einigermaßen hält, so soll dies auch unsere letzte Partie nicht gewesen sein.« Ich freute mich dieser Versicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, teils in Berka, teils in Tonndorf, einen höchst merkwürdigen Tag. Er war in den geistreichsten Mitteilungen unerschöpflich; auch über den zweiten Teil des ›Faust‹, woran er damals ernstlich zu arbeiten anfing, äußerte er viele Gedanken, und ich bedauere deshalb um so mehr, daß in meinem Tagebuche sich nichts weiter notiert findet als diese Einleitung.

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