Sonnabend, den 19. Februar 1831

Bei Goethe zu Tisch mit Hofrat Vogel. Goethen war eine Broschüre über die Insel Helgoland zugekommen, worin er mit großem Interesse las und uns das Wesentlichste daraus mitteilte.

Nach den Gesprächen über eine so eigentümliche Lokalität kamen ärztliche Dinge an die Reihe, und Vogel erzählte als das Neueste des Tages von den natürlichen Blattern, die trotz aller Impfung mit einem Male wieder in Eisenach hervorgebrochen seien und in kurzer Zeit bereits viele Menschen hingerafft hätten.

»Die Natur«, sagte Vogel, »spielt einem doch immer einmal wieder einen Streich, und man muß sehr aufpassen, wenn eine Theorie gegen sie ausreichen soll. Man hielt die Schutzblattern so sicher und so untrüglich, daß man ihre Einimpfung zum Gesetz machte. Nun aber dieser Vorfall in Eisenach, wo die Geimpften von den natürlichen dennoch befallen worden, macht die Unfehlbarkeit der Schutzblattern verdächtig und schwächt die Motive für das Ansehen des Gesetzes.«

»Dennoch aber«, sagte Goethe, »bin ich dafür, daß man von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehe, in dem solche kleine Ausnahmen gegen die unübersehbaren Wohltaten des Gesetzes gar nicht in Betracht kommen.«

»Ich bin auch der Meinung«, sagte Vogel, »und möchte sogar behaupten, daß in allen solchen Fällen, wo die Schutzblattern vor den natürlichen nicht gesichert, die Impfung mangelhaft gewesen ist. Soll nämlich die Impfung schützen, so muß sie so stark sein, daß Fieber entsteht; ein bloßer Hautreiz ohne Fieber schützt nicht. Ich habe daher heute in der Session den Vorschlag getan, eine verstärkte Impfung der Schutzblattern allen im Lande damit Beauftragten zur Pflicht zu machen.«

»Ich hoffe, daß Ihr Vorschlag durchgegangen ist,« sagte Goethe, »so wie ich immer dafür bin, strenge auf ein Gesetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige, wo man aus Schwäche und übertriebener Liberalität überall mehr nachgibt als billig.«

Es kam sodann zur Sprache, daß man jetzt auch in der Zurechnungsfähigkeit der Verbrecher anfange weich und schlaff zu werden, und daß ärztliche Zeugnisse und Gutachten oft dahin gehen, den Verbrecher an der verwirkten Strafe vorbei zu helfen. Bei dieser Gelegenheit lobte Vogel einen jungen Physikus, der in ähnlichen Fällen immer Charakter zeige und der noch kürzlich, bei dem Zweifel eines Gerichtes, ob eine gewisse Kindesmörderin für zurechnungsfähig zu halten, sein Zeugnis dahin ausgestellt habe, daß sie es allerdings sei.

 


 

Sonntag, den 20. Februar 1831

Mit Goethe zu Tisch. Er eröffnete mir, daß er meine Beobachtung über die blauen Schatten im Schnee, daß sie nämlich aus dem Widerschein des blauen Himmels entstehen, geprüft habe und für richtig anerkenne. »Es kann jedoch beides zugleich wirken,« sagte er, »und die durch das gelbliche Licht erregte Forderung kann die blaue Erscheinung verstärken.« Ich gebe dieses vollkommen zu und freue mich, daß Goethe mir endlich beistimmet.

»Es ärgert mich nur,« sagte ich, »daß ich meine Farbenbeobachtungen am Monte Rosa und Montblanc nicht an Ort und Stelle im Detail niedergeschrieben habe. Das Hauptresultat jedoch war, daß in einer Entfernung von achtzehn bis zwanzig Stunden, mittags bei der hellesten Sonne, der Schnee gelb, ja rötlichgelb erschien, während die schneefreien dunkelen Teile des Gebirgs im entschiedensten Blau herübersahen. Das Phänomen überraschte mich nicht, indem ich mir hätte vorhersagen können, daß die gehörige Masse von zwischenliegender Trübe dem, die Mittagssonne reflektierenden, weißen Schnee einen tiefgelben Ton geben würde; aber das Phänomen freute mich besonders aus dem Grunde, weil es die irrige Ansicht einiger Naturforscher, daß die Luft eine blaufärbende Eigenschaft besitze, so ganz entschieden widerlegt. Denn wäre die Luft in sich bläulich, so hätte eine Masse von zwanzig Stunden, wie sie zwischen mir und dem Monte Rosa lag, den Schnee müssen hellblau oder weißbläulich durchscheinen lassen, aber nicht gelb und gelbrötlich.«

»Die Beobachtung«, sagte Goethe, »ist von Bedeutung und widerlegt jenen Irrtum durchaus.«

»Im Grunde«, sagte ich, »ist die Lehre vom Trüben sehr einfach, so daß man gar zu leicht zu dem Glauben verführt wird, man könnte sie einem andern in wenig Tagen und Stunden überliefern. Das Schwierige aber ist, nun mit dem Gesetz zu operieren und ein Urphänomen in tausendfältig bedingten und verhüllten Erscheinungen immer wieder zu erkennen.«

»Ich möchte es dem Whist vergleichen,« sagte Goethe, »dessen Gesetze und Regeln auch gar leicht zu überliefern sind, das man aber sehr lange gespielt haben muß, um darin ein Meister zu sein. Überhaupt lernet niemand etwas durch bloßes Anhören, und wer sich in gewissen Dingen nicht selbst tätig bemühet, weiß die Sachen nur oberflächlich und halb.«

Goethe erzählte mir sodann von dem Buche eines jungen Physikers, das er loben müsse wegen der Klarheit, mit der es geschrieben, und dem er die teleologische Richtung gerne nachsehe.

»Es ist dem Menschen natürlich,« sagte Goethe, »sich als das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen Dinge nur in bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen. Er bemächtiget sich der vegetabilischen und animalischen Welt, und indem er andere Geschöpfe als passende Nahrung verschlingt, erkennet er seinen Gott und preiset dessen Güte, die so väterlich für ihn gesorget. Der Kuh nimmt er die Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen ihm nützlichen Zweck gibt, glaubt er auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja er kann sich nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn da sei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht erkannt hat, so glaubt er doch, daß solches sich künftig ihm gewiß entdecken werde.

Und wie der Mensch nun im allgemeinen denkt, so denkt er auch im besonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen.

Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht und wo er, ohne höheren Halt, sich in lauter Widersprüchen verwickelt.

Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen?

Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat.

Die Frage nach dem Zweck, die Frage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: wie hat der Ochse Hörner? so führet mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehret mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.

So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehret, daß diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem Maße befinden und die sich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht ganz verloren haben.

Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen.

Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter gibt und dem Menschen Speise und Trank, so viel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott!«

 


 

Montag, den 21. Februar 1831

Goethe lobte sehr die neueste Rede von Schelling, womit dieser die Münchener Studenten beruhigt. »Die Rede«, sagte er, »ist durch und durch gut, und man freuet sich einmal wieder über das vorzügliche Talent, das wir lange kannten und verehrten. Es war in diesem Falle ein trefflicher Gegenstand und ein redlicher Zweck, wo ihm denn das Vorzüglichste gelungen ist. Könnte man von dem Gegenstande und Zweck seiner Kabirenschrift dasselbige sagen, so würden wir ihn auch da rühmen müssen, denn seine rhetorischen Talente und Künste hat er auch da bewiesen.«

Schellings ›Kabiren‹ brachten das Gespräch auf die ›Klassische Walpurgisnacht‹, und wie sich diese von den Brockenszenen des ersten Teiles unterscheide.

»Die alte Walpurgisnacht«, sagte Goethe, »ist monarchisch, indem der Teufel dort überall als entschiedenes Oberhaupt respektiert wird; die klassische aber ist durchaus republikanisch, indem alles in der Breite nebeneinander steht, so daß der eine so viel gilt wie der andere, und niemand sich subordiniert und sich um den andern bekümmert.«

»Auch«, sagte ich, »sondert sich in der klassischen alles in scharf umrissene Individualitäten, während auf dem deutschen Blocksberg jedes einzelne sich in eine allgemeine Hexenmasse auflöset.«

»Deshalb«, sagte Goethe, »weiß auch der Mephistopheles, was es zu bedeuten hat, wenn der Homunkulus ihm von thessalischen Hexen redet. Ein guter Kenner des Altertums wird bei dem Wort thessalische Hexen sich auch einiges zu denken vermögen, während es dem Ungelehrten ein bloßer Name bleibt.«

»Das Altertum«, sagte ich, »mußte Ihnen doch sehr lebendig sein, um alle jene Figuren wieder so frisch ins Leben treten zu lassen und sie mit solcher Freiheit zu gebrauchen und zu behandeln, wie Sie es getan haben.«

»Ohne eine lebenslängliche Beschäftigung mit der bildenden Kunst«, sagte Goethe, »wäre es mir nicht möglich gewesen. Das Schwierige indessen war, sich bei so großer Fülle mäßig zu halten und alle solche Figuren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention paßten. So habe ich z. B. von dem Minotaurus, den Harpyien und einigen andern Ungeheuern keinen Gebrauch gemacht.«

»Aber was Sie in jener Nacht erscheinen lassen,« sagte ich, »ist alles so zusammengehörig und so gruppiert, daß man es sich in der Einbildungskraft leicht und gerne zurückruft und alles willig ein Bild macht. Die Maler werden sich so gute Anlässe auch gewiß nicht entgehen lassen; besonders freue ich mich, den Mephistopheles bei den Phorkyaden zu sehen, wo er im Profil die famöse Maske probiert.«

»Es stecken darin einige gute Späße,« sagte Goethe, »welche die Welt über kurz oder lang auf manche Weise benutzen wird. Wenn die Franzosen nur erst die ›Helena‹ gewahr werden und sehen, was daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist, verderben; aber sie werden es zu ihren Zwecken klug gebrauchen, und das ist alles, was man erwarten und wünschen kann. Der Phorkyas werden sie sicher einen Chor von Ungeheuern beigeben, wie es an einer Stelle auch bereits angedeutet ist.«

»Es käme darauf an,« sagte ich, »daß ein tüchtiger Poet von der romantischen Schule das Stück durchweg als Oper behandelte, und Rossini sein großes Talent zu einer bedeutenden Komposition zusammennähme, um mit der ›Helena‹ Wirkung zu tun. Denn es sind darin Anlässe zu prächtigen Dekorationen, überraschenden Verwandlungen, glänzenden Kostümen und reizenden Balletten, wie nicht leicht in einem anderen Stück, ohne zu erwähnen, daß eine solche Fülle von Sinnlichkeit sich auf dem Fundament einer geistreichen Fabel bewegt, wie sie nicht leicht besser erfunden werden dürfte.«

»Wir wollen erwarten,« sagte Goethe, »was uns die Götter Weiteres bringen. Es läßt sich in solchen Dingen nichts beschleunigen. Es kommt darauf an, daß es den Menschen aufgehe, und daß Theaterdirektoren, Poeten und Komponisten darin ihren Vorteil gewahr werden.«

 


 

Dienstag, den 22. Februar 1831

Oberkonsistorialrat Schwabe begegnet mir in den Straßen; ich begleite ihn eine Strecke, wo er mir von seinen mannigfaltigen Geschäften erzählt und ich in den bedeutenden Wirkungskreis dieses vorzüglichen Mannes hineinblicke. Er sagt, daß er in den Nebenstunden sich mit Herausgabe eines Bändchens neuer Predigten beschäftige, daß eins seiner Schulbücher kürzlich ins Dänische übersetzt, daß davon vierzigtausend Exemplare verkauft worden und man es in Preußen in den vorzüglichsten Schulen eingeführt habe. Er bittet mich, ihn zu besuchen, welches ich mit Freuden verspreche.

Darauf mit Goethe zu Tisch rede ich über Schwabe, und Goethe stimmt in dessen Lob vollkommen ein. »Die Großherzogin«, sagte er, »schätzet ihn auch im hohen Grade, wie denn diese Dame überhaupt recht gut weiß, was sie an den Leuten hat. Ich werde ihn zu meiner Porträtsammlung zeichnen lassen, und Sie tun sehr wohl, ihn zu besuchen und ihn vorläufig um diese Erlaubnis zu bitten. Besuchen Sie ihn ja, zeigen Sie ihm Teilnahme an dem, was er tut und vorhat. Es wird für Sie von Interesse sein, in einen Wirkungskreis eigener Art hineinzublicken, wovon man doch, ohne einen näheren Verkehr mit einem solchen Mann, keinen rechten Begriff hat.«

Ich verspreche, dieses zu tun, indem die Kenntnis praktisch tätiger, das Nützliche befördernder Menschen meine wahre Neigung ist.

 


 

Mittwoch, den 23. Februar 1831

Vor Tisch, bei einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee, begegnet mir Goethe, welcher halten läßt und mich in seinen Wagen nimmt. Wir fahren eine gute Strecke hinaus bis auf die Höhe neben das Tannenhölzchen und reden über naturhistorische Dinge.

Die Hügel und Berge waren mit Schnee bedeckt, und ich erwähne die große Zartheit des Gelben, und daß in der Entfernung von einigen Meilen, mittelst zwischenliegender Trübe, ein Dunkeles eher blau erscheine, als ein Weißes gelb. Goethe stimmet mir zu, und wir sprechen sodann von der hohen Bedeutung der Urphänomene, hinter welchen man unmittelbar die Gottheit zu gewahren glaube.

»Ich frage nicht,« sagte Goethe, »ob dieses höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle: es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon soviel, daß er Teile des Höchsten erkennen mag.«

Bei Tisch kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwähnung, die, um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts gehen wollen. »Dieses ist ein großer Irrtum«, sagte Goethe. »In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Komplizierteste. Man sieht also, daß beide Welten ganz verschiedene Tendenzen haben, und daß von der einen zur andern keineswegs ein stufenartiges Fortschreiten stattfindet.«

Ich merkte mir dieses als von großer Bedeutung.

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