Montag, den 2. Juni 1823*

Der Kanzler, Riemer und Meyer waren bei Goethe. Man sprach über die Gedichte von Béranger, und Goethe kommentierte und paraphrasierte einige derselben mit großer Originalität und guter Laune.

Sodann war von Physik und Meteorologie die Rede. Goethe ist im Begriff, die Theorie einer Witterungslehre auszuarbeiten, wobei er das Steigen und Fallen des Barometers gänzlich den Wirkungen des Erdballes und dessen Anziehung und Entlassung der Atmosphäre zuschreiben wird.

»Die Herren Gelehrten und namentlich die Herren Mathematiker«, fuhr Goethe fort, »werden nicht verfehlen, meine Ideen durchaus lächerlich zu finden; oder auch, sie werden noch besser tun, sie werden sie vornehmerweise völlig ignorieren. Wissen Sie aber warum? Weil sie sagen, ich sei kein Mann vom Fache.«

»Der Kastengeist der Gelehrten«, erwiderte ich, »wäre wohl zu verzeihen. Wenn sich in ihre Theorien einige Irrtümer eingeschlichen haben und darin fortgeschleppt werden, so muß man die Ursache darin suchen, daß sie dergleichen zu einer Zeit als Dogmen überliefert bekommen haben, wo sie selber noch auf den Schulbänken saßen.«

»Das ists eben!« rief Goethe. »Eure Gelehrten machen es wie unsere weimarischen Buchbinder. Das Meisterstück, das man von ihnen verlangt, um in die Gilde aufgenommen zu werden, ist keineswegs ein hübscher Einband nach dem neuesten Geschmack. Nein, weit entfernt! Es muß noch immer eine dicke Bibel in Folio geliefert werden, ganz wie sie vor zwei bis drei Jahrhunderten Mode war, mit plumpen Deckeln und in starkem Leder. Die Aufgabe ist eine Absurdität. Aber es würde dem armen Handwerker schlecht gehen, wenn er behaupten wollte, seine Examinatoren wären dumme Leute.«

 


 

Freitag, den 24. Oktober 1823*

Abends bei Goethe. Madame Szymanowska, deren Bekanntschaft er diesen Sommer in Marienbad gemacht, phantasierte auf dem Flügel. Goethe, im Anhören verloren, schien mitunter sehr ergriffen und bewegt.

 


 

Dienstag, den 11. November 1823*

Kleine Abendgesellschaft bei Goethe, der seit längerer Zeit wieder leidend ist. Seine Füße hatte er in eine wollene Decke gewickelt, die ihn seit dem Feldzuge in der Champagne überallhin begleitet. Bei Gelegenheit dieser Decke erzählte er uns eine Anekdote aus dem Jahre 1806, wo die Franzosen Jena okkupiert hatten und der Kaplan eines französischen Regiments Behänge zum Schmuck seines Altars requirierte. »Man hatte ihm ein Stück glänzend karmesinrotes Zeug geliefert,« sagte Goethe, »das ihm aber noch nicht gut genug war. Er beschwerte sich darüber bei mir. ›Schicken Sie mir jenes Zeug,‹ antwortete ich ihm, ›ich will sehen, ob ich Ihnen etwas Besseres verschaffen kann.‹ Indessen hatten wir auf unserm Theater ein neues Stück zu geben, und ich benutzte den prächtigen roten Stoff, um damit meine Schauspieler herauszuputzen. Was aber meinen Kaplan betraf, so erhielt er weiter nichts; er ward vergessen, und er hat sehen müssen, wie er sich selber half.«

 


 

Sonntag, den 16. [Sonnabend, den 15.] November 1823*

Goethe ist immer noch nicht besser. Die Frau Großfürstin schickte ihm diesen Abend durch mich einige sehr schöne Medaillen, deren Betrachtung ihm vielleicht einige Zerstreuung und Aufheiterung gewähren möchte. Goethe war über diese zarte Aufmerksamkeit seiner hohen Fürstin sichtbar erfreut. Er klagte mir darauf, daß er denselbigen Schmerz an der Seite des Herzens fühle, wie er seiner schweren Krankheit vom vorigen Winter vorangegangen. »Ich kann nicht arbeiten,« sagte er, »ich kann nicht lesen, und selbst das Denken gelingt mir nur in glücklichen Augenblicken der Erleichterung.«

 


 

Montag, den 17. [Sonntag, den 16.] November 1823*

Humboldt ist hier. Ich war heute einen Augenblick bei Goethe, wo es mir schien, als ob die Gegenwart und die Unterhaltung Humboldts einen günstigen Einfluß auf ihn gehabt habe. Sein Übel scheint nicht bloß physischer Art zu sein. Es scheint vielmehr, daß die leidenschaftliche Neigung, die er diesen Sommer in Marienbad zu einer jungen Dame gefaßt und die er jetzt zu bekämpfen sucht, als Hauptursache seiner jetzigen Krankheit zu betrachten ist.

 


 

Freitag, den 28. [27.] November 1823*

Der erste Teil von Meyers ›Kunstgeschichte‹, der soeben erschienen, scheint Goethe sehr angenehm zu beschäftigen. Er sprach darüber heute in Ausdrücken des höchsten Lobes.

 


 

Freitag, den 5. Dezember 1823*

Ich brachte Goethen einige Mineralien, besonders ein Stück tonigen Ocker, den Deschamps zu Cormayan gefunden, und wovon Herr Massot viel Rühmens macht. Wie sehr aber war Goethe erstaunt, als er in dieser Farbe ganz dieselbige erkannte, die Angelika Kauffmann zu den Fleischpartien ihrer Gemälde zu benutzen pflegte. »Sie schätzte das Wenige, das sie davon besaß«, sagte er, »nach dem Gewicht des Goldes. Der Ort indes, wo es herstammte und wo es zu finden, war ihr unbekannt.« Goethe meinte gegen seine Tochter, ich behandle ihn wie einen Sultan, dem man täglich neue Geschenke bringe. »Er behandelt Sie vielmehr wie ein Kind!« erwiderte Frau von Goethe; worüber er sich denn nicht enthalten konnte zu lächeln.

 


 

Sonntag, den 7. [Montag, den 8.] Dezember 1823*

Ich fragte Goethen, wie er sich heute befinde. »Nicht ganz so schlecht als Napoleon auf seiner Insel«, war die seufzende Antwort. Der sich sehr in die Länge ziehende krankhafte Zustand scheint denn doch nach und nach sehr auf ihn zu wirken.

 


 

Sonntag, den 21. Dezember 1823*

Goethes gute Laune war heute wieder glänzend. Wir haben den kürzesten Tag erreicht, und die Hoffnung, jetzt mit jeder Woche die Tage wieder bedeutend zunehmen zu sehen, scheint auf seine Stimmung den günstigsten Einfluß auszuüben. »Heute feiern wir die Wiedergeburt der Sonne!« rief er mir froh entgegen, als ich diesen Vormittag bei ihm eintrat. Ich hörte, daß er jedes Jahr die Wochen vor dem kürzesten Tage in deprimierter Stimmung zu verbringen und zu verseufzen pflegt.

Frau von Goethe trat herein, um ihren Schwiegerpapa zu benachrichtigen, daß sie nach Berlin zu reisen im Begriff sei, um dort mit ihrer nächstens zurückkommenden Mutter zusammenzutreffen.

Als Frau von Goethe gegangen war, scherzte Goethe mit mir über die lebendige Einbildungskraft, welche die Jugend charakterisiere. »Ich bin zu alt,« sagte er, »um ihr zu widersprechen und ihr begreiflich zu machen, daß die Freude, ihre Mutter dort oder hier zuerst wiederzusehen, ganz dieselbige sein würde. Diese Winterreise ist viel Mühe um nichts; aber ein solches Nichts ist der Jugend oft unendlich viel. – Und im ganzen genommen, was tuts! Man muß oft etwas Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeitlang leben zu können. In meiner Jugend habe ich es nicht besser gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut davongekommen.«

 


 

Dienstag, den 30. Dezember 1823*

Abends mit Goethe allein, in allerlei Gesprächen. Er sagte mir, daß er die Absicht habe, seine ›Reise in die Schweiz vom Jahre 1797‹ in seine Werke aufzunehmen. Sodann war die Rede vom ›Werther‹, den er nicht wieder gelesen habe als einmal, ungefähr zehn Jahre nach seinem Erscheinen. Auch mit seinen anderen Schriften habe er es so gemacht. Wir sprachen darauf von Übersetzungen, wobei er mir sagte, daß es ihm sehr schwer werde, englische Gedichte in deutschen Versen wiederzugeben. »Wenn man die schlagenden einsilbigen Worte der Engländer«, sagte er, »mit vielsilbigen oder zusammengesetzten deutschen ausdrücken will, so ist gleich alle Kraft und Wirkung verloren.« Von seinem ›Rameau‹ sagte er, daß er die Übersetzung in vier Wochen gemacht und alles diktiert habe.

Wir sprachen sodann über Naturwissenschaften, insbesondere über die Kleingeisterei, womit diese und jene Gelehrten sich um die Priorität streiten. »Ich habe durch nichts die Menschen besser kennen gelernt,« sagte Goethe, »als durch meine wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich habe es mich viel kosten lassen, und es ist mit manchen Leiden verknüpft gewesen; aber ich freue mich dennoch, die Erfahrung gemacht zu haben.«

»In den Wissenschaften«, bemerkte ich, »scheint auf eine besondere Weise der Egoismus der Menschen angeregt zu werden; und wenn dieser einmal in Bewegung gesetzt ist, so pflegen sehr bald alle Schwächen des Charakters zum Vorschein zu kommen.«

»Die Fragen der Wissenschaft«, versetzte Goethe, »sind sehr häufig Fragen der Existenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann berühmt machen und sein bürgerliches Glück begründen. Deshalb herrscht auch in den Wissenschaften diese große Strenge und dieses Festhalten und diese Eifersucht auf das Aperçu eines anderen. Im Reich der Ästhetik dagegen ist alles weit läßlicher, die Gedanken sind mehr oder weniger ein angeborenes Eigentum aller Menschen, wobei alles auf die Behandlung und Ausführung ankommt und billigerweise wenig Neid stattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu hundert Epigrammen hergeben, und es fragt sich bloß, welcher Poet denn nun diesen Gedanken auf die wirksamste und schönste Weise zu versinnlichen gewußt habe.

Bei der Wissenschaft aber ist die Behandlung null, und alle Wirkung liegt im Aperçu. Es ist dabei wenig Allgemeines und Subjektives, sondern die einzelnen Manifestationen der Naturgesetze liegen alle sphinxartig, starr, fest und stumm außer uns da. Jedes wahrgenommene neue Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigentum. Taste aber nur einer das Eigentum an, und der Mensch mit seinen Leidenschaften wird sogleich da sein.

Es wird aber«, fuhr Goethe fort, »in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigentum angesehen, was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut, als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe wert, es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht. Ein Franzose sagte zu einem meiner Freunde in bezug auf meine Farbenlehre: Wir haben funfzig Jahre lang gearbeitet, um das Reich Newtons zu gründen und zu befestigen; es werden andere funfzig Jahre nötig sein, um es zu stürzen.

Die mathematische Gilde hat meinen Namen in der Wissenschaft so verdächtig zu machen gesucht, daß man sich scheut, ihn nur zu nennen. Es kam mir vor einiger Zeit eine Broschüre in die Hand, worin Gegenstände der Farbenlehre behandelt waren, und zwar schien der Verfasser ganz durchdrungen von meiner Lehre zu sein und hatte alles auf dieselben Fundamente gebaut und zurückgeführt. Ich las die Schrift mit großer Freude; allein zu meiner nicht geringen Überraschung mußte ich sehen, daß der Verfasser mich nicht einmal genannt hatte. Später ward mir das Rätsel gelöst. Ein gemeinschaftlicher Freund besuchte mich und gestand mir, der talentreiche junge Verfasser habe durch jene Schrift seinen Ruf zu gründen gesucht und habe mit Recht gefürchtet, sich bei der gelehrten Welt zu schaden, wenn er es gewagt hätte, seine vorgetragenen Ansichten durch meinen Namen zu stützen. Die kleine Schrift machte Glück, und der geistreiche junge Verfasser hat sich mir später persönlich vorgestellt und sich entschuldigt.«

»Der Fall erscheint mir um so merkwürdiger,« versetzte ich, »da man in allen anderen Dingen auf Ihre Autorität stolz zu sein Ursache hat und jedermann sich glücklich schätzet, in Ihrer Zustimmung vor der Welt einen mächtigen Schutz zu finden. Bei Ihrer Farbenlehre scheint mir das Schlimme zu sein, daß Sie es dabei nicht bloß mit dem berühmten, von allen anerkannten Newton, sondern auch mit seinen in der ganzen Welt verbreiteten Schülern zu tun haben, die ihrem Meister anhängen und deren Zahl Legion ist. Gesetzt auch, daß Sie am Ende recht behalten, so werden Sie gewiß noch eine geraume Zeit mit Ihrer neuen Lehre allein stehen.«

»Ich bin es gewohnt und bin darauf gefaßt«, erwiderte Goethe. »Aber sagen Sie selbst,« fuhr er fort, »konnte ich nicht stolz sein, wenn ich mir seit zwanzig Jahren gestehen mußte, daß der große Newton und alle Mathematiker und erhabenen Rechner mit ihm in bezug auf die Farbenlehre sich in einem entschiedenen Irrtum befänden, und daß ich unter Millionen der einzige sei, der in diesem großen Naturgegenstande allein das Rechte wisse? Mit diesem Gefühl der Superiorität war es mir denn möglich, die stupide Anmaßlichkeit meiner Gegner zu ertragen. Man suchte mich und meine Lehre auf alle Weise anzufeinden und meine Ideen lächerlich zu machen, aber ich hatte nichtsdestoweniger über mein vollendetes Werk eine große Freude. Alle Angriffe meiner Gegner dienten mir nur, um die Menschen in ihrer Schwäche zu sehen.«

Während Goethe so mit einer Kraft und einem Reichtum des Ausdruckes sprach, wie ich in ganzer Wahrheit wiederzugeben nicht imstande bin, glänzten seine Augen von einem außerordentlichen Feuer. Man sah darin den Ausdruck des Triumphes, während ein ironisches Lächeln um seine Lippen spielte. Die Züge seines schönen Gesichtes waren imposanter als je.

 


 

Mittwoch, den 31. Dezember 1823

Bei Goethe zu Tisch in mancherlei Gesprächen. Er zeigte mir ein Portefeuille mit Handzeichnungen, unter denen besonders die Anfänge von Heinrich Füßli merkwürdig.

Wir sprachen sodann über religiöse Dinge und den Mißbrauch des göttlichen Namens.

»Die Leute traktieren ihn«, sagte Goethe, »als wäre das unbegreifliche, gar nicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr als ihresgleichen. Sie würden sonst nicht sagen: der Herr Gott, der liebe Gott, der gute Gott. Er wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Munde führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen.«

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