Montag, den 20. Juni 1831

Diesen Nachmittag ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich noch bei Tisch fand.

Wir verhandelten über einige Gegenstände der Naturwissenschaft, besonders über die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrtümer und falsche Anschauungen verbreitet würden, die später so leicht nicht wieder zu überwinden wären.

»Die Sache ist ganz einfach diese«, sagte Goethe. »Alle Sprachen sind aus nahe liegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahndung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um seinen eigentümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da dieses aber nicht ist, so muß er bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.«

»Wenn Sie das sagen,« erwiderte ich, »der Sie doch Ihren Gegenständen jedesmal sehr scharf auf den Leib gehen und, als Feind aller Phrase, für Ihre höheren Wahrnehmungen stets den bezeichnendsten Ausdruck zu finden wissen, so will das etwas heißen. Ich dächte aber, wir Deutschen könnten überhaupt noch allenfalls zufrieden sein. Unsere Sprache ist so außerordentlich reich, ausgebildet und fortbildungsfähig, daß, wenn wir auch mitunter zu einem Tropus unsere Zuflucht nehmen müssen, wir doch ziemlich nahe an das eigentlich Auszusprechende herankommen. Die Franzosen aber stehen gegen uns sehr im Nachteil. Bei ihnen wird der Ausdruck eines angeschauten höheren Naturverhältnisses durch einen gewöhnlich aus der Technik hergenommenen Tropus sogleich materiell und gemein, so daß er der höheren Anschauung keineswegs mehr genügt.«

»Wie sehr Sie recht haben,« fiel Goethe ein, »ist mir noch neulich bei dem Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire vorgekommen. Geoffroy de Saint-Hilaire ist ein Mensch, der wirklich in das geistige Walten und Schaffen der Natur eine hohe Einsicht hat; allein seine französische Sprache, insofern er sich herkömmlicher Ausdrücke zu bedienen gezwungen ist, läßt ihn durchaus im Stich. Und zwar nicht bloß bei geheimnisvoll-geistigen, sondern auch bei ganz sichtbaren, rein körperlichen Gegenständen und Verhältnissen. Will er die einzelnen Teile eines organischen Wesens ausdrücken, so hat er dafür kein anderes Wort als Materialien, wodurch denn z. B. die Knochen, welche als gleichartige Teile das organische Ganze eines Armes bilden, mit den Steinen, Balken und Brettern, woraus man ein Haus macht, auf eine Stufe des Ausdrucks kommen.

Ebenso ungehörig«, fuhr Goethe fort, »gebrauchen die Franzosen, wenn sie von Erzeugnissen der Natur reden, den Ausdruck Komposition. Ich kann aber wohl die einzelnen Teile einer stückweise gemachten Maschine zusammensetzen und bei einem solchen Gegenstande von Komposition reden, aber nicht, wenn ich die einzelnen lebendig sich bildenden und von einer gemeinsamen Seele durchdrungenen Teile eines organischen Ganzen im Sinne habe.«

»Es will mir sogar scheinen,« versetzte ich, »als ob der Ausdruck Komposition auch bei echten Erzeugnissen der Kunst und Poesie ungehörig und herabwürdigend wäre.«

»Es ist ein ganz niederträchtiges Wort,« erwiderte Goethe, »das wir den Franzosen zu danken haben und das wir sobald wie möglich wieder los zu werden suchen sollten. Wie kann man sagen, Mozart habe seinen ›Don Juan‹ komponiert! – Komposition! – Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt! Eine geistige Schöpfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus Einem Geiste und Guß und von dem Hauche Eines Lebens durchdrungen, wobei der Produzierende keineswegs versuchte und stückelte und nach Willkür verfuhr, sondern wobei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so daß er ausführen mußte, was jener gebot.«

 


 

Montag, den 27. Juni 1831*

Wir sprachen über Victor Hugo. »Er ist ein schönes Talent,« sagte Goethe, »aber ganz in der unselig-romantischen Richtung seiner Zeit befangen, wodurch er denn neben dem Schönen auch das Allerunerträglichste und Häßlichste darzustellen verführt wird. Ich habe in diesen Tagen seine ›Notre-Dame de Paris‹ gelesen und nicht geringe Geduld gebraucht, um die Qualen auszustehen, die diese Lektüre mir gemacht hat. Es ist das abscheulichste Buch, das je geschrieben worden! Auch wird man für die Folterqualen, die man auszustehen hat, nicht einmal durch die Freude entschädigt, die man etwa an der dargestellten Wahrheit menschlicher Natur und menschlicher Charaktere empfinden könnte. Sein Buch ist im Gegenteil ohne alle Natur und ohne alle Wahrheit! Seine vorgeführten sogenannten handelnden Personen sind keine Menschen mit lebendigem Fleisch und Blut, sondern elende hölzerne Puppen, mit denen er umspringt, wie er Belieben hat, und die er allerlei Verzerrungen und Fratzen machen läßt, so wie er es für seine beabsichtigten Effekte eben braucht. Was ist das aber für eine Zeit, die ein solches Buch nicht allein möglich macht und hervorruft, sondern es sogar ganz erträglich und ergötzlich findet!«

 


 

Donnerstag, den 14. Juli 1831*

Ich begleitete mit dem Prinzen Se. Majestät den König von Württemberg zu Goethe. Der König schien bei unserer Zurückkunft sehr befriedigt und trug mir auf, Goethen für das Vergnügen zu danken, das dieser Besuch ihm gemacht habe.

 


 

Freitag, den 15. Juli 1831*

Einen Augenblick bei Goethe, dem ich meine gestrige Kommission des Königs ausrichtete. Ich fand ihn beschäftigt in Studien in bezug auf die Spiraltendenz der Pflanze, von welcher neuen Entdeckung er der Meinung ist, daß sie sehr weit führen und auf die Wissenschaft großen Einfluß ausüben werde. »Es geht doch nichts über die Freude,« fügte er hinzu, »die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Geheimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe, aber es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hineinzutun. Und grade, daß sie am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wieder zu ihr heranzugehen und immer wieder neue Einblicke und neue Entdeckungen zu versuchen.«

 


 

Mittwoch, den 20. Juli 1831*

Nach Tisch ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich sehr heiterer milder Stimmung fand. Wir sprachen über allerlei Dinge, zuletzt auch über Karlsbad, und er scherzte über die mancherlei Herzensabenteuer, die er daselbst erlebt. »Eine kleine Liebschaft«, sagte er, »ist das einzige, was uns einen Badeaufenthalt erträglich machen kann; sonst stirbt man vor Langerweile. Auch war ich fast jedesmal so glücklich, dort irgendeine kleine Wahlverwandtschaft zu finden, die mir während der wenigen Wochen einige Unterhaltung gab. Besonders erinnere ich mich eines Falles, der mir noch jetzt Vergnügen macht.

Ich besuchte nämlich eines Tages Frau von der Recke. Nachdem wir uns eine Weile nicht sonderlich unterhalten und ich wieder Abschied genommen hatte, begegnete mir im Hinausgehen eine Dame mit zwei sehr hübschen jungen Mädchen. ›Wer war der Herr, der soeben von Ihnen ging?‹ fragte die Dame. ›Es war Goethe‹, antwortete Frau von Recke. ›O wie leid tut es mir,‹ erwiderte die Dame, ›daß er nicht geblieben ist, und daß ich nicht das Glück gehabt habe, seine Bekanntschaft zu machen!‹ – ›O, daran haben Sie durchaus nichts verloren, meine Liebe‹, sagte die Recke. ›Er ist sehr langweilig unter Damen, es sei denn, daß sie hübsch genug wären, ihm einiges Interesse einzuflößen. Frauen unseres Alters dürfen nicht daran denken, ihn beredt und liebenswürdig zu machen.‹

Als die beiden Mädchen mit ihrer Mutter nach Hause gingen, gedachten sie der Worte der Frau von Recke. ›Wir sind jung, wir sind hübsch,‹ sagten sie, ›laßt doch sehen, ob es uns nicht gelingt, jenen berühmten Wilden einzufangen und zu zähmen!‹ Am anderen Morgen auf der Promenade am Sprudel machten sie mir im Vorübergehen wiederholt die graziösesten lieblichsten Verbeugungen, worauf ich denn nicht unterlassen konnte, mich gelegentlich ihnen zu nähern und sie anzureden. Sie waren scharmant! Ich sprach sie wieder und wieder, sie führten mich zu ihrer Mutter, und so war ich denn gefangen. Von nun an sahen wir uns täglich, ja wir verlebten ganze Tage miteinander. Um unser Verhältnis noch inniger zu machen, ereignete es sich, daß der Verlobte der einen ankam, worauf ich mich denn um so ungeteilter an die andere schloß. Auch gegen die Mutter war ich, wie man denken kann, sehr liebenswürdig. Genug, wir waren alle miteinander überaus zufrieden, und ich verlebte mit dieser Familie so glückliche Tage, daß sie mir noch jetzt eine höchst angenehme Erinnerung sind. Die beiden Mädchen erzählten mir sehr bald die Unterredung zwischen ihrer Mutter und Frau von Recke, und welche Verschwörung sie zu meiner Eroberung angezettelt und zu glücklicher Ausführung gebracht.«

Hiebei fällt mir eine Anekdote anderer Art ein, die Goethe mir früher erzählte und die hier einen Platz finden mag.

»Ich ging«, sagte er mir, »mit einem guten Bekannten einst in einem Schloßgarten gegen Abend spazieren, als wir unerwartet am Ende der Allee zwei andere Personen unseres Kreises bemerkten, die in ruhigen Gesprächen aneinander hingingen. Ich kann Ihnen so wenig den Herrn als die Dame nennen, aber es tut nichts zur Sache. Sie unterhielten sich also und schienen an nichts zu denken, als mit einem Mal ihre Köpfe sich gegeneinander neigten und sie sich gegenseitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie schlugen darauf ihre erste Richtung wieder ein und setzten sehr ernst ihre Unterhaltung fort, als ob nichts passiert wäre. ›Haben Sie es gesehen?‹ rief mein Freund voll Erstaunen ›darf ich meinen Augen trauen?‹ Ich habe es gesehen, erwiderte ich ganz ruhig – aber ich glaube es nicht!«

 


 

Dienstag, den 2. August 1831*

Wir sprachen über die Metamorphose der Pflanze, und namentlich über de Candolles Lehre von der Symmetrie, die Goethe für eine bloße Illusion hält.

»Die Natur«, fügte er hinzu, »ergibt sich nicht einem jeden. Sie erweiset sich vielmehr gegen viele wie ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu fassen und zu besitzen glauben, unsern Armen entschlüpft.«

 


 

Mittwoch, den 19. Oktober 1831*

Heute war zu Belvedere die Versammlung der Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erste Ausstellung von Früchten und Gegenständen der Industrie, welche reicher war, als man erwartet hatte. Darauf großes Diner der zahlreich anwesenden Mitglieder. Goethe trat herein, zu freudiger Überraschung aller Anwesenden. Er verweilte einige Zeit und betrachtete sodann die ausgestellten Gegenstände mit sichtbarem Interesse. Sein Erscheinen machte den glücklichsten Eindruck, besonders auch auf solche, die ihn früher noch nicht gesehen.

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