Liebesgeschichten aus der Provinz

Claude Anet

Kleinstadt

Liebesgeschichten aus der Provinz


C. Weller u. CO. Verlag

1927


Vorwort

Als kleiner Junge las ich oft heimlich die Bücher meines Vaters. Wenn ich die glühenden Schilderungen der Romane mit dem Leben rings um mich verglich, dann beglückwünschte ich mich in meiner kindlichen Unschuld dazu, in einer sittsamen, kleinen Stadt zu wohnen, in der nichts geeignet gewesen wäre, die Aufmerksamkeit jener zu erregen, deren Beruf es ist, zur Unterhaltung anderer zu schreiben.

Später, als mit meinem Bart auch die Vernunft mir wuchs, sah ich manches mit anderen Augen. – Soll ich's bekennen? Ich empfand ein seltsames Gefühl verletzten Stolzes. Mein kleines Städtchen unterschied sich nicht im mindesten von allen anderen!

Meine Kleinstadt zählt nicht mehr als sechstausend Einwohner mit gutbürgerlichen Sitten, stillen und beschaulichen Gewohnheiten: sie liegt fast abseits vom Leben. In der Gerichtsstatistik gebührt ihr der höchste Rang, denn die Vergehen sind dort selten, Verbrechen ganz unbekannt.

Doch hat sie ihre Dramen.


Schriftsteller pflegen häufiger zu erfinden als zu berichten; und die Schulung unseres Geistes hat uns so daran gewöhnt, weniger auf Wahrheit, als auf Einfachheit und Vernunft zu sehen, daß Romane, die das Leben vollkommen wahrheitsgetreu wiedergeben, auf uns nur weniger lebensecht wirken.

Ich ziehe die Vielgestaltigkeit des Lebens allen Erdichtungen vor.

Schriftsteller suchen das dramatische Moment in einzelnen bewegten Ereignissen, aber der gewöhnliche Verlauf der Dinge in seiner ereignislosen Stetigkeit ist meist viel dramatischer als die erregendsten konstruierten Begebenheiten. –

Schriftsteller lieben es, ihre Geschichten wirkungsvoll abzuschließen: Julien Sorel stirbt auf dem Schafott; die Schönheit von Valerie Marneffe wird von einem furchtbaren Aussatz zerfressen; Madame Bovary endet durch Vergiftung; den zarten Körper Anna Kareninas zermalmt eine schwere Maschine.

Ich kannte eine große Anzahl Entgleister; ihr Ende war weniger effektvoll.

Meine Erzählungen sind wahr. Selbst ihre Vereinigung ist nicht künstlich. Alle spielten sich unter meiner Beobachtung ab, die noch nicht allzulange währt.

Ich bin weder Arzt noch Anwalt noch Priester; es dürfte im Leben noch viele fesselnde Dinge geben, die mir unbekannt blieben. Trotzdem wage ich zu behaupten, daß jene, die ich aufzeichnete, hinreichen, um jedem zu Betrachtungen neigenden Menschen genügend Stoff zu geben, über das Elend aller Verhältnisse nachzudenken und über die Macht und Vielfältigkeit aller Leidenschaften zu staunen, die sich oft unter der alltäglichen Oberfläche verbergen.


Wenn diese Notizen zur Veröffentlichung kommen sollten, wird es nur nötig sein, die Namen der Orte und Personen zu ändern. Die meisten der vorkommenden Menschen sind tot; die übrigen aber haben sich seither so verändert, daß sie unerkannt bleiben werden.

Ich kann ohne Furcht vor einem Ärgernis zur Veröffentlichung schreiten.

Selbst falls jene, deren Schicksale in diesen Erzählungen geschildert sind, sie lesen sollten, würden sie sich nicht wiedererkennen, denn es ist das Los der meisten Menschen, das Drama ihres eigenen Lebens nicht zu erfassen.

 Top