Das Lebensbild einer Dichterin

Charles Baudelaire

Ist es uns nicht mehr als einmal begegnet, daß, wenn wir einem Freunde unsere Neigung, unsere Begeisterung für irgend etwas anvertrauten, zur Antwort bekamen: »Nun, das ist doch sonderbar! Das steht ja in völligem Widerspruch mit Ihren sonstigen Leidenschaften und Anschauungen?« Und wir entgegnen dann: »Möglich, aber es ist so. Es gefällt mir; es entzückt mich, wahrscheinlich wegen eben dieses auffälligen Gegensatzes mit meinem eigentlichen Ich.«

So ergeht es mir mit Madame Desbordes-Valmore. Wenn der Aufschrei, der unverfälschte Seufzer einer erlesenen Seele, wenn die Hingabe und Verzweiflung des Herzens, wenn ursprüngliche Anlagen und Gaben – alles, was Gott als unverdiente Gnade schenkt – wenn das genügt, um einen großen Dichter zu machen, so ist Madame Valmore ein großer Dichter und wird es immer sein. Es ist wahr, wenn man sich die Zeit nimmt, dem nachzuspüren, was ihr fehlt, was durch Fleiß und Mühe erworben werden kann, so wird ihre Größe wesentlich beeinträchtigt. Doch selbst dort, wo ein Mangel an Sorgfalt, ein Holpern uns überlegte Menschen, die wir durchaus verantwortlich sind für unsre Nachlässigkeiten, ärgert und betrübt – selbst dann werden wir von einer plötzlichen, unerwarteten, unvergleichlichen Schönheit des Ausdrucks hingerissen und in den Himmel der Poesie erhoben. Nie war ein Dichter einfacher und aufrichtiger, nie ungekünstelter! Keiner hat diesen Reiz, diese Anmut erreicht, eben weil sie persönlich und eingeboren ist.

Wenn je ein Mann seine Gattin oder seine Tochter von den Gaben der Muse beglückt und geehrt sehen möchte, er könnte sich diese Gaben nicht anders und schöner träumen, als sie Madame Valmore beschieden waren. Unter der beträchtlichen Anzahl von Frauen, die sich heutzutage auf die Literatur geworfen haben, gibt es recht wenige, deren Tätigkeit nicht entweder der Kummer ihrer Angehörigen, ja selbst ihres Geliebten gewesen wäre (denn der zügelloseste Mann verlangt vom Gegenstand seiner Liebe eine keusche Zurückhaltung), oder aber eine Nachahmung männlicher Schwächen und Albernheiten, die bei der Frau abgeschmackt wirken. Wir kennen die schriftstellernde Frau als Philanthropin, als doktrinäre Priesterin der Liebe; sie verherrlicht republikanische Ideen oder andere Zukunftsträume, sie ist Anhängerin Fouriers oder Saint-Simons, und unsere schönheitsuchenden Augen konnten sich nie an dieses unschöne Systematisieren und Abzirkeln, an all diese lästerlichen und ruchlosen Dinge (es gibt sogar Dichterinnen des Lasters), an diese entwürdigende Nachahmung männlichen Geistes gewöhnen.

Madame Desbordes-Valmore war Weib, war immer Weib und nichts als Weib; aber sie war die vollendete, höchste Personifizierung der natürlichen schönen Weiblichkeit. Ob sie vom sehnenden Verlangen des jungen Mädchens, von der traurigen Klage der verlassenen Ariadne oder der glühenden Inbrunst mütterlicher Barmherzigkeit singt – ihr Lied bewahrt stets diese köstliche Weiblichkeit. Da ist nichts Künstliches, nichts Angelehntes, nichts als das »ewig Weibliche«, wie jener deutsche Dichter sagt. So hat Madame Valmore in ihrer Wahrhaftigkeit, in ihrer Echtheit ihren Lohn gefunden, das heißt einen Ruhm, der dem des vollendeten Künstlers nicht nachsteht. An den tiefen Gluten des eigenen Herzens entzündet sie die Fackel, mit der sie in die geheimnisvolle Wirrnis der Empfindungen hineinleuchtet und unsere dunkelsten Erinnerungen der Liebe, auch der Kindesliebe, ans Licht hebt. Victor Hugo hat dem süßen Zauber der Häuslichkeit – wie allem, was er besingt – wundervollen Ausdruck gegeben; doch nur in den Dichtungen der glühenden Marceline findet ihr die mütterliche Innigkeit, die einige wenige unter uns Weibgeborenen in köstlichem Andenken bewahren. Wenn ich nicht besorgen müßte, man könne den Vergleich als eine Herabsetzung dieser verehrungswürdigen Frau ansehen, so würde ich sagen, ich finde in ihr die Anmut und unruhige Wachsamkeit, die Schmiegsamkeit und das Ungestüm einer Katze oder Löwin, die Mutter ist.

Es heißt, Madame Valmore, deren erste Poesieen schon weit zurückliegen (1818), sei von unserer Zeit sehr schnell vergessen worden. Vergessen worden, von wem, ich bitte? Von denen, die nichts fühlen und daher nichts bewahren. Sie hat die großen und gewaltigen Eigenschaften, die sich dem Gedächtnis eingraben, die explosive Kraft der Leidenschaft, die in unsere Herzen einschlägt und sie mit fortreißt. Kein Dichter findet ungezwungener den einzig ersten Gefühlsausdruck, das unbewußt Erhabene. Wie einerseits das einfachste und selbstverständlichste Erarbeiten dieser feurigen Feder fremd und unmöglich ist, so ist anderseits das, wonach alle anderen mühsam ringen, ihr natürliches Teil; es ist ein immerwährendes neues Finden. So sicher und sorglos, wie wir eine Adresse schreiben, wirft sie die Kostbarkeiten aufs Papier. Eine mitfühlende und inbrünstige Seele, die sich – selbstredend ganz unbewußt – in jenem Vers erkennt und zu erkennen gibt:

»Solange man noch geben kann, kann man nicht sterben.«

Empfindsame Seele, der das rauhe Leben unheilbare Narben eingrub, war es ihr vor allem, die sich ein Lethe ersehnte, gestattet auszurufen:

»Doch kann uns der Erinnerung nichts entheben –
Wozu, mein Herz, wozu das Sterben dann?«

Gewiß, niemand war berechtigter als sie, einem neuen Gedichtbande den Satz voranzuschicken:

»Gefangen lebt in diesem Buche eine Seele.«

Selbst als der Tod erschien, um sie von dieser Welt, deren Leiden sie so tapfer getragen hatte, abzurufen und dem Himmel zuzuführen, nach dessen friedvollen Freuden sie so glühend verlangte, selbst da noch konnte Madame Desbordes-Valmore, die unermüdliche Priesterin der Muse, nicht verstummen, so immervoll von Schmerzensrufen und Liedern war sie, die sich ergießen wollten; sie bereitete einen weiteren Band Gedichte vor, dessen Inhalt Stück um Stück auf ihrem Schmerzenslager reifte, das sie seit zwei Jahren nicht mehr verließ. Sie, die ihr andächtig bei der Zusammenstellung dieser Abschiedsblätter halfen, haben mir gesagt, daß darin das ganze Feuer einer Lebensenergie zu finden sei, die nirgends so lebendig war wie im Leid. Ach! dies Buch wird nun als letzter, nachgelassener Kranz all den strahlenden anderen hinzuzufügen sein, mit denen eines unserer blühendsten Gräber geschmückt sein sollte.

Ich habe immer gern in der großen und sichtbaren Natur nach Beispielen und Gestaltungen gesucht, die mir zur Charakterisierung geistiger Erscheinungen und Eindrücke dienen könnten. Ich stelle mir vor, wie die Kunst der Madame Desbordes-Valmore auf mich wirkte, damals, als ich sie mit den Augen des Jünglings durchblätterte, die bei empfänglichen Menschen so voll Glut und Scharfsichtigkeit sind. Diese Dichtung erschien mir wie ein Garten. Doch das ist nicht die großartige Würde des Versailler Parks, das ist auch nicht die mächtige Pose des selbstbewußten Italiens, das es so vortrefflich versteht, »Gärten zu errichten« (aedificat hortas); das ist auch nicht »das Tal der Flöten« oder das »Tänaron« unseres alten Jean-Paul. Es ist ein schlichter englischer Garten, wundersam romantisch. Üppige Blumenstauden repräsentieren den überströmenden Gefühlsausdruck. Volle, reglose Weiher, die, auf dem umgestürzten Himmelsbogen ruhend, alle Dinge spiegeln, versinnbildlichen die tiefe Resignation, die dort tausend Erinnerungen spiegelt. Nichts fehlt diesem entzückenden Garten einer vergangenen Zeit, weder vereinzelte Ruinen, die sich in grüner Wildnis bergen, noch das fremdartige Grabmal, das uns an einer Wegbiegung überrascht, die Seele ergreift und an die Ewigkeit mahnt. Gewundene und düstere Alleen führen zu überraschenden Ausblicken, gleichwie der Gedanke der Dichterin nach allerlei wunderlichen Kurven die offene Fernsicht in Vergangenheit oder Zukunft eröffnet. Doch diese Himmel sind zu weit, um dauernd klar zu sein, und der Wärmegrad zu groß, um nicht Stürme zu entfesseln. Der Wanderer, der die gramverhüllten Fernen betrachtet, fühlt sein Auge feucht werden von hysterischen Tränen. Die Blumen neigen sich und erliegen, die Vögel reden nur noch flüsternd. Ein erster Blitz flammt auf, ihm folgt ein Donnerschlag: es ist die lyrische Explosion, und schließlich verleiht eine unvermeidliche Tränenflut all den niedergeworfenen, leidenden und entmutigten Dingen von neuem Frische und Jugendkraft.

*

Etwas von dem Mißgeschick, das Marceline Desbordes-Valmores Leben beharrlich begleitete, hat auch über dieser deutschen Darstellung ihres Schicksals gewaltet, die schon 1914 vorbereitet war. Erst machte der alles zerstörende Weltkrieg dies vermittelnde Werk zunichte, dann starb 1917 Gisela Etzel-Kühn, ehe sie Briefe und Gedichte in beabsichtigter Vollständigkeit übersetzen konnte. So erschien die erste Ausgabe nicht ganz zulänglich und wurde nicht erneuert, was aber der nun endgültigen insofern zugute kam, als inzwischen wichtige Teile der Korrespondenz und des Lebensschicksals sich aufschlossen. Die Ergänzung der Gedichte und Briefe hat nun Friderike Maria Zweig besorgt: diese beiden Teile wurden entsprechend dem innerlichen Geschehnis auch neu angeordnet, so daß jetzt Einleitung, Briefe und Gedichte als eine einzige unlösbare Einheit von Gestalt und Gestaltung dargeboten werden konnten.

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