Friedrich Wilhelm Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches
Siebentes Hauptstück.
Weib und Kind.
377.
Das vollkommene Weib. – Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. – Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.
378.
Freundschaft und Ehe. – Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.
379.
Fortleben der Eltern. – Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.
380.
Von der Mutter her. – Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein.
381.
Die Natur corrigiren. – Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.
382.
Väter und Söhne. – Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.
383.
Irrthum vornehmer Frauen. – Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen.
384.
Eine Männerkrankheit. – Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.
385.
Eine Art der Eifersucht. – Mütter sind leicht eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber.
386.
Vernünftige Unvernunft. – In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen.
387.
Mütterliche Güte. – Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.
388.
Verschiedene Seufzer. – Einige Männer haben über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte.
389.
Liebesheirathen. – Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürfniss) zur Mutter.
390.
Frauenfreundschaft. – Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten – dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.
391.
Langeweile. – Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben.
392.
Ein Element der Liebe. – In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein.
393.
Die Einheit des Ortes und das Drama. – Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein.
394.
Gewöhnliche Folgen der Ehe. – Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie Frauen nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben.
395.
Befehlen lehren. – Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das Gehorchen.
396.
Verliebt werden wollen. – Verlobte, welche die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter.
397.
Kein Stillstand in der Liebe. – Ein Musiker, der das langsame Tempo liebt, wird die selben Tonstücke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen.
398.
Schamhaftigkeit. – Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.
399.
Ehe von gutem Bestand. – Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt werden will.
400.
Proteus-Natur.- Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben.
401.
Lieben und besitzen. – Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.
402.
Probe einer guten Ehe. – Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine "Ausnahme" verträgt.
403.
Mittel, Alle zu Allem zu bringen. – Man kann Jedermann so durch Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, – das wissen die Diplomaten und die Weiber.
404.
Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. – Jene Mädchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz das Selbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unehrlicher als diese sind.
405.
Masken. – Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele – und sucht immer fort.
406.
Die Ehe als langes Gespräch. – Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.
407.
Mädchenträume. – Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe, um ihn glücklich zu machen. – Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte.
408.
Aussterben von Faust und Gretchen. – Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also – um jenen Satz fortzusetzen – aus zwei Gründen die Gretchen nicht. Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.
409.
Mädchen als Gymnasiasten. – Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus geistreichen, wissbegierigen, feurigen jungen – Abbilder ihrer Lehrer macht!
410.
Ohne Nebenbuhlerinnen. – Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glänze, – dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn es so steht, begünstigen sie den Liebhaber.
411.
Der weibliche Intellect. – Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. – Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer thatsächlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Weiber wundern sich im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.
412.
Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. – Ein Zeichen für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen: so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden pflegt.
413.
Die Kurzsichtigen sind verliebt. – Mitunter genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben.
414.
Frauen im Hass. – Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher, als Männer; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (während die Männer beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich gestimmt werden).
415.
Liebe. – Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grunde und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. Aber durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird – sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können.
416.
Zur Emancipation der Frauen. – Können die Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren Parteigänger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar im Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so.