Ein Buch für freie Geister

540.

Zugrosse Ziele. – Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.

541.

Im Strome. – Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.

542.

Gefahren der geistigen Befreiung. – Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen.

543.

Verkörperung des Geistes. – Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.

544.

Schlecht sehen und schlecht hören. – Wer wenig sieht, sieht immer weniger; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu.

545.

Selbstgenuss in der Eitelkeit. – Der Eitele will nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen.

546.

Ausnahmsweise eitel. – Der für gewöhnlich Selbstgenügsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm- und Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen.

547.

Die "Geistreichen". – Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht.

548.

Wink für Parteihäupter. – Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden.

 

549.

Verachtung. – Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst.

550.

Schnur der Dankbarkeit. – Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln.

551.

Kunstgriff des Propheten. – Um die Handlungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien.

552.

Das einzige Menschenrecht. – Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.

553.

Unter das Thier hinab. – Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit.

554.

Halbwissen. – Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnügen ist bei den Halbwissenden.

555.

Gefährliche Hülfbereitschaft. – Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten.

556.

Fleiss und Gewissenhaftigkeit. – Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.

557.

Verdächtigen. – Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich zu verdächtigen.

558.

Die Umstände fehlen. – Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.

559.

Mangel an Freunden. – Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat.

560.

Gefahr in der Vielheit. – Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Füssen steht.

561.

Den Andern zum Vorbild. – Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, – was die Menschen lieben.

562.

Zielscheibe sein. – Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen.

563.

Leicht resignirt. – Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen.

564.

In Gefahr. – Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist.

565.

Je nach der Stimme die Rolle. – Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen Auditorium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. – Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.

566.

Liebe und Hass. – Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.

567.

Mit Vortheil angefeindet. – Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe – und dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre Geltung ist.

568.

Beichte. – Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht.

569.

Selbstgenügsamkeit. – Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche.

570.

Schatten in der Flamme. – Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise.

 

571.

Eigene Meinungen. – Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.

572.

Herkunft des Muthes. – Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.

573.

Gefahr im Arzte. – Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.

574.

Wunderliche Eitelkeit. – Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.

575.

Beruf. – Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.

576.

Gefahr persönlichen Einflusses. – Wer fühlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.

577.

Den Erben gelten lassen. – Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.

578.

Halbwissen. – Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.

579.

Nicht geeignet zum Parteimann. – Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.

580.

Schlechtes Gedächtniss. – Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst.

581.

Sich Schmerzen machen. – Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.

582.

Märtyrer. – Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.

583.

Rückständige Eitelkeit. – Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze einbettelten.

584.

Punctum saliens der Leidenschaft. – Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft das Gefäss über.

585.

Gedanke des Unmuthes. – Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. – Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia?

586.

Vom Stundenzeiger des Lebens. – Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer – Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.

587.

Angreifen oder eingreifen. – Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, – vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.

 

588.

Bescheidenheit. – Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.

589.

Des Tages erster Gedanke. – Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.

590.

Anmaassung als letztes Trostmittel. – Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.

591.

Vegetation des Glückes. – Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, – überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst finden – und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.

592.

Die Strasse der Vorfahren. – Es ist vernünftig, wenn jemand das Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: "Welche Strasse sollst du reiten? – die deiner Vorfahren."

593.

Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. – So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.

 

594.

Philosophische Neulinge. – Hat man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.

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