Ein Buch für freie Geister

620.

Aufopferung. – Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir für die grosse uns durch Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich ist.

621.

Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.

622.

Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. – Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. – Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.

623.

Tiefe Menschen. – Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben – man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen – sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben.

624.

Verkehr mit dem höheren Selbst. – Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.

625.

Einsame Menschen. – Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. – Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.

626.

Ohne Melodie. – Es giebt Menschen, denen ein stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewöhnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man ihnen sagen dürfte, dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? – Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."

627.

Leben und Erleben. – Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen – ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen – umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während Andere – und wie Viele! – durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.

 

628.

Ernst im Spiele. – In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's und fühlte sie auf einmal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem--

629.

Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit. – Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten – diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen – das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften gross und haben es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls: halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. – Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen liess – ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften? – Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir müssen Verräther werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung nothwendig sind oder ob sie nicht von einer irrthümlichen Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die intellectuelle Bedeutung aller Ueberzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der Wechsel von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten.

630.

Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit herausgeströmt. jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre Ueberzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte, Recht haben zu müssen. Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der "Wille" gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu können; erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar das "credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Sectirer und "Rechtgläubigen" sind, keine weitere Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht hätten.

631.

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmählich muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung für alle Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens) den theoretischen Antonio nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.

632.

Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark.

633.

Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer höhern Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren müsse. Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.

634.

Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an seiner "Wahrheit", das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach Autoritäten, später, kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte. Der persönliche Kampf der Denker hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken blosgelegt sind.

635.

Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergebnissen der Wissenschaft lernen so viel sie wollen: man merkt es immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als Ueberzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. – Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen, Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet, also wie ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte.

636.

Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische, politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung" (wie Männer sie nennen: – bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der Ueberzeugung ist – um der Wahrheit willen.

637.

Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes lässt diese zu Ueberzeugungen erstarren. – Wer sich aber freien, rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. – Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. Das Feuer in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unsers Lebens; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verräther aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können – und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.

638.

Der Wanderer. – Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren – und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: – sie suchen die Philosophie des Vormittages.

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