Ein Buch für freie Geister

Drittes Hauptstück.

Das religiöse Leben.

108.

Der doppelte Kampf gegen das Uebel. – Wenn uns ein Uebel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes: "wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt – denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird –, noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel.

109.

Gram ist Erkenntniss. – Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte, Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, – wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer! Doch solche Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen Versen aus:

Sorrow is knowledge: they who know the most
must mourn the deepst o'er the fatal truth,
the tree of knowledge is not that of life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen:

quid aeternis minorem
consiliis animum fatigas?
cur non sub alta vel platano vel hac
pinu jacentes –

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein in intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!

110.

Die Wahrheit in der Religion. – In der Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die "Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen also – diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung – sensu allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr weg, geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse – falls man von einem solchen reden wolle – sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hörer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den Werth der Religion für die Erkenntniss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich er Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen religiösen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes "metaphysischen Bedürfnisses" philosophirten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, – ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen, nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt, – sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft. – Uebrigens: wenn alle Völker über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was, beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe'sche Vers spricht:

Alle die Weisesten aller der Zeiten
lächeln und winken und stimmen mit ein:
Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
eben zum Narren auch, wie sich's gehört!

Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt.

 

111.

Ursprung des religiösen Cultus'. – Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so finden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen; weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der natürlichen Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom "natürlichen Hergang" fehlt, – sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft dabei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, ein ungeheurer Complex von Willkürlichkeiten. Es ist in Bezug auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein werde, so und so kommen müsse; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel , die Natur die Regellosigkeit, – dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfinden gerade völlig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Gesetz, das Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur – die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle Natur – als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände, wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? – Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz auf zulegen –: und kurz gesagt, der religiöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? Man wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, den man ausübt, wenn man jemandes Neigung erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man Verträge schliessen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu Schädigen, zu vernichten; das Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, – dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung,. Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir liessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. – Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzählige Ceremonien in's Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter, als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave gegenüber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben: auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiosität.

112.

Beim Anblick gewisser antiker Opfergeräthschaften. – Wie manche Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu sehen: die Empfindung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird.

113.

Christenthum als Alterthum. – Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! diess gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. – Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt, – während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist –, ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; jemand, der seine jünger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott gebüsst; Furcht vor einem jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, – wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?

114.

Das Ungriechische im Christenthum. – Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist; während die italischen Völker eine rechte Bauern-Religion haben, mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. – Das Christenthum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit liess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht: das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.

115.

Mit Vortheil religiös sein. – Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums angestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. – Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhandwerk verstehen – Mund und Feder als Waffen eingerechnet – werden servil: für solche ist die christliche Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend an und wird erstaunlich verschönert. – Leute, welchen ihr tägliches Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfliesst.

116.

Der Alltags-Christ. – Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihm verheisst.

117.

Von der Klugheit des Christenthums. – Es ist ein Kunstgriff des Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. "Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art.

118.

Personenwechsel. – Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten jünger gewesen wären.

119.

Schicksal des Christenthums. – Das Christenthum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt müsste es das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.

120.

Der Beweis der Lust. – Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein!

121.

Gefährliches Spiel. – Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht.

122.

Die blinden Schüler. – So lange Einer sehr gut die Stärke und, Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.

123.

Abbruch der Kirchen. – Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um die Religionen auch nur zu vernichten.

124.

Sündlosigkeit des Menschen. – Hat man begriffen, "wie die Sünde in die Welt gekommen" ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur immer das Kind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sich immer wieder im Paradiese.

125.

Irreligiosität der Künstler. – Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte – einen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben – verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten.

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