Zweites Kapitel.

Unter den schallenden Jubelrufen der Menge hatte sich die kaiserliche Lectica wieder in Bewegung gesetzt.

Nero und Agrippina kamen vom Haus des Afranius Burrus, des Oberbefehlshabers der prätorianischen Leibwache. Burrus litt seit einigen Tagen am Fieber. Das Uebel schien, dem Ausspruch der Aerzte zufolge, geringfügig: aber dem einflußreichen Gardepräfekten schuldete man eine besondere Aufmerksamkeit.

Wie die Sänfte mit ihrer kriegerischen Gefolgschaft jetzt aus dem Vicus Cyprius abbog, kehrten die Gedanken der Kaiserin an das Krankenlager des Burrus zurück.

Heimliche Mißstimmung lag auf ihrem Gemüt: je mehr sie wahrnahm, daß sich die Gunst der Massen ihrem einst so zärtlich geliebten Sohne zuwandte, um so eifersüchtiger ward sie auf den gefährlichen Nebenbuhler. Nun suchte sie Befreiung von diesem Druck, indem sie bei Vorstellungen verweilte, die ihr die alte Zuversicht wiedergaben.

Burrus, der Oberst der Leibwache, und Seneca, der ehemalige Lehrer des Nero, hatten bis dahin ihr treulich zur Seite gestanden, wenn es galt, den jugendlichen Imperator zu lenken, die Regierungsgeschäfte im Sinne der Kaiserin zu erledigen und ihrem Sohne die Anschauung beizubringen, sie, Agrippina, sei die Erste im Reich, er aber, aus Gründen natürlicher Pietät, nur der Zweite.

Wenn so Burrus ihr Schwert und Lucius Annäus Seneca ihr Schild war: was fragte sie dann nach dem Gemurre oder dem Jubel des Volkes? Was kümmerte sie das heimliche Schwirren jener dunklen Gerüchte, die – sie spürte es, wie man den ungesehenen Blick eines feindseligen Beobachters spürt – allenthalben von Mund zu Mund gingen? Burrus zumal war ein Präfekt, wie sie ihn besser nicht wünschen konnte: sehr empfänglich für ihre Schönheit, äußerst dankbar für jedes huldvolle Lächeln, aber mehr noch durchdrungen von dem Gefühl seiner Pflicht und dem Gedanken des Allgemeinwohls. Er hatte Verständnis dafür, daß ein erfahrenes, geistig begabtes Weib besser für die Regierung taugt, als ein kaum zur Reife gelangter phantastischer Jüngling . . .

»Was sinnst du, Mutter?« fragte der Imperator auf griechisch. »Du beachtest kaum noch die Grüße der Senatoren . . .«

»So? Ich bemerkte nichts . . .«

»Thrasea Pätus kam des Weges daher mit vielen Klienten. Ich nickte ihm zu: du aber danktest ihm nicht, sondern verbargst dich sogar wie mit Absicht hinter dem Vorhang.«

»Schien es dir so?« erwiderte Agrippina. »Dergleichen verzeiht man füglich den Müttern, die unablässig ans Wohl ihrer Söhne denken. Ich übersann deine Zukunft, – und ich gestehe dir, daß ich nicht ganz ohne Sorge bin.«

»Sorge? Weshalb? Liegt die Erde nicht blühend zu meinen Füßen? Bin ich nicht Cäsar? Ja, beim Glanz dieses Himmels: ich kann Glückliche machen bis in die fernsten Gelände, – Glückliche, so weit ein römisches Segel das Meer durchfurcht! Mein Volk liebt mich! Noch eben, in dieser Minute, hast du gehört, wie das dankbare Jubelgeschrei, einem helvetischen Bergstrom vergleichbar, aus tausend Kehlen erquoll! ›Heil dem Kaiser! Heil dem Claudius Nero, der Wonne des Menschengeschlechts!‹ Ach, Mutter, das klingt meinem Ohr wie ein Festgesang der Unsterblichen!«

Agrippina errötete. Sie schüttelte langsam das majestätische Haupt.

»Dennoch, mein Knabe, – ich bin besorgt! Du scheinst mir zu weich, zu schmiegsam für das furchtbare Herrscheramt eines Cäsar. Dein harmloses Auge übersieht die entsetzliche Tücke, die rings in den Höhlen und Schlupfwinkeln eines verabscheuungswürdigen Neides lauert. Du mußt frühzeitig mit gebührender Strenge walten. Geliebt sein ist gut; gefürchtet sein ist besser und sicherer. Füge dich hier, wie in so mancher bedeutsamen Frage, meiner bewährten Einsicht! Laß mich handeln, wo ich's für gut finde! Meinst du, die Senatoren, die sich in scheinbarer Ehrerbietung vor deiner Größe beugen, seien innerlich von dieser Größe durchdrungen? Ach, wie schlecht kennst du die römischen Aristokraten! Sie denken: ›Nero ist Cäsar durch unsre gnädige Duldung!‹ Fällt's ihnen bei, und bietet sich die erwünschte Gelegenheit, so zertrümmern sie deine Herrschaft so gut, wie jüngst die Herrschaft des Claudius.«

»Des Claudius?« wiederholte der Kaiser befremdet.

»Jawohl, – deines Stiefvaters, meines erlauchten Gemahls. Mitglieder des hohen Rates sind es gewesen, die ihn vergiftet haben.«

»Seneca hat mir die Sache anders erzählt,« erwiderte Nero.

Agrippina erblaßte. Gleich darauf aber sagte sie mit erkünstelter Ruhe: »Du machst mich neugierig. Damals – du weißt, der Senat verwehrte die Untersuchung, – und dieser Umstand allein . . .«

»Sie wäre zwecklos gewesen, da der Giftmörder nicht zu erreichen war. Solltest du in der That keine Ahnung haben . . .?«

Die Kaiserin zitterte.

»Nicht die geringste,« sprach sie, die Augen schließend.

»So hat man dich schonen wollen,« fuhr Nero fort. »Ein persönlicher Gegner des Claudius, der Freigelassene Eutropius, hat die Unthat begangen.«

»Allerdings,« stammelte Agrippina, – »aber ich dachte, er sei nur das Werkzeug höherstehender Feinde gewesen.«

»Nicht doch! Der Kaiser Claudius hatte gedroht, ihn wegen zahlreicher Diebstähle zur Verantwortung zu ziehen, – und so kam der Verbrecher seinem Richter zuvor. Eh' man ihn fassen konnte, war er spurlos verschwunden. Aber lassen wir dies betrübsame Thema! Der Mahnung des Seneca eingedenk, hätte ich's überhaupt nicht berühren sollen.«

Er zog die Gardine vor, als gälte es, eine empfindliche Dulderin vor allzugrellem Lichtschein zu hüten. Dann lehnte er sein Haupt zärtlich an die Schulter der Mutter, holte tief Atem und fragte sie plötzlich: »Wie gefiel dir das blonde Mädchen, das für den Freigelassenen des Flavius Scevinus um Gnade flehte?«

»Ich hatte nicht acht auf sie.«

»Ich fand sie bezaubernd! Dieses kindlich-holde Gesicht, diese wonnigen Augen! Sie glich ein wenig der Psyche im Oecus der Acerronia, und doch, wie viel hundertmal schöner und lebensvoller!«

»Das klingt ja fast wie Begeisterung. Leider gelingen dir solche Gemütstöne immer nur da, wo sie nicht völlig am Platze sind. Schwärmtest du halb so sehr für Octavia!«

»Mutter, ich bin dir stets ein gefälliger Sohn gewesen; ich werde auch jetzt gehorchen, zumal schon dein verstorbener Gatte diese Verbindung gewünscht hat . . .«

»Gehorchen! Als wär's eine Strafe, dem vornehmsten, liebenswürdigsten Mädchen der Hauptstadt die Hand zu reichen!«

»Für andre vielleicht ein unermeßliches Glück,« sagte der Kaiser gemessen. »Ich bestreite nicht ihren Wert, aber mir fehlt das Verständnis dafür. Octavia ist zu vollkommen für mich.«

»Stehst du schon jetzt auf diesem bedenklichen Standpunkt? Ein Blumenmädchen vom Argiletum oder ein schmetterlingshaftes Geschöpf, wie die Kitharaspielerin Chloris, die ihr neulich so überschwenglich gepriesen habt: – das wäre dir wohl erwünschter? Kleine Flecken reizen euch ja, wie schon Ennius behauptet.«

»Streiten wir nicht, teure Mutter! Ich werde Octavia heiraten; ich werde sie achten und ihrer Stellung gemäß behandeln. Aber daß ich sie lieben soll, das kann mir selbst ein unsterblicher Gott nicht aufzwingen. Eros naht sich uns nicht auf Befehl: er kommt ungerufen, und manchmal gerade da um so stürmischer, wo die Vernunft ihn verbannen möchte. Vor seinen Augen gilt keine Tugend und kein Verdienst. Oft hat eine Sklavin größere Leidenschaften erweckt als fürstliche Jungfrauen, und – so versichert mich Seneca – das höhere Recht ist dann allemal auf seiten der Sklavin.«

»Thorheit!«

» Keine Thorheit, dafern du erlaubst! Die Sklavin stellt in diesem Falle den Ausdruck des Naturwillens dar, – und die Natur ist wahrer und echter als die menschlichen Satzungen.«

»Also auch hierin unterrichtet dich Seneca?« fragte Agrippina mit verdrießlichem Lachen. »Vortrefflich! Wie es den Anschein hat, besiegt er mit seiner glänzenden Theorie meine Praxis.«

»Du thust ihm unrecht. Solche und andre Betrachtungen knüpft er gelegentlich an die Erklärung einer Tragödie. Ueber Octavia hat er niemals gesprochen. Im Ernste, Mutter: Du hast auch nicht den leisesten Grund zur Verstimmung. Mein Herz ist frei. Dank den Lehren meines vortrefflichen Meisters hab' ich entsagen gelernt. Das Getändel der Freunde war mir von jeher nur ein Gegenstand der Beobachtung. Ich habe niemals geliebt; ja ich zweifle, ob ich dieser Empfindung überhaupt fähig bin. Trotzdem, ich wiederhole dir's, werde ich unsrer Octavia mit aller Zartheit begegnen, die sie als Gattin des Imperators beanspruchen kann. Bist du zufrieden, Mutter?«

»Nicht ganz. Diese blutlose Gleichgültigkeit macht mich bekümmert. Octavia ist wie geschaffen für dich. Ihr klarer, unbestechlicher Blick wird dem Schwärmer zu gute kommen, der tagtäglich Gefahr läuft, sich in philosophischer Träumerei zu verlieren oder im Strudel künstlerischer Phantasmen. Du kennst meine Ansicht. Die Stoa ist eine tüchtige Schule, aber sie darf unsre Kräfte nicht lahmlegen. Die Kunst hat ihre bestrickenden Reize, aber der Cäsar darf nicht zum Künstler werden. Denke, aber vergiß nicht das Leben! Baue Theater, beschütze die Modedichter, wirf dein Gold wie Gerste unter die Sänger und Flötenbläser: aber dichte und deklamiere nicht selbst! Singe nicht wie ein schmachtendes Mägdlein! Ueberlaß die Kithara den Kitharöden! Die Hand, die das Scepter führt, ist nicht geschaffen für das elfenbeinerne Leierstäbchen. Das ist mein Begriff von der Sache, – und Octavia wird just in dem gleichen Sinn auf dich einwirken.«

Nero lächelte.

»Du erinnerst mich wieder ganz an die Zeit, da du mich unsanft beim Ohre nahmst, wenn ich in der Subura mit den Söhnen der Bäcker und Garköche allerlei Tollheiten aufgeführt hatte.«

»Willst du mir's etwa verwehren, den Sohn, den ich erzogen habe, zu tadeln?« fragte Agrippina gereizt. »Wem verdankst du denn, was du bist? Mit dieser welterschütternden Faust hab' ich dich auf den Thron gesetzt. Solang du dies anerkennst, wird dein Genius über dir wachen. Lehnst du dich auf, – wohl, so zweifle ich, ob du die Kraft besitzest, auf so schwindelnder Höhe dich festzuhalten.«

»Du erregst dich ganz ohne Ursache. Auflehnen? Du allein hast dieses abscheuliche Wort gebraucht. Ich weiß zur Genüge, daß es keinen – selbst nicht den Cäsar – entehrt, den Ratschlägen seiner Mutter zu folgen. Eins nur sähe ich gern – da wir denn doch einmal von der Sache jetzt reden –: wenn du die Form dieser Ratschläge etwas mildern und mäßigen wolltest. Du selber kannst doch nicht wollen, daß jemand das Recht hätte, über die allzu kindliche Pietät des Nero zu lächeln.«

»Ich wüßte nicht, inwiefern du Veranlassung hättest . . .« grollte die Kaiserin.

»Doch, doch, Mutter! Aber ich sehe, du nimmst die Sache zu schwer. Brechen wir ab! Es war vielleicht überflüssig, daß ich's erwähnte. Im Laufe der Zeit wird sich das alles von selber ausgleichen.«

»Aber du siehst doch,« versetzte sie lebhaft, »wie frei ich von allem persönlichen Ehrgeize bin! Würde ich sonst so eifrig deine Vermählung betreiben? Diese Ehe wird meinen Einfluß naturgemäß abschwächen. Ist Octavia erst Kaiserin, so fällt ihr eine bedeutsame Rolle zu, eine Rolle . . .«

»Das kann ich mir vorstellen,« spottete Nero. »Sie wird mit den Augen des Argus darüber wachen, daß nie und nirgends eine Zeremonie versäumt wird, und wäre sie für mein Gefühl die absurdeste. Sie wird verlangen, daß ich allmorgendlich zum vergötterten Romulus bete; daß ich ein Amulett um den Hals hänge mit dem Bildnis der Wölfin und der hungrigen Zwillinge; daß ich ihr glauben helfe, wenn sie in jedem Ereignis den unmittelbaren Einfluß Jupiters und seiner zärtlichen Juno gewahrt.«

»Und wenn sie das thäte, was wäre dir Schlimmes dabei?«

»Schlimmes?« wiederholte der Kaiser. »Nun, ich weiß nicht, wie du über die Göttergeschichte unsrer Vorfahren denkst. Du hast mir niemals davon gesprochen, selbst da ich noch Knabe war. So vermute ich fast, wir denken das nämliche.«

»Wie meinst du das?«

»Ich glaube nicht an die Fabeln des Pöbels.«

»So? Und was glaubst du denn?«

»Kann ich das gleich so in Worte fassen? Ich glaube mit Seneca an das Vorhandensein einer gewaltigen Urkraft, eines verborgenen Geistes, der alles umspannt und alles mit seinem Odem durchsättigt. Diese Urkraft lebt auch in uns; ihr Wollen ist unser Wollen, ihr Fühlen ist unser Fühlen! Die Götter aber, wie sie der Pöbel verehrt, halt' ich für Märchengestalten, gerade gut genug, um als letzter Kitt für die zerbröckelnde Tugend unsrer Gesellschaft zu dienen.«

Agrippina schwieg lange.

»Weißt du, mein Sohn,« sagte sie endlich, »daß du dich auf dem besten Wege befindest, ein Staatsverbrecher zu werden, – ganz nach der Weise des kaum begnadigten Artemidorus?«

Nero lächelte.

»Du unterschätzest meine Gewandtheit. Ich weiß den Kaiser von dem Privatmann zu trennen. Vor dem Senat zum Beispiel werd' ich mich hüten, die philosophischen Ueberzeugungen, die ich im Busen trage, leichtsinnig preiszugeben. Ich werde dort ebensogut von der allgeliebten Minerva reden, wie der Dümmste unter den Dummen. Aber das hindert doch nicht, daß ich es langweilig finde, wenn ich daheim, als Gatte, nicht einmal ausruhen soll von dieser unbequemen Komödie, wenn ich sogar im Schlafgemach eine Priesterin finde, die an den Stier der Europa glaubt! Ein prächtiger Gott, dieser hellenisch-römische Zeus, der mit der Tochter des Königs Agenor über das Meer schwimmt, um auf den Matten von Kreta den Minos und Radamanthos zu zeugen!«

Agrippina zuckte die Achseln.

»An Jupiter als an den Lenker des Weltalls glauben, und diese Schwänke der griechischen Volkspoeten für bare Münze nehmen, ist zweierlei.«

»Der Wahrhaft-Gläubige glaubt auch die Schwänke,« erwiderte Nero. »Wäre das nicht der Fall, so müßte er doch in der bildlichen Darstellung solcher Narrenspossen eine Lästerung erblicken.«

»Ich fürchte, du redest dir da mancherlei ein,« sagte die Kaiserin. »Uebrigens danke ich dir für dein offenes Bekenntnis. Ach, und was soll ich's leugnen: ich sehe, du bist der Sohn deiner Mutter. Ganz richtig hast du vermutet, daß die Götter auch mir vollständig fremd sind. Ich glaube nichts als das Fatum, die Moira, die uns die Wege des Lebens vorzeichnet von Anbeginn bis zum Ende. Dennoch – ich glaube auch an die Kraft der Bevorzugten, diese Wege mit Blumen zu schmücken, wo der Alltagsmensch nur in klägliche Dornen tritt. Ich glaube an die Fähigkeit des Genies, dort und da der Moira eine Vergünstigung abzutrotzen. Hierzu ist Klarheit erforderlich, Ruhe, die alle Vorteile ausnützt, Standhaftigkeit in der Verfolgung der Ziele. Deine Gemütsart kennt diese Tugenden nur als Keime: Octavia wird sie leicht zur Entfaltung bringen.«

»Octavia, die stille Octavia?«

»Sie ist nur still, so lange sie dich in der Nähe weiß. Ein Mädchen auch von geringerem Feingefühl würde herausmerken, daß du ihre Empfindung nicht teilst. Sie liebt dich von ganzer Seele: du aber, so freundlich du ihr begegnest, hast noch nie einen Ton gefunden, der wie Neigung geklungen hätte. Das, mein Sohn, macht sie befangen; das drückt sie beinah zu Boden. Scheute sie nicht das peinvolle Aussehen, hoffte sie nicht, daß es ihr dennoch vielleicht gelingen möchte, deine Gleichgültigkeit zu besiegen, sie hätte längst wohl ein Ende gemacht.«

»Das wäre das beste!« murmelte Nero gedankenvoll.

»Es wäre dein Unheil!« rief Agrippina empört. »Ich gestehe dir, daß ich die Oedigkeit, die du ausströmst, wenn du mit Octavia zusammen bist, längst müde bin, müde zum Krankwerden. Ich verlange, daß du dich änderst. Und da du als Bräutigam so gar kein Talent zeigst, will ich nun Sorge tragen, daß ihr endlich ein Paar werdet. Du gewinnst ihr vielleicht Geschmack ab, wenn du sie ganz besitzest und völlig kennen gelernt hast.«

»Mutter! Ein Jahr noch war mir als Frist gegönnt . . .«

»Das ist zu lange.«

»Ich habe dein Wort.«

»Ich nehm' es zurück. Diesen Winter hindurch magst du denn meinetwegen noch Philosophie treiben und griechische Trauerspiele entwerfen. Sobald aber der Lenz in die Lande zieht . . .«

»Soll mein Frühling zu Ende sein,« seufzte der Kaiser. »Nun, wir besprechen das noch!«

Die Sänfte hielt vor der Eingangshalle der Hofburg. Ernstlich verstimmt begab sich die Kaiserin Mutter in ihre Gemächer. Nero jedoch hatte den Mißklang der letzten Minuten sofort vergessen. Gleich im Säulenhofe begrüßte ihn Seneca und lud ihn ein, bis zur Stunde des Mahles mit ihm zu lustwandeln. Unter den Baumwipfeln der palatinischen Gärten erzählte der geistsprühende Lehrer seinem wißbegierigen Schüler allerhand wundersame Geschichten von der neuen sozialreligiösen Bewegung, die, zur Zeit noch unscheinbar und verborgen, unter dem Namen des Nazarenertums von Osten her nach dem Westen vorschreite, in ihren Lehrsätzen mancherlei ungeahnte Berührungspunkte mit der Philosophie des Palatiums aufweise und wohl geeignet erscheine, von Männern wie Nero und Seneca vorurteilsfrei studiert zu werden.

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