Georg Simmel

Nietzsches Moral

Solange Menschen über Moral philosophieren, das heißt, solange sie die sittlichen Werte, die tatsächlich empfundenen, die praktisch ausgeübten, oder die bloß geforderten in ein einheitliches Bild, in ein begriffliches Prinzip fassen wollen - so lange suchen sie einem tiefen Dualismus den Boden für einen solchen Bau abzuringen.

Wir empfinden das Leben als ein absatzloses Gleiten durch eine Unübersehbarkeit höchst entgegengesetzter Zustände, eine fortwährende Anpassung an unberechenbare Situationen, eine nach oben und unten schwankende Entwicklung, für die erst der Tod ein Definitivum gibt.

Und diesem wogenden Rhythmus der Lebenswirklichkeit stellen nun die Moralprinzipien ein Sollen gegenüber, in feste Begriffe gebannt, einen unbeweglichen Imperativ, eine Forderung, die dem gegebenen Dasein mit seinen Instinkten, Kräften und Nöten nicht nur inhaltlich ganz entgegengesetzt ist - dies würde in dem legitimen, unverwischlichen Gegensatz von Wirklichkeit und Ideal unterkommen - sondern gerade seiner Form, seiner ganzen inneren Wesenheit nach.

Mag das sittliche Sollen religiös oder sozial, vernunftmäßig oder naturalistisch, auf Glück oder auf Aszese gerichtet sein, immer tritt es mit einer Abgeschlossenheit, einer selbstgenugsamen Einheit auf, die eine tiefe Fremdheit, etwas wie eine Unberührsamkeit zwischen all jenen Moralprinzipien und der unbeschreiblichen, nur zu erlebenden Bewegtheit des Lebens selbst stiftet.

Von jeher hat man deshalb in der philosophischen Ethik etwas eigentlich Unlebendiges empfunden, als träfen ihre Normen nicht oder nur ausnahmsweise den Punkt, an dem sie unsere Wirklichkeit ergreifen und gestalten, und von dem aus sie sich als Ideale eben dieser Wirklichkeit offenbaren könnten.

Hier setzt die Leistung Nietzsches ein; deren letzte Absicht ist, die Ideale, die Werte, das Sollen des Lebens aus dem Leben selbst zu entwickeln.

Er macht nicht den aussichtslosen Versuch des Naturalismus: den Dualismus der Wirklichkeit und des Wertes des Lebens in Abrede zu stellen und den Menschen in die einreihige Existenz des Tieres und der Pflanze zu bannen, über die er doch tatsächlich in jedem Augenblick die Reihe der Werte und der in irgendeinem Sinne idealen Forderungen setzt; aber er wehrt sich ebenso gegen die christliche und Kantische Moral, die dem Leben ein Gesetz aus einer, seiner eigenen Bewegung und Bedeutung fremden, ihm jenseitigen Welt aufdrängen will.

Er sucht eine dritte Möglichkeit: dem Leben selbst sein Sollen, sein Ideal abzugewinnen, ohne es doch mit dessen einfach gegebener Tatsächlichkeit zusammenfallen zu lassen. Er stellt eine neue Tafel über das Leben - eine Tafel aber, deren Inhalt das Leben selbst ist.

Dies setzt allerdings die besondere Vorstellung voraus, die er vom Leben als solchem hat. Leben ist ihm Häufung von Kräften, von Kämpfen und Siegen, freilich auch von Leiden und Niederlagen - und eben damit ein fortwährendes Aneignen, Vergewaltigen, Insicheinziehen.

Leben ist unaufhörliches Verbrauchen von dem, was um das Leben herum ist, auch anderer Leben; und der Verzicht auf Kampf, Unterdrückung, Ausnutzung bedeutet so viel wie Verzicht auf das Leben selbst.

Es ist sein Wesen, sich über sich selbst emporzustrecken, weiter, stärker, voller zu werden und eben damit: anderes zu verbrauchen, sich von anderem zu nähren, sich über anderes zu erheben.

Leben, könnte man sagen, heißt für ihn Mehr-Leben, und darum ist es unmittelbar Wille zur Macht. Ist Leben der absolute Wert des Lebens, so kann es dies nur sein, wenn es über sich das Ideal jener Erhebung seiner selbst hat, das nur durch die Aufgipfelung über andere zu verwirklichen ist, durch Bekämpfen, Besiegen, Leidenmachen.

Das Leben ist also seinem tieferen und vollen Sinne nach eine aristokratische Existenzform, und das Nivellement, das jede Erhöhung auf Kosten anderer, jedes Mehr, das das Weniger anderer voraussetzt, jede Aneignung, mit der seine Fülle sich speise und wachse, grundsätzlich verhindert, ist ihm deshalb eine Sünde gegen den Fundamentalwert des Lebens - eben gegen das Leben selbst.

In dieser Bedeutung, nicht in der beschränkten darwinistischen, ist das Leben »Entwicklung«, ist die Steigerung das heisst das Mehrleben der Gattung, des Typus Mensch, die mit dem Leben selbst, als das Leben selbst gegebene moralische Forderung.

Dass in dem Menschen der Übermensch lebt als seine Zukunft, sein Auftrag, seine Hoffnung - das ist nichts als der in der Form des Menschentums verkörperte Gedanke, dass das Leben seinem Wesen und Begriff nach ein Über-Leben in sich trägt.

Darum sind alle demokratisch christlichen Ideale: Selbstlosigkeit, Demut, Entsagung, Sichhingeben an die Zukurzgekommenen, die Seligpreisung der Elenden und Schwachen - diese sind ihm das schlechthin Kontraideale, der Verfall des Lebens, sein Verrat an sich selbst.

Es kann seinen jeweiligen Höhepunkt nur an seinen jeweilig höchsten Exemplaren haben, weil es seiner Struktur nach jede Höhe nur durch die Tiefe anderer, nur durch Herrschaft, durch irgendeine Art von Ausbeutung (in welchem sublimen Sinne immer), durch Machtübung gewinnen kann.

Wo also die starken und aufrechten, die vornehmen und siegenden Naturen darauf verzichten, sich durchzusetzen, wenn sie statt der Kraft und Schönheit, der Feinheit und Freiheit, kurz statt der Steigerung des Lebens nur die Eigenschaften ausbilden, die der Masse, das heißt den hinter ihnen Zurückgebliebenen, nützen, so müssen jene Anlagen sich zurückbilden.

Christentum und Demokratie zielen darauf ab, die Schwachen und Unbegabten, die Kranken und Mitleidswürdigen zu konservieren, den Lebensprozess der Menschheit, der auf deren Vernichtung und Ausstoßung geht, rückläufig zu machen.

Diese Moral also, in der die im Lauf der Geschichte erwachsene Präponderanz der Masse sich ausdrückt, ist es, gegen die sein ganzer Hass sich richtet, und der er, da sie als »die Moral schlechthin« gilt, seinen Immoralismus entgegenstellt: nicht als die Leugnung eines Ideals über der bloßen Tatsächlichkeit des Lebens; sondern nur einer solchen, mit der die niederziehenden, das Leben herabsetzenden, weil seiner aristokratischen Struktur widersprechenden Wertungen inthronisiert sind.

Wenn aber das Leben in diesem strengen Sinne das Ideal des Lebens ist, so kann die Wertfrage sich nur auf die Beschaffenheit, auf das Sein des Menschen richten, aber nicht auf seine Wirkungen.

Hier liegt ein Missverständnis aus den Gewohnheiten der Moralen, die Nietzsche gerade zurückweist, besonders nahe. Es gibt genug aristokratische Wertsetzungen in unserer Kultur.

Ihr moralisches Recht aber holen sie sich alle daraus, dass aus der innerlichen und äußerlichen Bevorzugtheit von Individuen die wertvollsten und wohltätigsten Erfolge für die anderen, für die weniger Begünstigten, für die Gesamtheit hervorgehen sollen, dass der mächtige und begünstigte Mensch das beste Mittel für die Zwecke sei, die unterhalb seiner oder wenigstens außerhalb seiner liegen.

Aber indem so dem Starken und Herrschenden ein schlechtes Gewissen imputiert wird, falls er sein Sein, seine Stellung, seine Taten nicht durch ihre Bedeutung für die Schwachen und Beherrschten legitimiert und sozusagen entschuldigt, wird ja gerade der Wert des Lebens, der nichts ist als der Eigenwert des jeweils höchsten Lebens, wieder verneint! Der Wert des höchsten, stärksten, lebendigsten, wenn man will: ununterdrücktesten Menschen liegt für Nietzsche ausschließlich darin, dass das Leben es zu dieser Höhe seiner selbst gebracht hat, in seinem Sein, nicht in seinen Ergebnissen, in denen erst das Sekundäre des Lebens steckt, er bewirkt nicht - wonach jene anderen Moralen ihn schätzen - den Fortschritt, sondern er ist der Fortschritt.

Nietzsche ist nichts weniger als ein »Sozialaristokrat«. Vielmehr: die Ausbildung des aristokratischen Menschen ist ihm die Rechtfertigung, dass überhaupt eine Gesellschaft besteht, und nicht umgekehrt.

An dieser völligen Ablehnung eines sozialen Effektes der Aristokratie zeigt sich die Verschiedenheit des sozialen Interesses gegen das Interesse an der Gattung, an dem Typus Mensch, die das moderne Empfinden ohne weiteres für solidarisch zu halten pflegt.

Ganz unbefangen glauben wir die absoluten Werte der Menschheit damit gefördert, dass die sozialen, die der Massen, des Durchschnitts, der unteren Stände gehoben werden.

Möglich, dass dieser Glaube richtig ist; aber selbstverständlich ist er nicht. Er bedarf des Beweises - der freilich so wenig wie der des Gegenteils zu führen sein dürfte - gegenüber dem anderen, dass das Leben unserer Gattung seinen eigentlichen Wert nur in der Höhe der Eigenschaften hat, die ihre höchsten Exemplare ausbilden.

Wenn Nietzsche es deshalb als den größten Irrtum bekämpft, das Wesentliche und Wertvolle eines großen Mannes in die Erfolge seines Tuns zu setzen, statt in die Stufe des Lebens, zu der mit ihm die Gattung erhoben ist - so muss sich diese Ablehnung des bloßen Wirkungswertes auch nach innen wenden.

Wenn es den Wert des großen Menschen nichts angeht, was andere davon haben, so auch nichts, was er selbst als Subjekt davon hat; jener Wert ist von dem Reflex, den er im Lust- oder Leidempfinden des Menschen selbst findet, völlig unabhängig. An diesem Punkte ist die Nietzschische Moral auf das schlimmste, ja empörendste missverstanden worden.

Weil nur an der Einzelperson die Fülle, Hoheit, Kraft, das Sichselbstgenügen, kurz, der ganze Wert alles Lebens überhaupt besteht, weil er ihr das Recht zu jedem Sieg, Herrschaft, noch so gewalttätiger Steigerung ihres in sich wertvollen Lebens zusprach - hat man ihn für einen Lehrer des persönlichen Genusses, des subjektiv egoistischen »Sichauslebens« verleumdet, ihn, dem der Mensch nur wichtig ist, insoweit der objektive Wert des gesteigerten Lebens, der Gewinn einer höheren Stufe unseres Gattungslebens in ihm erscheint; und der gerade dazu die strengste Zucht, die Ausübung der Vorrechte als Pflichten, die Schule des tiefsten Leidens verlangt.

Wenn Glück das Echo bedeutet, das die innere und äußere Schönheit, die Vertiefung, Kraft und Eigenart des Wesens, kurz unsere objektiven Werte in unserem Gefühlsleben finden, so gehört es natürlich zu unserer Vollkommenheit; und ebenso, wenn aus ihm Mut und Schwungkraft und Helligkeit auf unser Tun und Sein zurückstrahlen.

Aber Lust und Glück zu einem Ziel und Eigenwert des Lebens zu machen - das erscheint ihm als die niedrigste Weichlichkeit der Seele. Die bürgerlich enge Alternative freilich: ob man für das eigene Wohl oder das Wohl der anderen sorgen solle, lässt Nietzsche weit hinter sich.

Wie vollendet der Mensch sei, in welcher objektiven Höhe seine Beschaffenheit stehe, das ist ihm die letzte Frage der Moral, der gegenüber alles Ergehen, alle bloßen Gefühle der Subjekte etwas Sekundäres sind; gerade wie er die Wirkungen unserer Existenz, so eng und bedeutsam sie auch der Tatsache nach mit dieser verknüpft seien, als einen bloß sekundären Abglanz des eigentlich moralischen Wertes: dessen, was wir sind - erkannt hatte; womit er die andere Alternative überwand, in der noch Kant befangen war: wenn der Wert unseres Lebens nicht in unserem Tun liegt, so muss er in unserem Genießen liegen.

An diesem Punkt wohnt das zutiefst Originelle der Nietzscheschen Ethik. Wo sonst die Einzelpersönlichkeit das Interessenzentrum ausmacht, und wo statt eines Imperativs, der den sittlichen Wert an einen bestimmten Inhalt oder eine abstrakte Formel bindet, das bewegte Leben selbst zu unserer Triebfeder wurde, da schien überall das Subjekt, der Egoismus, das Glücksempfinden das praktische Dasein zu leiten.

Nietzsche erst hat verkündet, dass in der reinen Beschaffenheit der Einzelperson und ohne, dass sie den Boden des Lebens für eine transzendente Abstraktion preiszugeben brauchte, ein objektiver Wert ruhen kann, erhaben über alles Geniessenwollen, über allen Egoismus des Subjekts.

Indem das Leben der höchste Wert ist und dessen Forderung in sich selbst trägt, ist der höchste Mensch als Existenz, als Gipfel des Typus Mensch eben der höchste, objektive Wert, ganz unabhängig davon, ob in diesem Menschen selbst dies gesteigerte, herrschende, die Menschheit eine Stufe emporreissende Leben sich als Lust oder als Leid reflektiert.

Der Lebensbegriff ist die Brücke, über die hin Nietzsche das Sein und Beschaffensein des einzelnen Menschen mit der absoluten Objektivität des Wertes, über alle bloße Wirkungs- und alle bloße Genussfrage erhaben, verbindet.

Und nun ein Letztes. Es besteht ein tatsächliches, ethisch gültiges Verhalten, in dem diese Elemente, wie die Moralphilosophie Nietzsches sie zusammenfügt, in der Naivität der Praxis oder eines organischen Wachstums sich als eine Einheit offenbaren: die Tatsache der Vornehmheit.

Denn sie bedeutet doch wohl dies: dass der objektive Wert der Person empfunden wird, dass die Persönlichkeit sich selbst in der Unmittelbarkeit ihres Seins und Verhaltens als etwas Wertvolles fühlt.'

Ich entnehme diese Sätze der ausführlicheren, wenngleich nach einem etwas anderen Gesichtspunkt orientierten Darstellung in meinem Buch: »Schopenhauer und Nietzsche« [in: GSG 10, S.167-408].

Der Aristokrat mag meinen, dass Menschen und Dinge ihm schlechthin zu dienen haben; vom Parvenü und bloß egoistischen Genüssling unterscheidet es ihn, dass er ganz von innen her, nicht nur in aufgeblasener Illusion, die doch immer eine geheime Unsicherheit enthält, dies durch die Qualität seiner Person nach sachlicher Gerechtigkeit zu verdienen glaubt und sich auch demgemäss verhält; nur dass die Pflicht, mit der er diesen Rechten entspricht, sich zunächst auf ihn selbst richtet: er ist verpflichtet, sein Sein so zu gestalten oder zu bewahren, dass ihm von diesem her seine Rechte zukommen.

Auf die Form dieser Empfindungsweise geht die ganze Wertrangierung hin, die uns an Nietzsche entgegentritt: die unbedingte Konzentrierung des Wertes auf das Individuum, die weder seinem äußeren Tun, noch seinem subjektiven Genießen zukommt, sondern der Bedeutung seines Seins als einer Stufe des ins Unendliche aufschreitenden Lebens.

Darum ist es auch gleichgültig, welcher Preis an individuellen Existenzen, an subjektivem Leiden, an Opfern durch Härte und Unterdrückung gezahlt werden muss, damit das Leben zu seinen Höhepunkten gelange, die als solche über seinen Wert entscheiden: der vornehme Mensch fragt nicht, »was es kostet« - weder was es andere, noch was es ihn selbst kostet.

Es ist das Wesen des vornehmen Menschen, dass er sich nur vor sich selbst verantwortlich fühlt, vor der Idee seines eigenen Seins und dessen Würde.

Das aber ist der tiefste moralische Sinn jenes Begriffes vom Leben, wie er Nietzsches Ethik fundamentiert: das Leben ist keiner Instanz jenseits seiner selbst verantwortlich, weder vor einem Gott, noch vor einer Idee, weder vor dem Glücksbedürfnis des Menschen, noch vor den äußeren Folgen seines Tuns.

Alles dies dependiert erst davon, dass das Leben sein letztes Ideal in sich selbst trägt, seine Wirklichkeit die Forderung einer höheren Wirklichkeit seiner selbst.

Nur vor diesem, ihm selbst immanenten Imperativ seiner eigenen Steigerung, Entwicklung, seines Stärker-, Schöner-, Reicher-, Freier-Werdens, kurz vor dem Imperativ, mehr Leben zu sein, ist das Leben verantwortlich.

Indem das Vornehmheitsideal das Ideal dieses Lebens gleichsam anschaulich macht, ist es mit der absoluten Strenge seiner auf sich selbst allein eingestellten Forderung die Gewähr, dass dieses Ideal des Lebens sich weder in naturalistische Formlosigkeit, noch in die Subjektivität eines bloßen Selbstgenusses verliere.

 

aus: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr.225, Morgenblatt vom 4.Mai 1911, Illustrierter Teil Nr. 104, S. 1-3, Berlin

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