Sarah Holzmann.

1896.

Herr Hellmund, ein wohlhabender älterer Junggeselle verbrachte einige Sommerwochen an diesem Gebirgssee. Der Ort war den reisenden Herden noch nicht bekannt. Das Hotel beherbergte selten mehr als zwei oder drei Dutzend Gäste. Diese bildeten aber fast eine einzige Gesellschaft, so daß man immer Unterhaltung genug hatte. Nur eine kleine Gruppe blieb vom Verkehr der Uebrigen dauernd ausgeschaltet. Man mußte freilich länger im Seehof sein, um diese Ausschaltung wahrzunehmen. Bei den Mahlzeiten saßen alle am gemeinschaftlichen großen Tisch. Am oberen Ende hatte Herr Gerhard, ein Maler, seinen angestammten Platz, weil er schon seit Jahren hierher kam. Weiterhin war eine töchterreiche Hofratsfamilie angesiedelt. Dann folgte Doktor Hübner Bey mit seiner Frau, zwei Buben und einer Gouvernante. Diese Gruppe war selten vollzählig, entweder es fehlte der Bey oder seine Frau bei Tische; erschienen aber beide, so war in jener Gegend ein heftigeres Tellergeklapper, manchmal auch ein halblauter Wortwechsel zu hören. Dann schob wohl der Bey mit gerötetem Gesicht seinen Stuhl zurück und eilte vor dem Ende der Mahlzeit hinaus. Um den langen Tisch herum flatterte nach solchen Abgängen des Afrikaners ein wohlerzogenes, kaum merkliches Lächeln, woran sich nur zwei Personen nicht beteiligten. Es waren dies Herr Gerhard, der steinern wie sonst drein sah, und das junge Fräulein Holzmann. Fräulein Holzmann war eigentlich ein Kind, das man nur bei Tisch für eine Erwachsene halten konnte, weil es gar ernst und gemessen zwischen seiner Mutter und dem Baron Rosen saß. Wenn Sarah Holzmann aufstand, sah man, daß sie noch ein kleines dürres Ding war, vielleicht vierzehn und ein halbes Jahr alt. Die Mutter war eine schöne Frau im Verblühen.

An diesem Tage nun kam Herr Hellmund in einiger Erregung zu Tische. Er grüßte wichtig nach rechts und links, und wollte sich die Erzählung des Zwischenfalles allmählich entreißen lassen. Aber Niemand fragte. Am Ende war der ganze Lärm unbemerkt geblieben? Herr Hellmund wartete bis nach dem dritten Gange, dann brachte er die Geschichte selbst vor. Ob die Damen bei dem Geheul am Vormittag nicht erschrocken wären?

Die Tischnachbarinnen verneinten. Sie waren nicht zu Hause gewesen. Der Hofrat fragte langsam: »Welches Geheul meinen Sie?«

Herr Hellmund sagte: »Die singenden Hunde. Das war eine schöne Bescherung. Sie sahen wohl den Mann, der gestern Abends mit seiner Meute eintraf und sich ein Zimmer geben ließ, wie ein richtiger Gast?«

Alle aßen gerade, und man hörte die fette Stimme des Herrn Hellmund im ganzen Kreise: »Wissen Sie, was er war? Ein Hundeprofessor!«

»Was ist das?« lachte Herr v. Rosen.

»Das ist ein Akrobat oder Clown, der mit Hunden auftritt. Er bekam das Zimmer neben mir. Ich hatte eine gestörte Nacht. Jeden Augenblick gab ein anderer Hund Laut. Oder war es immer derselbe? Jedenfalls antworteten ihm seine Kollegen mit Winseln und Gebell bis der Professor mit einem gräßlichen Fluch dazwischen fuhr und eine Peitsche knallen ließ. Erst gegen Morgen schlief ich ein und schlief ein paar Stunden. Als ich erwachte, wurde drüben schon musiziert. Jawohl, Geigentöne, der »Karneval von Venedig«, und dazu das rhythmische Winseln verschiedener Hundestimmen. Ich weiß nicht, durch welche Quälereien der Kerl die Tiere zu dieser Singart brachte. Ich ließ den Wirt kommen und drohte mit meiner sofortigen Abreise. Daraufhin wurde der Hundelehrer mit seinen Zöglingen aus dem Hause gewiesen. Seien wir froh.«

»Die armen Hunde!« sagte Sarah Holzmann halblaut und errötete gleich darauf heftig, als Herr Gerhard ihr Wort aufnahm, aber nicht zu ihr, sondern zu Herrn Hellmund gewendet sprach:

»Ganz richtig, den Hunden ist nicht geholfen; er wird sie weiter quälen.«

Der Hofrat schüttelte den Kopf: »Was man Alles erfindet! Singende Hunde – das ist gegen die Natur ihrer Art.«

»Vielleicht ist jede Kunst gegen die Natur der Art,« sagte Herr Gerhard.

Und Dr. Hübner Bey fügte hinzu: »Ja, ja, ich glaube die besten Leistungen verdanken wir Martern.«

Herr Hellmund vermochte dem Gespräch nicht mehr zu folgen. Er vertiefte sich in die Bratenschüssel, mit der leisen Genugtuung, auch einmal den allgemeinen Unterhaltungsstoff geliefert zu haben.

Nach Tische saß man gewöhnlich draußen vor dem Seehof und trank schwarzen Kaffee. Herr Hellmund wagte sich schüchtern an Herrn Gerhard heran, der ihm durch seine Kälte sehr imponierte, aber heute beinahe liebenswürdig gewesen war.

»Wie meinten Sie das eigentlich mit der Kunst gegen die Natur – oder wie war es doch?«

»Nicht jetzt!« sagte Herr Gerhard freundlich und drückte ihm den Arm. »Hören wir lieber zu!« Und er wies mit der Zigarre hinauf nach einem Balkon des ersten Stockwerkes. Zur offenen Türe heraus drangen Klaviertöne.

Herr Hellmund lauschte, und nach einer Weile flüsterte er: »Wer spielt denn so wundervoll?«

»Sarah Holzmann!«

»Die kleine Jüdin?«

»Ja.«

Auch die Uebrigen horchten hinauf. Frau Holzmann saß da mit einer eleganten Handarbeit; vor ihr auf einem niedrigen Weidenfauteuil, beinahe zu ihren Füßen, Herr v. Rosen. Frau Holzmann blickte manchmal auf, sah dem Baron sekundenlang tief in die Augen und dann wieder auf ihre Stickerei, wobei sie immer nachträglich lächelte, als hätten sie einander etwas gesagt.

Oben klang es weiter. Auf dem See lag ein Mittagshauch. Herr Gerhard träumte über die Berge hinweg. Wie lange saßen sie? Herr Hellmund sprach mitten in einem Stück, halb zu sich selbst: »Diese Musik geht mir durch Mark und Bein.«

Da schaute ihn Herr Gerhard mit einem dankbaren Ausdruck an und sagte ganz leise: »Sie sind vielleicht ein guter Mensch.«

Auch dieses zeitlose Zuhören ging zu Ende. Als nun die letzten Klänge verhallt waren und nichts mehr nachkommen wollte, erwachten die beiden Herren.

»Das sind doch andere Töne, als die ich heute Morgens aus dem Nebenzimmer hörte,« sagte Herr Hellmund, um etwas zu sagen.

Aber Herr Gerhard gab eine sonderbare Antwort: »Sie irren, Herr Hellmund, es sind dieselben.«

»Das verstehe ich nicht,« erklärte Herr Hellmund.

»Natürlich. Woher sollten Sie diese Geschichte kennen – die vielleicht nur Einer kennt?«

»Und der sind Sie, Herr Gerhard?«

Dieser war aufgestanden und wollte ins Haus gehen. Eben kam Sarah Holzmann die Treppe herunter, ihr lichtes Kleid schimmerte durch das Halbdunkel des Stiegenraumes. Herr Gerhard blieb außen am Tor stehen, um sie vorbei zu lassen. Sie sah ihn nicht an. Da sagte der Maler laut:

»Wollen Sie mit mir später, wenn es nicht mehr so heiß ist, nach Sankt Leodegar gehen, Herr Hellmund? Hin durch den Wald und Abends im Boot wieder zurück. Wir haben Mond.«

»Mit tausend Freuden!« erwiderte Herr Hellmund. »Ich werde Sie hier erwarten, bis es Ihnen beliebt, aufzubrechen.«

Herr Hellmund saß jetzt allein, zündete sich eine frische Zigarre an und betrachtete Sarah Holzmann, die ihm nach den leichten Andeutungen des Malers merkwürdiger vorkam. Wahrhaftig, noch ein Kind im kurzen Kleide; aber auf dem blassen Gesicht lag ein großer Ernst. Sie war zu ihrer Mutter hingetreten. Der Baron erhob sich gefällig und bot ihr den Weidenfauteuil an. Sarah Holzmann lehnte frostig ab, indem sie ihm ihr Buch zeigte, und ging dann gleich nach der Laube, die am Hügelrande seewärts stand. Frau Holzmann blickte ihrer Tochter achselzuckend nach und lud Herrn v. Rosen mit einer Bewegung ihrer fleischigen, ringbeladenen Hand ein, sich wieder hinzusetzen. Herrn Hellmund fiel es zum erstenmal auf, daß Frau und Fräulein Holzmann von den anderen Damen gänzlich abgesondert waren. Die Uebrigen, auch die Fremdesten, sprachen doch ab und zu mit einander, und die jungen Mädchen schäkerten, kicherten, spielten Tennis auf der Wiese oder Gesellschaftsspiele im Salon, wenn es regnete. Nur Sarah Holzmann war immer einsam. Ihre Mutter schien sich wenigstens nicht zu langweilen, da ihr der geschniegelte Baron beständig zur Seite war. Herr Hellmund empfand in seiner Gutmütigkeit ein rechtes Mitleid mit dem einsamen Kinde, das sich dort in der Laube mit aufgestütztem Arm über sein Buch beugte. Er stand auf und ging mehrmals an der Laube vorbei. Da bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß Sarah Holzmann gar nicht las, sondern hinter der vorgehaltenen Hand gar traurig über den leblosen See hinschaute, wie wenn sie an jenem Ufer etwas suchte. Doch als er ihr in seiner ungeschickten Neugier zu nahe kam, fuhr sie zusammen, starrte ihn einen Augenblick scheu und finster an und sah dann mit gerunzelter Stirn regungslos in ihr Buch.

Als die Sonne tiefer stand, ging Herr Hellmund mit Herrn Gerhard durch den Fichtenwald gegen Sankt Leodegar zu. Herr Gerhard gab wieder recht einsilbige Antworten auf die Anregungen und Fragen seines Begleiters. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde dahingeschritten waren, hörten sie in der Ferne des Weges laut streitende Stimmen, die sich näherten. Es war Dr. Hübner Bey und dessen Frau. Wie diese die Entgegenkommenden bemerkten, schwiegen sie. Im Vorbeigehen ließ der Bey seine erhitzte Gattin ein paar Schritte voraus und hielt Herrn Gerhard an:

»Leben Sie wohl! Ich reise heute Abend.«

»So plötzlich? Wohin?«

»Nach Afrika. Ich vertrage wieder einmal – Europa nicht.«

»Wie schade. Leben Sie wohl!« Herr Gerhard schüttelte dem Bey die Hand, sah ihm noch ein Weilchen nach und wendete sich dann lächelnd zu Herrn Hellmund: »Sehen Sie, das ist komisch; aber es ist eigentlich dieselbe Erscheinung, von der wir sprachen.«

»Welche Erscheinung?« sagte Herr Hellmund.

»Dieser Bey hat ebensowenig Lust zum Erforschen dunkler Weltteile, wie die Hunde ihres Nachbars zum Singen. Wenn er seine Ruhe hätte, wäre er vermutlich ein ebensolcher guter Bourgeois wie Sie.«

Herr Hellmund wußte nicht gleich, wie er das nehmen sollte. Er murmelte nur: »Nun und so?«

»So ärgert ihn seine Frau zum Hause hinaus – was, übers Meer! Die Wissenschaft verdankt dieser Frau viel. Ja, die Ursachen unserer Leistungen sind zuweilen komisch. Und öfter sind sie traurig. Ihr guten Bourgeois habt nicht die leiseste Ahnung, worauf die Lieder beruhen, die Euch entzücken, und die Taten, die Ihr bewundert. Ihr hört, aber versteht nicht den Gesang, der aus den Leiden kommt. Freilich muß auch die Seele danach sein, die, wenn sie recht sehr zerknittert und mißhandelt wird, sich in reinen und hohen Ausbrüchen Luft macht. Dafür ist mir die arme kleine Sarah Holzmann ein schönes Beispiel.«

»Ach ja, Herr Gerhard, Sie wollten mir die Geschichte dieses Kindes erzählen.«

»Was ich davon weiß, kann ich Ihnen sagen. Es ist eine eigentümliche, halbwüchsige Tragödie. Ich lernte Sarah vor drei Jahren kennen, hier. Damals sprach sie noch mit mir. Sie haben vielleicht heute Nachmittags bemerkt, daß sie meinen Gruß nicht annimmt.«

»Ich hielt es für Ungezogenheit. Warum sollte ein solches Kind? ... Sie kann noch nicht sechzehn Jahre alt sein.«

»Noch nicht fünfzehn. Sie war zwölf Jahre alt, als ich sie kennen lernte, Ihr Vater, der Kommerzienrat Holzmann, hatte, wie heuer auch, Frau und Tochter hierher gebracht. Sahen Sie den alten Mann nicht? Er war vorige Woche hier.«

»Der? Ich glaubte, daß es ihr Großvater wäre. Die Frau ist um so viel jünger.«

»Er hat spät geheiratet, ich erfuhr es damals. Ich pflegte oft mit ihm zu plaudern, und er erzählte mir manches Merkwürdige aus seinem Leben, das lange Zeit unstet war. Er hat sich in der ganzen Welt umgetan und dabei nicht nur Reichtümer, sondern auch vielerlei seltene Kenntnisse erworben. Er ist ein großer Kaufmann und zugleich ein Gelehrter. Spät machte er sich seßhaft und nahm die Tochter seines Bruders zum Weibe, dieses eitle Weib. Es wurde ihm ein Kind des hohen Alters geboren. Daß er das holde Mädchen mit seiner zitternden Liebe umgab, konnte mich nicht wundern. Aber wie Sarah an ihrem Vater hing und hängt, das ist etwas Ergreifendes. Wenn sie den Alten ansah, war in ihrem Blicke eine Angst, die man wohl bei den Müttern kranker Kinder bemerken kann. Mich fragte sie einmal mit unsicherer Stimme, ob ich ihren Vater sehr gebrechlich fände, und bevor ich noch verneinen konnte, tropften schon ihre Tränen auf meine Hand. Sie wich ihm nicht von der Seite. Für sie gab es kein Spiel und keine andere Gesellschaft, wenn er da war. Nie sah ich eine solche Kindeszärtlichkeit, so bewölkt von Bangen vor dem kommenden Verlust. Dennoch konnte sie heiter sein wie ein richtiges Kind ihres Alters. Was waren das für bezaubernde Gänge durch diesen Wald, wenn sie, an den Arm des Alten geklammert, zwischen ihm und mir einhertänzelte. Ich hatte ja auch schon bald meine vierzig auf dem Rücken, und es konnten überhaupt nur die Empfindungen eines bejahrten Onkels sein, die mir das reine Kind einflößte. Was war schöner, wenn sie uns erzählen ließ – den Vater von den Reisen und Schauplätzen seiner Jugend, mich von meiner Kunst und den guten Meistern – und wenn sie mit einem Glanz in ihren tiefen Augen lauschte? Oder ihr eigenes Geplauder, dieses Zwitschern, dieser Gesang, wobei wir Großen einander nur stumm über ihr liebes Köpfchen hinweg anblickten? Hielt sie dann ein, so sprach ihr Vater gern die Worte des Liedes vor sich hin:

O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh –
Vogelsprachekund, vogelsprachekund,
Wie Salomo ...

Auf solchen Ausflügen gingen wir Drei gewöhnlich voran. Frau Holzmann kam mit dem Baron hinterdrein. Der war schon damals in ihrer Gesellschaft. Der Kommerzienrat sprach zu mir mit einer unnachahmlichen stillen Ironie von diesem Herrn, der sich, wenn ich nicht irre, wohl oft von ihm Geld ausgeborgt haben mag. Wie weit reichte aber der Scharfblick des überlegenen Alten, wie viel sah und übersah er? Das weiß ich nicht. ... Nun begab es sich, daß der Kommerzienrat auf einige Zeit verreisen mußte, um nach seinen Geschäften zu sehen. Sarah war natürlich recht betrübt. Er mußte ihr versprechen, daß er schreiben, telegraphieren und bald wiederkommen werde. Sie war doch ein vernünftiges Kind und schickte sich, wenn auch mit ein bißchen Schwermut, darein. Nachdem er weggefahren war, machte ich ihr alle meine erprobten Spässe vor. Ich unterhielt sie und mich königlich. Am nächsten Morgen meldete ein Telegramm des Vaters, daß er noch früher als versprochen, zurückkehren werde. Wir freuten uns sehr, und unsere Freude währte bis zum nächsten Abend. Frau Holzmann war mit Sarah zeitlich zur Ruhe gegangen. Um den Baron los zu werden, der mich langweilte, machte ich eine Kahnfahrt, wovon er kein Freund war. Ich ruderte weit hinaus und kam zurück. Als ich den Hügel zum Seehof hinanschritt, war im ganzen Hause kaum ein Licht mehr zu sehen. Alles schon zur Ruhe. Nach dem raschen Aufstiege hielt ich oben still, um mich zu verschnaufen. Da hörte ich etwas – einen langgezogenen unterdrückten Ton, der mich sogleich, noch bevor ich ahnte, was es war, mit Grausen erfüllte. Denn es war ein Ton des größten Schmerzes, eigentlich gar nicht mehr wie vom Menschen klingend, obwohl es eine menschliche Stimme war. Es näherte sich dem Winseln eines sehr gemarterten Hundes. Ich ging auf den Ton zu. Im feuchten Grase vor dem Gebüsche am Hügelrand lag eine kleine helle Gestalt flach ausgestreckt, das Gesicht auf den Boden gedrückt. Da war ich schon bei ihr und hatte sie erkannt.

»Sarah!« rief ich unwillkürlich ebenso leise wie sie wimmerte. »Um Gotteswillen, was gibt es?«

Sie hörte mich nicht oder wollte nicht hören. Ich sah, daß sie statt zu antworten in die Erde hineinbiß, um ihr Stöhnen zu ersticken. Ich sah auch, daß sie nur mit einem Röckchen und der Nachtjacke bekleidet und bloßfüßig heruntergelaufen war. Mit einem Sprung war ich beim offenen Fenster meines ebenerdigen Zimmers, schwang mich hinein, holte einen dicken Plaid, und wie ich wieder bei ihr war, nahm ich vor Allem die Zarte und wickelte sie trotz ihres Sträubens warm ein, daß sie sich gar nicht rühren konnte. Jetzt schluchzte sie an meiner Brust in das Tuch hinein.

»Sarah, Kind, was gibt es? Sind vielleicht schlechte Nachrichten von Papa gekommen?«

»Ach nein,« wimmerte sie, »ach nein, ach nein, ach nein!«

»Also was, mein Kind?«

»Ach, Herr Gerhard, ach, Herr Gerhard! Ich kann es nicht sagen, ich kann es nicht sagen.«

»Soll ich nicht Mama rufen?« sagte ich.

Da wollte sie sich aus meinen Armen zur Erde werfen und schrie in einem heiseren Tone, den ich nie vergessen werde: »Nein, die nicht! Nie, nie mehr!«

Schon durchfuhr mich eine jähe Ahnung. Ich sprach ihr zu, so sanft ich es nur vermochte. Sie müsse sich beruhigen, an Papa denken. Das half. Aus dem krampfhaften Schluchzen geriet sie in ein stilleres Weinen. Wie es weinte, das arme Kind. Allmählich lösten sich ihr auch die Worte, und da kam es endlich heraus, was ich erraten, befürchtet hatte. Sie sprach leise:

»Ich bin so unglücklich, weil – weil meine Mama einen fremden Mann lieb hat.«

Ich erschrak sehr und stammelte:

»Kind, Sarah, wie können Sie das glauben? Das ist eine törichte Einbildung, so etwas darf man gar nicht denken.«

Sie antwortete tonlos:

»Sagen Sie mir nichts! Ich weiß. Ich weiß es seit einer Stunde. Ich wollte ins Wasser laufen. Ich war schon am Ufer. Aber Papa! Mein armer, teurer! Ich darf nicht vor ihm sterben, und er darf es nicht erfahren. Ach, und da bin ich wieder heraufgekommen. Aber wie soll ich damit weiterleben, Herr Gerhard, wie soll ich damit weiterleben?«

Ich war so erschüttert. Ich wagte nicht, ihr zu widersprechen, zu fragen. Was ich in meinem Herzen an Trost fand, das brachte ich ihr bei. Ich sprach nicht mehr wie mit einem Kinde, denn wer solches erleidet, gehört schon zu den gereiften Duldern. Ich sagte ihr, welch eine Tröstung die Kunst mir in meinem eigenen Leben gewesen und wie sich durch die Kunst unsere Schmerzen in lauter Blumen verwandeln, die wieder andere Menschen erfreuen, gerade die mühseligen und beladenen Menschen. Und dann mußte ich doch wieder lächeln, als sie kindlich einfältig fragte:

»Glauben Sie, Herr Gerhard, daß ich mir mit Klavierspielen darüber hinweghelfen kann?«

Ich bewog sie endlich, zur Ruhe zu gehen. Welche Wandlung vollzog sich aber in dieser Nacht im Gemüte der kleinen Sarah? Durch welchen launenhaften Umsprung kehrte sich ihr Unwille gegen mich? Sie bereute vielleicht, einem Fremden die Schande ihres Hauses verraten zu haben. Oder befürchtete die arme Unerfahrene, daß ich ihrem Vater etwas erzählen könnte? Dem wollte sie es um jeden Preis verheimlichen, das erkannte ich bald. Sie behandelte mich bis zur Rückkunft des Kommerzienrates kalt und schroff. Es versteht sich, daß ich ihr auch nicht durch die verstohlenste Andeutung das Vorgefallene ins Gedächtnis rief. Einige Tage später benützte der Alte ein Alleinsein, um mir zu sagen:

»Denken Sie sich die Laune des Kindes, mein lieber Herr Gerhard! Sie hat plötzlich etwas gegen Sie – ich konnte nicht herausbringen, was. Ich halte es für eine der wunderlichen Stimmungen, die um diese Lebenszeit der Rätsel in jungen Menschen auftauchen. Sie will nicht mehr mit Ihnen verkehren, und ich mußte es ihr feierlich versprechen. Sie ist ja sonst ein so gutes Kind. Ihnen mußte ich es aber doch insgeheim sagen, damit Sie nicht etwa einen ernsteren Grund vermuten, denn ich schätze Sie nach wie vor.«

»Und sehen Sie, mein lieber Herr, so habe ich die kleine Sarah Holzmann verloren.«

Herr Hellmund meinte: »Das ist ja sehr – sehr, wie soll ich sagen? Kurios!«

Der Maler schloß seine Erzählung:

»Ich treffe sie jeden Sommer hier. Aus der Ferne sehe ich sie wachsen, reifen. Ich erkenne auch an manchen Zeichen, wie dieser unbehobene Schmerz ihre Seele ausarbeitet. Ihre Musik ist mir eine Botschaft vom tiefen Geheimnis. Sie leidet und kämpft. Wie eine Mitschuldige sorgt die Reine dafür, daß ihre Mutter nie ertappt werde; denn der alte Mann erführe ja so die Schande. Ob das abscheuliche Paar weiß, wie sie ihnen hilft? Ich nehme an, daß die Beiden in ihrer sorglosen Unsauberkeit sich weiter darüber keine Gedanken machen. Sie können ruhig sein, sie sind ruhig; Sarah Holzmann wacht.«

Die Herren waren jetzt im Uferdorfe Sankt Leodegar angelangt. Herr Hellmund versuchte da sitzen zu bleiben, um, wie er sagte, die Geschichte zu verdauen. Herr Gerhard wollte aber sogleich mit dem Boote zurückfahren.

»Es hieß doch, daß wir im Mondschein heimkehren?« wendete Herr Hellmund ein.

»Ja, ich sagte das nur vor Sarah Holzmann, weil sie nie singt, wenn sie mich in der Nähe weiß; das habe ich durch einen Zufall erfahren und dann durch Beobachtungen festgestellt. Seit jener Nacht schämt sie sich vor mir, und sie will nicht, daß ich aus ihrem Gesang das Geheime höre, was sie in der Zeit durchgemacht hat. Sie will, daß ich vergesse. Jenes Ereignis soll aus meiner Erinnerung vertilgt werden. Sarah Holzmann weiß nämlich nicht, wie sehr ich sie – wie sehr ich sie nicht vergessen kann. Und wenn ich sie, verborgen lauschend, singen höre. ... Kommen Sie, vielleicht singt sie heute!«

Sie saßen im Boote. Herr Gerhard ruderte mächtig, daß sich das Schifflein ordentlich im Wasser bäumte. Es wurde dunkel. Als sie nur hundert Ruderschläge vom Seehofe waren und noch nichts hörten, gaben sie die Hoffnung auf. Herr Gerhard hatte eine Weile die Ruder nicht gebraucht. Eben wollte er sie enttäuscht wieder aufnehmen, da erscholl es lieblich von oben; eine Stimme, in der eine Seele enthalten war. Es flog leicht und hoch hinaus, rein als schwänge sich ein Vogel über den See.

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