Zwölftes Kapitel.
Schwanenjungfrauen.

In den hohen Kornfeldern wuchs nicht überall Korn. Der ebene Boden wird noch jetzt durch viele Vertiefungen unterbrochen, ehemals waren es Seen, dann wurden es Moräste; seit die Kultur fortgerückt, sind es nur noch Tümpel geblieben. Doch ladet ein heller, klarer Wasserspiegel wohl zum Baden ein. Der Bauer, der dich trifft, warnt dich aber, denn der Sage nach sind einige dieser trichterförmig sich senkenden Löcher unergründlich. Außerdem gab es ehemals eine Britzer Heide, ein übelberüchtigter Wald, dessen Buschwerk gesprenkelt in die Kornfelder hineinwuchs. Und endlich schnitten viele Wege und Fußsteige durch diese Felder. Das Auge aus der Ferne sah nichts von den Unterbrechungen, es dünkte ihm eine unermeßliche, goldene Ährenfläche, darin die Kornblumen und der rote Mohn über die Einsamkeit klagten.

An einem dieser kleinen Seen lag auf dem grünen, abschüssigen Rande ein junger Mann auf dem Rücken hingestreckt. Er hatte sich gebadet. Ob das Wasser unergründlich, danach hatte er nicht gefragt, es auch wohl nicht untersucht; er war ein guter Schwimmer, der sich im Wasser nach Lust getummelt.

Er ruhte jetzt von der Anstrengung und um die Kühle abzuwarten, vielleicht auch, um sich mit der Einsamkeit zu unterhalten. Nach der Wasserseite zu verbarg ihn ein großer Hagebuttenstrauch. Die Hände unterm Kopfe, sah er dem Zuge der Wolken nach, der Flucht der Vögel; vielleicht horchte er auch auf die Lieder, welche die rauschenden Ähren ihm sangen.

Ein Geräusch, was sich näherte, störte ihn auf. Den Fahr- oder Reitweg, der in einer Krümmung eine Seite des Tümpelrandes berührte, hatte er beim Herkommen durch die Felder nicht bemerkt. Ein schaumbedecktes Pferd schoß aus dem Ährenfelde. Noch zwei Sätze, und es konnte sich auf dem abschüssigen Rande nicht mehr halten und stürzte sich und den Reiter in die Tiefe. Dieser sah die Gefahr nicht, er ließ dem Roß die Zügel; der Instinkt des Tieres bewahrte beide. Im Augenblick, wo es galt, bäumte es und warf den Reiter ab. – Oder er gleitete aus Sattel und Bügel, die er längst verloren, denn er strauchelte nur etwas und stand gleich wieder auf seinen Füßen. Vielleicht aus einem Traum erwachend, denn ohne sich um das Pferd zu kümmern, das seinen eignen Weg suchte, stand er und hielt sich mit den Händen das Gesicht.

Entweder ein Rasender oder ein Betrunkener, hatte der Liegende geschlossen, denn durchgegangen war das Pferd nicht. Es war ein ihm wohlbekannter friedfertiger Gaul aus dem Stall eines Pferdeverleihers. Der Reiter hatte nachlässig, aber sicher gesessen, und die blutenden Seiten des Tieres verrieten deutlich genug die Behandlung, welche es außer sich gebracht. Walter war an dieser Gesellschaft gar nichts gelegen, aber die seltsame Stellung des Ankömmlings fiel ihm auf. Durch die Hände schielte er auf das Wasser, und seine dunklen Augen glänzten seltsam.

»Plagt dich – – wenn du's bist?« Er hatte die Hand auf die Schulter des Reiters gelegt. Dieser war nicht sehr erschrocken, als er sich umsah und den andern erkannte. »Vielleicht – eigentlich aber nicht. Ich dachte nur an ein Bad. – So aus dem Glutofen in die kühle Tiefe.«

»Was hier dasselbe wäre!« entgegnete der zuerst Dagewesene und faßte heftig seinen Arm. »Kommst du aus dem Gefängnis, Louis? Wardst du heut entlassen?«

»Um meine Freiheit zu genießen, jagte ich den Gaul fast tot und ward selbst wieder unfrei und matt wie eine Fliege. Und wenn ich wieder aufflattere, steht doch tausend gegen eins, daß ich wieder gegen etwas anstoße. Wär's nun nicht ein wunderschönes Ende, um gar keinen Anstoß mehr zu geben, wenn ich, erhitzt, durstend, an eines Felsens Rande in der Mittagssonne eine Flasche Champagner auf einen Zug ausstürzte und dann kopfüber ins Meer! – Übrigens gebe ich dir mein Wort, es war kein Ernst, wenigstens hätte ich mir eine andre Pfütze ausgesucht. 's war nur ein aufsteigender Gedanke.«

»Aber keine Lerche, die in den Äther steigt«, sagte Walter, als beide sich auf dem Rasen gelagert. Der Ankömmling sog, hingestreckt, die Luft ein.

»Nur nichts von Äther in diesem Schwefeldampfe«, sagte er nach einer Weile. »Wenn die Welt bestimmt wäre unterzugehen, ich glaube nicht mehr, daß es in Wasser oder Feuer geschieht, sondern Gottvater läßt sie ersticken in den Dünsten ihrer eigenen Gemeinheit. Es wäre eigentlich ein recht passendes Ende für sie.«

»Mitgebrachte Gefängnisgedanken!«

»Grillen, Schrullen oder Ungeziefer, wenn du willst, denn als ein vernünftiger Mensch glaubst du doch nicht, daß ich in dieser Sozietät eximierter Lumpen einen Gedanken aufgefangen hätte. Ja, hätten sie mich an eine Karre geschmiedet, unter den Baugefangenen gibt's vielleicht noch Menschen.«

»Du solltest ins Gebirg, dich baden in der Morgenluft, im Felsbach – du solltest auf lange Zeit aus der Stadt.«

»Alles Selbsttäuschung, Betrug, Walter! Freilich, wenn Tieck uns abends in dem verschloßnen, halbdunkeln Kämmerchen seine Märchen vorlas, mochte ich den Waldduft herunterschlürfen, der Nixe mit den langen Haaren um den Nacken fallen und die Allmutter Natur an meine Brust pressen; aber in natura ist's anders. – Bin ich nicht umhergestürmt! Die Sohlen habe ich mir abgelaufen, aber keine Nixe, nicht mal eine Hexe gefunden. Beim Morgenrot rufst du ah und findest dich in Odenstimmung, und abends wirst du empfindsam und könntest Matthisson mit seinem Zopf an die Brust drücken. Alles Illusionen! Sei redlich gegen dich selbst. – Die Wahrheit sucht man doch, wo die Sonne am höchsten steht, und ich habe sie gesucht, rechtschaffen. Schlürfte alle Aussichten, und meine Ansichten wurden immer enger. Am Ende kamen mir die zackigen Felsen da hinter Dresden, die wir beide einmal bewunderten, nicht anders vor als die gepuderten Köpfe unserer Kriegsräte. Und mehr haben sie auch nicht zu schaffen mit dem Weltgeist, als daß sie rot werden im Morgenlicht und abends Schatten werfen. Rot werden können unsere Puderköpfe freilich nicht mehr, aber wenn sie uns im Lichte stehen, kann man sie wegschubsen. Diese verfluchten toten Felsen bleiben aber immer stehen. Nein, Teuerster, die Romantik in Ehren, die Menschen bleiben doch wenigstens Puppen, mit denen man Schach spielen kann.«

»Wenn wir nur fliegen könnten! Wenigstens wie die Lerche hoch.«

»Und ich möchte sie immer mit dem Pustrohr runterblasen. Da fliegt das Biest hinauf, schmettert uns Wunderklänge vor und kommt doch nie weiter als ins leere Blaue. – Ja, Walter, wenn man's recht besieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß die Natur nicht mehr ist als eine alte Vettel, morgens und abends geschminkt. Und weil sie sich bei Tag nicht besehen lassen will, sticht und brennt die Sonne.«

»Nur, daß die Schminke immer frisch bleibt, heut wie am Tag der Schöpfung.«

»Wer sagt dir das! Es hat keiner gelebt, als Gottvater auf den Einfall kam, diesen Spielball Erde zu erschaffen und in das Uhrwerk Universum zu schleudern, damit er zu Ehre des Höchsten seinen Parademarsch um die Sonne kreist.«

Der Ankömmling zog mechanisch die Gräser und Kräuter, die seine Hand ablangte, mit der Wurzel aus.

»Suchst du nach der Alraunwurzel?«

»Könnt ich sie finden! Den allertiefsten Schmerz aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns die andern Schmerzen dann wie Bagatellen erscheinen.«

»Der tiefste Schmerz müßte doch töten. Darum verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun tiefer und tiefer –«

»Und spielen nicht lieber am Bach mit Vergißmeinnicht und Veilchen! Nicht wahr, das ist viel gescheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halberstadt zum Vater Gleim, im Freundschaftstempel uns gegenseitig anräuchern und ansingen, du mein Anakreon, ich dein Tibull.«

»Der höchste Schmerz wäre Selbstvernichtung, und zum Selbstmord schuf uns nicht die Natur!« rief Walter, ohne auf den Spott des Freundes zu achten.

Louis hatte sich aufgerichtet und verbarg wieder das Gesicht in beiden Händen. »Ein Stück von der Alraunwurzel zog ich doch schon raus. – Wenn ich nur wüßte, ob der Wunsch Sünde wäre?«

»Welcher?«

»Wäre meine Mutter keine tugendhafte Frau gewesen!«

Es folgte eine Pause. »Dein Vater ist nicht schlimmer als Tausende.«

»Ist das ein Trost, daß ich eine Partikel bin von einer Partikel aus der allgemeinen Erbärmlichkeit.«

»Er läßt dir Freiheit.«

»Er läßt aller Welt die Freiheit, so niederträchtig zu sein, wie sie Lust hat, damit er nicht schamrot zu werden braucht.«

›Das ist ein hartes Wort‹, dachte Walter, und auch Louis mußte es denken, denn er war rasch aufgesprungen und reichte dem Freunde die Hand:

»Adieu!«

Walter umfaßte seinen Arm, er wollte ihn in der Aufgeregtheit nicht von sich lassen: »Du verwüstest dich selbst. Ich bin nicht zum Moralprediger geboren, aber – du warst es zu Besserem.«

»Was kann man denn Besseres tun in dieser Gesellschaft, als sich selbst verwüsten! Trinken, und wenn man erwacht, wieder trinken. Sind nicht alle Edleren dazu bei uns verdammt. Tadelst du den Prinzen, daß er den Schaumbecher nicht von der Lippe läßt, daß er wenigstens den Jammer nicht mit ansehn will wo er nicht helfen darf. Lieber doch berauscht untertauchen und rasch, als nüchtern zusehen, wie wir Zoll für Zoll im Morast versinken. Oder wo ist denn die Kraft, die nach Besserem ringt, wo nur ernster Wille! Der Gute, Zahme, Bescheidene da, der sich nicht mehr ganz von den Schlechten von ehemals will leiten lassen, aber auch nicht ganz mit ihnen zu brechen wagt! Die beschränkte, duckmäuserige Tugend, die sich den Himmel malt an ihre vier Wände, aber der Himmel draußen ist ihr zu frisch und kühl. Sturmwind ringsum, nur aufspannen, nur zusteuern brauchten wir, und mit vollen Segeln triebe das Kriegsschiff – prost Mahlzeit! Man kettet das Steuer an, umwickelt die Ruder und laviert. Das ist eine berauschende Kunst. Soll ich mich auch anlernen lassen? Bei wem? Bei meinem Vater? Staatsdienst! Herrliche Menschenbestimmung! Dein Vater predigt es dir ja wohl auch täglich: Laß dich anstellen. Wollen wir uns polnische Krongüter schenken lassen? Die sind schon weggeschnappt. Wollen wir mit den Juden und Domänenräten die Rittergüter taxieren und Hypotheken verschreiben, die ihren Wert im Monde haben? 's ist auch schon zuviel drin gepfuscht. Lieferanten für die Armee, aber es gibt keinen Krieg! Oder uns üben, solche süßgänseschmalzhonigduftenden Kabinetts- und Humanitätsdekrete schreiben, die beweisen, daß Gott, der König, seine Minister und seine Regierungsräte alles mit Weisheit und Verstand gemacht haben? Himmel und Hölle! wem nun andres Blut in den Adern pulst! – Die schönen Verse, die hochedlen Charaktere des großen Dichters auf der Menschheit Höhen! Schlugen wir ihnen nicht oft in mitternächtlicher Lust den Schädel ein und sahen, daß es nur Masken waren! Gib, zeig, schenke mir was, wofür ich mich begeistern, was ich ans warme Herz drücken kann, wofür es in Flammen aufschlägt, wofür ich mich in die Schanze oder in den Tod stürze. Fähndrich Pistol ist mein Philosoph, wenn er die Welt doch noch für eine Auster hält. Leider fehlt aber das Schwert jetzt, sie zu öffnen. Laß mich rasen.«

»Ich hätte gar nichts dagegen, wenn du ein rasender Roland würdest und dich einmal zum Tollwerden verliebtest. Du bedarfst einer Radikalkur.«

Louis Bovillard lachte. »In diese Mücken! – Schaff mir was andres. Schaff mir ein Vaterland. Das, das! Vielleicht wär ich ein anderer!«

Er spuckte, und ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er sein Pferd suchen, das gemütlich im Kornfelde seinen verzehrenden Meditationen nachhing.

»Ein Vaterland!« wiederholte Walter. Es war ein Funken, der viele Gedanken zündete, aber es waren nicht die Gedanken, um die er heut die Einsamkeit gesucht. Er stand mit untergeschlagenen Armen, seine Augen schienen die Würmer im Grase zu verfolgen, und er hörte nicht, wie sein Freund zurückgekehrt war, diesmal den Gaul am Halfter, und ihn vorsichtig um den Rand des Sees führte. Er hörte erst, als Louis seinen Namen rief:

»Was sinnst du? Bei dir hat die Romantik noch nicht einmal ganz durchgeschlagen, während ich sie abschüttele. Du weißt den ›Zerbino‹ auswendig, und ich wette, du schwärmst wieder für den Kieferbusch drüben auf dem Sandhügel.«

»Und warum nicht! Tieck hat unrecht, wenn er die Lust schilt, die sich auch aus dem Unbedeutenden Nahrung sucht. Gerade das führt uns zur Vaterlandsliebe, die du suchst. Aber was führt dich zurück?«

»Der Anblick einiger Herren von der Gendarmerie, die mein scharfes Auge vom Gaule aus in der Ferne entdeckte. Um nicht ihnen zu begegnen, stieg ich ab und will mich durch einen Fußsteig schlängeln. Auch auf die Gefahr hin, daß der Bauer uns pfändet. Nun, bewunderst du nicht meine Vernunft?«

»Wenn ich nicht wüßte, daß du bei nächster Gelegenheit doch wieder mit ihnen zusammenstößest.«

»Das ist mein Fatum. Konnte Mercutio für seine Natur!«

»Wenigstens spielt wieder Humor auf deiner Stirn.«

»Und in deinen Augen glänzt ein Gedicht.«

»Ich habe das Versmachen verschworen. Du weißt es.«

»Aber, Walter, in solcher Natur! Ich müßte dich ja nicht kennen. Ein tiefer See mit romantischen Ufern! Vielleicht kommen die Schwanenjungfrauen angeflogen, entkleiden sich, ihre Schleier hängen sie an die Hagebutten. Husch hast du einen weggestohlen und erwartest als frommer Siedler im Korn die Schöne, die als Mediceische Venus um Gottes willen um ein kleines Stückchen Bekleidung bittet.«

»Wir irrten darin, daß wir das Wunderbare immer in der Ferne suchten:

Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah!
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.«

»Wie schon Goethes anderer guter Mann, der nach Schätzen gräbt:

Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.«

»Wer den Sinn für sie mitbringt, dem schwebt ihr Geist entgegen auch vom Tautropfen, der am Grashalm hängt, er wiegt sich in den Ähren, über die der Wind hinspiele.«

»Er glitzert auch im Mistkäfer, warum gähnt er nicht auch in dem Frosch, der da unvernünftig weit über der Mummel das Maul aufsperrt. Sieh ihn an, welche tiefe Weisheitssprüche die Padde krächzt. – Und welche Weisheit bläht sich eben auf deiner Brust! Es muß heraus, ich sehe es, und du brauchst einen Zuhörer. Frisch losgelegt! Gleichviel, ob die Naturandacht als Predigt oder als Rhapsodie rausbricht. Die Gendarmen sind noch im weiten Felde. Heraus denn, ein verschluckter Gedanke ist Gift.«

Walter van Asten schien wirklich nur der Aufforderung zu bedürfen, den Gedankenstrom, der in ihm arbeitete, auszugießen:

»Weil wir zuviel tranken und seine üblen Wirkungen empfanden, sollen wir darum den Wein selbst ausgießen! Sollen wir zur Nüchternheit, zur Korrektheit zurückkehren? Tut der Gärtner recht, der lauter exotische Gewächse in seinem Garten ziehen wollte, und sie kamen nur zum Teil oder verkrüppelt fort, der darum alle ausreutet und meint, der Boden tauge nur zu Kartoffeln! Legen wir doch das Geständnis ab, daß wir im Übermut, gelangweilt und aus Verdruß über die ekle Schalheit der Poesie, wie sie getrieben wird, uns in kecker Laune oft auf den Kopf stellten und vom Publikum verlangten, es solle es mit uns tun. Wir fanden Anhänger, und es ging eine Weile, wie alles Neue. Nun finden sie die Stellung unbequem. Ist das zu verwundern? Sollen wir aber alles darum als Visionen fahrenlassen, was wir in der Begeisterung, in dem seligen Rausche sahen. Hörten wir die Wälder, die Bäche nicht anders rauschen als der Prediger in Werneuchen, blieben uns nicht andere Anschauungen in Natur und Kunst zurück, nicht die Schauer der Ahnung, das Wesen der Wunder, welche die Welt erfüllen. Wir kommen nicht fort ohne den Glauben daran, auch wenn wir uns mathematisch beweisen, daß es keine Hexenmeister gibt und keine Gespenster um die Grüfte schweben. Haben wir nicht Geister zitiert, von denen unsere Väter nichts wußten! Wie anders, lebensfrisch schaun uns schon jetzt die Alten an, als die Philologen mit den Perücken sie sahen! Lebt nicht der britische Riese unter uns, ein geharnischter Geist, der unsere Theatermisere zertritt! Zitierten wir nicht Dante, nicht Calderon aus seinem vergessenen Grabe? Diese können sie nie wieder totmachen, sie werden leben und noch vieles mit ihnen, und wir mit Stolz sagen, wir wurden ihre zweiten Väter!«

»Das ist alles recht schön«, entgegnete Louis. »Wenn die Geister nur Mark und Bein bekämen, wenn sie unseren Geheimräten und Ministern einen Rippenstoß geben könnten und einen Feuerhauch durch die Seelen unserer Philister jagen. Da's aber nicht ist, bin ich doch der Meinung deines Gärtners, daß unser Boden nur zu Kartoffeln taugt. Sind sie nicht ein herrliches vaterländisches Gewächs und Vetter Michel ein dito Mensch? Er grämt sich nicht, er schämt sich nicht, erträgt Fußtritte und Prügel wie der Esel, wenn er nur Kartoffeln hat, und item:

Sag mir nichts von gutem Boden,
Nichts von Magdeburger Land,
Selig ruhen unsre Toten
In dem leichten kühlen Sand.«

»Vaterländisch!« fuhr Walter auf. »Und hat die Schule nicht grade auch unsre eigensten, zertretenen, vergessenen Schätze deutscher Vorzeit aus dem Staub und Rost ans Licht gezogen! Was kannten wir davon? Einzelne Äolsharfentöne der Minnesänger. Ging nicht eine deutsche Urwelt uns auf im Nibelungenliede! Du lächelst, weil die Toren lachen. Wir erfuhren, unser Volk hat gelebt, wie die Griechen durch die Iliade wußten, daß sie gelebt, daß ihre Väter groß und herrlich waren, ehe es eine Geschichte gab. Das wissen wir nun auch, daß Kriemhilden und Siegfriede, daß Gunter und Hagen unserer Geschichte vorangingen! Oh, welchen Born der Sage die Romantik uns erschloß! Jetzt verstehen wir erst, nicht aus den nüchternen Chronisten, ein welch Volk wir waren unter den Hohenstaufen. Im alten Kyffhäuser schläft nur der Kaiser seiner Herrlichkeit, und die Raben krächzen um seine Trümmer, und die Geister warten auf seine Erweckung. Das, Louis, hat uns die Romantik enthüllt, der du einen Fußtritt geben willst, weil sie nur Trugbilder zeigte, und du willst Realitäten. Was hatten die Juden mehr von Palästina als ein Traumbild. Das Traumbild weckte einen Moses. Laß einen Moses erweckt sein, und wir haben wieder ein deutsches Volk, eine deutsche Herrlichkeit. – Vielleicht, daß wir's darin versahen«, schloß der Aufgeregte, »Wir machten aus der ungeheuren Sage nur für uns ein Spielzeug; aber andere mögen nach uns kommen, die unserm Volke diese gewaltigen Bilder anders hinhalten, einen kolossalen Spiegel, vor dem unsere Erbärmlichkeit erschrickt – und sie können sich ermannen, sie können besser werden, wenn –«

»Wenn ein Moses geboren wird!« fiel Louis ein, drückte rasch Waltern die Hand und riß sein Pferd in den Fußsteig. »Da liegt es!« tönte noch seine Stimme aus dem Korn. »Einen Moses! Nur einen Moses! Die Juden und die Ziegelstreicherknechte sind immer da.«

Walter lag wieder unter der Hagebutte.

»Wenn er einen andern Vater hätte, ein ander Vaterland!« Waren das nicht Streiflichter des ewigen Schmerzes, für den es keine Heilung gibt? Walter starrte auf den Wasserspiegel. Auch die Frösche lagen wie matt von der Hitze auf den breiten Blättern der Wasserlilie, regungslos. »Ein Moses!« Wo sollte der Moses herkommen, wenn auch über den Wassern nicht mehr der Atem Gottes schwebte! Wenn die Verstockung auch auf dem Element, das die Erde umgürtet, sich niedersenkt! Nein, es war nur die schwüle Luft. Die Augen fielen ihm zu, und die Natur übte ihren beschwichtigenden Zauber über die finsteren Gedanken. Die Falten verzogen sich um seine Brauen, der Mund fing wieder an zu lächeln, und man konnte denken, daß Traumbilder aus einer glückseligen Welt um seine Schläfen spielten.

Waren das auch Erscheinungen seiner Phantasie, die blühenden Mädchenköpfe im Korn? Schossen Elfen auf zwischen den Ähren? Der Hagebuttenstrauch im Korn, der grüne Rain, der die Felder trennt, ist ja ihr Spielplatz. Hier führen sie Reigentänze, hier stampfen ihre zierlichen Füßchen die Ringelkreise, die der Landmann am Morgen findet, und der Abendtau fiel noch auf frisches Gras. Aber schnell, wenn ein Späherauge sie entdeckt, verschrumpfen sie, hängen sich an den Ginsterstrauch, sie klettern in die Hagebutte. Der Wind scheint in den Blättern und Zweigen zu spielen, aber es sind ihre leichten Körper, die sich daran schaukeln.

Diese verschwanden nicht.

Die eine, eine schmächtige Brünette von dunkeln, aber etwas umflorten Augen, mit einem getrübten Blick. Die roten Mohnblumen, die ihre losen Blätter im schwarzen Haar flattern ließen, paßten zu der Gestalt, dem melancholischen Gesicht. Eine Elfe, die den einen unwiderstehlich anziehen mochte, den andern zurückstoßen. Die andere, kleinere, rundliche, ein nußbraunes Mädchen, mit Schelmengrübchen um die Wangen und lachenden Schelmenaugen; wie wohl stand ihr der Kranz von Kornblumen, Ähren und Mohn im Haar.

Aber die dritte, die Elfenkönigin. Wie frei schaute ihr blaues Auge, blau wie die Kornblumen, blau wie der Himmel, aus der freien Stirn. Wie leicht bewegte sie sich, wie anders atmete sie die Luft ein; nicht als gehöre die Welt ihr, aber als nehme sie freudig ihren Tribut hin von Licht und Luft, von Farbe und Atem. Und wie hatten die andern, das konnte sie nicht selbst getan haben, die Felder geplündert, um die eine auszustatten! Ein dichter Kornblumenkranz war auf ihr blondes Lockenhaar gedrückt, und eine Mohnblume, aber keine rote, die hätte nicht hierhergepaßt, eine seltene, volle, weiße, glänzte als Diamant über ihrer Stirn. Eine andere Girlande von Kornblumen hing wie eine Schärpe um ihren Nacken, und auch den Abwurf des Kleides hatten sie mit allen bunten Blumen, die als scheckiges Unkraut zwischen den Ähren blühen, besetzt. Eine Hochzeit mit der Natur?

So traten die Elfen aus dem Korn auf den kleinen freien grünen Platz drüben am Rande. »Ach, wie hübsch!« rief die Königin. »Da ist Wasser!« und breitete die Arme aus, indem sie sich Luft nach der Brust fächelte. Das nußbraune Mädchen umfaßte sie plötzlich und ergriff die Hand der Brünette: »Faß sie an, hier wollen wir tanzen – Ringel-Ringel-Rosenkranz.«

Die Elfen schwebten im Ringeltanz, bis es ihnen zu heiß ward. Sie lagerten sich auf den Abhang, die Königin in der Mitte. Sie scherzten und plauderten wie neckische Kinder.

»Ich muß mich eigentlich schämen«, sagte die Königin, »wie habt ihr mich ausgeputzt, und ich bin's doch nicht wert.«

»Schäme dich nicht!« sagte die schmächtige Elfe mit dem schwarzen Haare, die ganz auf dem Boden ausgegossen lag, und drückte die Hand der Königin an ihre Lippen.

»Herrgott«, rief die Königin, »du küssest mir die Hand, und ich glaube gar, du weinst.« Sie zog erschrocken die Hand zurück.

Die Nußbraune lachte auf: »Die Jülli ist immer närrisch, und ich bin immer lustig. So sind wir, wir bleiben aber doch gute Freunde. Nicht wahr?«

»So wollen wir's alle drei sein«, sagte die Königin. »Ich komme mir nur so dumm unter euch vor, ihr seid in Leipzig gewesen. Das will mir gar nicht aus dem Kopf. Und euer Onkel ist ein vornehmer Offizier und gar in Indien. So was hätte ich in meinem Leben nicht geträumt.«

Die Schwarzbraune schüttelte den Kopf. »Der ist nicht mein Onkel.«

»Na, meiner auch nicht«, lachte die Nußbraune.

Die Elfenkönigin bat die Gespielinnen nun, ihr Wort zu halten und ihr recht viel, soviel sie könnten, von Leipzig zu erzählen. Die Nußbraune hatte auch Lust dazu, nur brachte sie die Herrlichkeiten, die sie gesehen, etwas konfus heraus, und man wußte oft nicht, ob sie von den Menschen oder von den Waren sprach. Aber alles war herrlich dort gewesen, die Affen und die Seiltänzer, die Komödianten und die Buden auf den Straßen. Über die Griechen und die polnischen Juden und die Türken hätte sie sich bucklicht lachen mögen, und vor ihren langen Bärten hätte sie sich zuerst grausam gefürchtet, aber dann hätte sie gesehen, daß es alle reiche und generöse Herren wären, mancher hätte mit den Dukaten um sich geworfen wie mit Zahlpfennigen, und alle hätten gesagt, solche gute Messe hätten sie lange nicht erlebt, und sie wünschten alle ihre Lebtage auf der Leipziger Messe zu sein.

Die Schwarzbraune senkte ihren Kopf: »Mir ist's hier viel lieber. Hier ist's hübsch.«

»Wenn man nur Gesellschaft hätte!« rief die Nußbraune.

Ein stummer Blick der andern schien sie zu strafen. Auch die Königin sah sie verwundert an und sagte: »Sind wir uns nicht genug! Wir plaudern ja so allerliebst zusammen, und wenn's nur nicht so heiß wäre.«

»Wir könnten uns baden!« rief plötzlich die Muntere. »Ja, baden, baden! Kinder, das ist prächtig!«

Der Gedanke zuckte wie ein Blitz. Der Ort war so still und einsam, ein tiefer Kessel, geschützt durch einen Rand von über Mannshöhe, und darüber stand noch wie eine Ringmauer das Ährenfeld. Wo sollte da ein Lauscherblick herkommen! Selbst die Vögel flogen nicht mehr. Im Strauche regten sich die Blätter, die Kornähren wiegten sich nur durch ihre Schwere.

Die Karoline war plötzlich aufgeschnellt und machte eine Bewegung, als wolle sie mit einem Ruck ihre Kleider abwerfen. Jülli, die Schwarzbraune, sah fragend auf die Elfenkönigin, ob sie Lust habe. – Lust hatte sie wohl, aber – aber sie machte die Bemerkung, man wisse ja nicht, ob das Wasser nicht zu tief sei. Darauf wandte Karoline ein, sie wollten am Rande bleiben und es zuerst versuchen. Adelheid errötete jetzt, sie fühlte, daß sie nicht ganz die Wahrheit gesagt, sie wußte nicht und zweifelte sogar, ob ihre Eltern es erlauben würden. Jülli sagte: »So lassen wir es lieber, wer weiß, ob es chère tante auch recht ist!«

»Wer wird denn ma chère tante fragen, wenn sie nicht bei ist!« lachte Karoline, aber der Blick, den ihr Jülli zuwarf, schien sie doch unschlüssig zu machen.

Man unterhandelte und kam überein, daß man sich nur die Strümpfe ausziehen wolle und ein wenig die Füße baden, das gebe Erfrischung für den ganzen Leib und sei auch gar nicht gefährlich. Die Füße sich waschen, ohne die Eltern zu fragen, sei doch wohl erlaubt, dachte Adelheid. Nur ihren kleinen Bruder hatte die Mutter einmal geohrfeigt, als er sich beim Regen die Strümpfe ausgezogen und durch den ausgetretenen Rinnstein gewatet war. Die Züchtigung hatte er indes ausdrücklich nur erhalten, weil das die Straßenjungen täten, weil es sich in einer Stadt nicht schicke und weil der Rinnstein ein schmutziges Wasser sei.

Diese drei Gründe griffen ja hier nicht Platz. Die Strümpfe und Schuhe flogen auf den Rasen, und sechs zierliche Füße plätscherten im Wasser. Die Mädchen faßten sich an, um die Kühlung gemeinschaftlich zu genießen. Karoline zog die andern unmerklich etwas weiter: »Hier können wir bis am Knie stehen, ach, das tut wohl!« – »Herrgott, Karoline, was willst du?« rief Jülli, die sah, daß Karoline Miene machte, ihre Kleider abzustreifen und aufs Ufer zu werfen. – »Ich bin ja vom Kietz in Spandau, ich ertrinke nicht.«

In dem Augenblick fuhr ein Ton durch die Luft. War's das Gekreisch eines Reihers, war's ein Pfeifen, der Warnruf einer menschlichen Stimme? Erschrocken sahen die Mädchen sich um. Das war ein Moment. Im nächsten waren sie es, die laut aufschrien und, mit einem Sprunge am Ufer, nach Schuh und Strümpfen griffen. Ein dritter Moment: ein helles Gelächter vieler Männerstimmen, Säbel klirrten in der Scheide, Pferde wieherten. Mehrere Kavallerieoffiziere preschten durch den Feldweg, und einer rief: »Hussa! Richtig gesehen! Badende Mädchen; da wollen wir helfen!« Zwei machten Miene, vom Roß zu springen, während der vorderste sich zwischen Rand und Kornfeld einen Weg zu bahnen suchte, ohne dabei auf die Ähren zuviel achtzuhaben. Aber das Pferd scheute vor einer Unebenheit, und die Elfen gewannen den Vorsprung. Sie kletterten, sprangen, schwebten in atemloser Hast um den Rand des Sees, nach einem Ausweg suchend. Der, auf dem sie gekommen, war ihnen schon durch den Reiter versperrt. Sie fanden ihn in der Nähe des Hagebuttenstrauches. Den Lauscher hinter dem Busche hatten sie nicht entdeckt, aber die Unordnung in den schwankenden Ähren verriet noch lange die Richtung, in der sie verschwunden waren. »Echappiert!« rief der vorderste Reiter, die Terrainschwierigkeiten als guter Kavallerist erwägend, und ließ den Daumen und Mittelfinger in die Luft knallen.

»Wollen wir schwenken, nachpreschen, Dohleneck?« fragte der zweite.

»Müßten ein ganzes Kornfeld niederreiten«, sagte der Rittmeister, »und das käme wieder zu des Königs Ohren. Ihr wißt, wie er die Bauern protegiert!«

»Jammerschade!« Der zweite schlug vor, abzusitzen, die Pferde anzubinden und ihnen zu Fuß nachzueilen.

»Die sind fix wie der Wind.«

»Aber barfuß. Die Füßchen würden ihnen doch zu weh tun, so über Stock und Block. Und werden sie mit blanken Beinen ins Dorf laufen zu Papa und Mama? Irgendwo im Korn verpusten sie sich und ziehen die Strümpfe an, da attrappieren wir sie und probieren, ob sie die Strumpfbänder nicht zu fest binden. ›Das ist schädlich‹, sagt Hufeland.«

Der Rittmeister strich den Bart und sagte: »Meine Maxime sei, nie was suchen, aber die Überraschung hinnehmen. Das ist soldatisch. Und wenn wir sie bei Nahe besehen, wer weiß, ob wir uns nicht schämen, ihnen nachgelaufen zu sein.«

Hexen wären es nicht, meinte der zweite, und der dritte: er müsse die eine schon gesehen haben; auch die andre kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht, wo sie hinbringen. Man beschloß endlich, beim Rückwege durchs Dorf zu reiten, »wo man sie doch wohl wieder zu Gesicht kriegen wird.« – Sie sprengten fort.

Es war still wie vorher. War's ein Traum! dachte Walter, der sich hinter dem Strauche aufrichtete und über die Stirn fuhr. Die eingeknickten Ähren sprachen dagegen. Unfern von der Stelle, wo er gelegen, lagen Kornblumen, die sich von einem Strauß aufgelöst. »Das hatte sie an der Brust.« Er raffte die Blumen rasch auf. An einer halb geknickten Ähre flatterte ein blauseidenes Strumpfband. »Das hat sie verloren.« Er ergriff es und schlang es um die Kornblumen zum Bukett.

»Und die Toren wollen sagen, es gebe keine Romantik!«

Er blieb zaudernd stehen. Sollte er auch ins Dorf? »Die Erscheinung war so schön, warum denn die Wirklichkeit aufsuchen, welche in einem Augenblick vielleicht den ganzen Zauber löst.« Dazu erinnerte er sich, daß er dem Geheimrat Lupinus versprochen, ihm bei der Kollationierung zweier Manuskripte heut abend zu helfen. Und Lupinus hatte gesagt, daß er ihm einige Privatstunden verschaffen zu können hoffe.

Walter schlug vergnügt den Rückweg ein. Er war es, der bei Annäherung der Reiter das Warnungszeichen aus dem Busch gegeben, welches die jungen Mädchen vor einer Szene bewahrt, in welcher er unmöglich den stillen Lauscher spielen durfte. Aber welche Rolle hätte er spielen sollen!

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