Elftes Kapitel.
Ein Satz in die Löwenhöhle.

Der Gefreite schulterte:

»Herr Lieutenant, ich rapportiere.«

»Was?«

»Es schleicht ein Verdächtiger um die Wache.«

»Was hat er getan?«

»Er hat ins Fenster gekuckt, und dann ist er fort.«

»Warum ist er verdächtig?«

»Acht Zoll, Haare ohne Puder, kleiner Kopf, verfluchte Augen und am Ellenbogen ein Loch, oder ist's ein Kalkfleck.«

»Und sonstens?«

»Der Vorpahl und Schlagebohm haben ihn schon gesehen. Zweimal ist er eingebracht worden auf dem Molkenmarkt. Einmal war er Bandit. – Da kommt er all wieder. Solln wir 'n reinschmeißen, Herr Lieutenant?«

Der Kornett war ans Fenster gesprungen: »Hölle und Teufel, das ist Bovillard!«

»Was!« rief der Wachthabende, »sollte der Kerl es wagen –«

»Eine Peitsche!« schrie der Kornett, als Louis Bovillard schon in der Stube stand und mit ihm beinahe zusammenprallte.

Der Eintretende war nicht der, welcher zurückwich.

»Eine Peitsche wünschen Sie, Kornett? Für Pferde oder für Hunde? Das muß man wohl unterscheiden. Pferdegerten bekommen Sie am besten bei Conradi an der Schleusenbrücke, aber wenn Sie Hundepeitschen wollen, gehn Sie ja nicht anders als zu Krilow, Spandauer Straße. Echtes Juchtenleder, elastisch, fein gearbeitet. Aber nehmen Sie sich in acht, nie zu stark geschlagen. Der bestdressierte Hund knurrt, wenn man ihn mit Juchtenleder zu stark traktiert. Also merken Sie, Kornett von Wolfskehl, bei Krilow, Spandauer Straße, Eckhaus nach dem Neuen Markt zu.«

Bovillard war beinahe um einen Kopf größer als der Kornett, und es schien sehr natürlich, als er ihn mit der Hand auf die Schulter klopfte. Aber es war nicht natürlich, daß der Kornett es sich gefallen ließ. War's die Magie des Auges, oder was bewirkte nach solcher Ausgelassenheit solche Einschüchterung?

»Was suchen Sie hier?« trat ihm der Wachthabende entgegen.

»Männer von Ehre.«

Was dem Kornett geschehen, geschah jetzt der ganzen ehrenwerten Versammlung. Sie schwiegen. Als wär's eine elektrische Berührung, die alle in einem Moment umgewandelt hatte! Ein dritter würde es ein Gefühl der Geschlagenheit genannt haben. Sie wußten nicht, was sie zu tun hatten. Bovillard war wie ein Geist aus der Mauer in ihre Mitte gedrungen; ein Zischeln oder selbst nur ein Verständigen durch Blicke war nicht mehr tunlich. Indessen nahm der Wachthabende das Wort:

»Sie kommen in welcher Absicht?«

»Ihren Schutz und Beistand anzusprechen.«

Die Sache war aufs neue vollständig verrückt.

»Werden Sie von der Populace verfolgt?«

»Die Populace kümmert mich nicht.«

»Oder wollen Sie sich freiwillig in Arrest überliefern, weil Sie –« Der Offizier hielt inne. –

»Nichts weniger als das.«

»So muß ich den Herrn auffordern, sich deutlicher zu explizieren!«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Der Wachthabende hatte, um seine Autorität aufrechtzuerhalten, sich auf den Schemel niedergelassen, was der Arrestat und der Rittmeister schon vor ihm getan. Auch der Kornett schien willens, dem Beispiel zu folgen, als Bovillard mit einer raschen Schwenkung den vierten und letzten Schemel vor dem Wachthabenden niedersetzte und sich selbst darauf:

»Ich komme um einer Ehrensache halb.«

Alle sahen unwillkürlich den Sprecher, dann sich untereinander an.

»In solchen Angelegenheiten pflegt ein Kavalier nicht selbst zu kommen, sondern durch einen Vermittler – wenn überhaupt davon die Rede sein kann«, setzte der Wachthabende trocken hinzu.

»Diesen Vermittler hoff ich hier zu finden.«

»Donnerwetter!« brummte der Arrestat. »Glaubt der Herr da, oder wer's ist, den ich nicht kenne, daß wir hier solches Gelichters sind! Vermitteln! Pestilenz! Wer mir das anböte –«

»Ist wohl ein Mißverständnis«, sagte der Rittmeister.

»Gewiß«, fuhr Bovillard ruhig fort, »wenn die Herren an Beilegen denken. Ich will nichts beigelegt wissen, da ich vielmehr einen Gang auf Leben und Tod vorhabe. Wo man a tempo auf zehn Schritt schießt, pflegt der Tod näher zu sein als das Leben. Diese Rücksicht bestimmt auch mich, über andere Rücksichten wegzusehen.«

»So weit schon? Was wollen Sie denn noch?«

»Nur einen Sekundanten. Auf morgen abend steht die Promenade an. Die Bekannten, auf die ich fest gerechnet, haben mich nachträglich im Stich gelassen, Freunde habe ich nicht, also muß ich an – Nichtfreunde mich wenden. Unter den Zivilisten war meine Bemühung vergebens, ich wende mich daher an das Militär.«

»Wie – ich meine, wie kommen Sie zu uns?«

»Weil Sie auf der Wache sind. – Meine Herren, ich betrachte Sie nicht als Individuen und Personen, sondern als Vertreter Ihres Standes und Ihren Stand als den, welcher die Ehre zu vertreten hat. In einer Universitätsstadt würde ich mich an die Senioren der Landsmannschaften gewandt haben, hier wende ich mich an Sie. – Auf der Wache stehen Sie wie im Felde. Käme ein feindlicher Offizier zu Ihnen, um eine Ehrenangelegenheit abzumachen, so würden Sie als Kavaliere und Offiziere doch keinen Augenblick anstehen, die nötigen Arrangements zu treffen.«

Die Offiziere sahen sich wieder halb befremdet, halb zustimmend an. Der Rittmeister strich vergnügt seinen Bart. Der Wachthabende sagte nach einer Pause:

»In solchen Dingen kommt doch alles auf die Verhältnisse und Personen an, mit denen man zu tun hat.«

»Gewiß«, entgegnete Bovillard, »und ich habe keinen Grund, vor den Herren den Namen meines Adversaire zu verschweigen, Ihr Wort vorausgesetzt, daß Sie Namen und Sache bis zum Austrag verschwiegen halten wollen.«

Der Wachthabende blickte sich nach seinen Kameraden um: »Ich kann in ihren Namen die Versicherung geben.«

»Was kaum not täte. Die Herren würden doch nicht eine Ehrensache rückgängig machen wollen!«

»Hol mich der Teufel, nein!« brach es von den Lippen des Rittmeisters, derselbe freudig verächtliche Ausdruck stand auf den Gesichtern der andern.

»Mein Adversaire ist der Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannte Legationsrat von Wandel.«

»Der!« Alle sahen wieder befriedigt, fast vergnügt ihn an.

»Die Sache ist kontrahiert, und er hat's angenommen?«

»Kontrahiert, angenommen, Ort und Waffen, Zeit bestimmt.«

Der Wert des Fremden war in der Wachtstube sichtlich gestiegen. Der Wachthabende hatte sich wieder vom Schemel erhoben.

»Der Bonapartes schwarze Nachteulen hergebracht hat? Die sieben Stück Ehrenlegionen!« schrie der Kornett.

»Derselbe.«

»Na, da ist nun wohl keine Frage mehr!« rief der Rittmeister, mit seiner breiten Hand auf sein Knie schlagend.

Nur der Arrestat war sitzen geblieben und zündete mit dem Fidibus die Pfeife: »Kenn ihn nicht von Person. Müßten doch aber erst nähere Recherchen halten. Wie ich gehört, treibt sich der Monsieur de Wandel viel um mit dem Geheimrat – Bovillard heißt er ja wohl? – Ist das nicht ein Verwandter von – ich meine von Ihnen da?«

»Ist egal«, rief der Rittmeister, der in einen immer angenehmeren Rosenharnisch zu geraten schien; vielleicht um die störenden Gedanken von vorhin abzuschütteln. »Wer's auch sei, mit dem schleichenden Fuchs, der die Weisheit verschluckt hat, loszugehen, ist ja ein Pläsier.«

»Meine Herren«, sagte der Wachhabende, sich umschauend, »das ist ein eigener Kasus.«

»Gegen den Kerl, der um den Bonapartegesandten schwänzelt, muß man jedem beistehn«, meinte der Kornett.

»Man muß ihn aber doch auch kennen«, sagte der Arrestat. »Es kommt auf die Verhältnisse und Personen an, mit denen man zu tun hat, äußerten Herr Bruder vorhin.«

»Der Grund Ihres Disputes ist?« fragte der Wachthabende.

»Gründe unter Kavalieren!« rief Bovillard, jetzt auch aufstehend. Die Hand an der Brust, verneigte er sich leicht. – »Verzeihung, meine Herren, wenn ich mich getäuscht hatte. Es war nicht meine Absicht, Sie zu inkommodieren.«

Es war aber jetzt durchaus nicht die Absicht der andern, sie wollten sich inkommodieren lassen.

»Es frägt sich eben nur, mit wem wir –«, der Redner stockte. Bovillard fiel ein: »Die Ehre haben, zu tun zu haben. Sehr begreiflich. Da ich nicht so glücklich bin, von Ihnen gekannt zu sein, wünschen Sie meinen Stammbaum einzusehn.«

Das Wort Stammbaum schien wieder eine Wirkung hervorzubringen. Dennoch blieb dem Wachthabenden die Frage im Munde stecken. Der Arrestat fragte über den Tisch:

»Sie heißen – Bovillard?«

»Wie meine Ahnen.«

»Da war auch mal hier ein Pastetenbäcker, pâtissier et confiseur Louis Bovillard.«

»Ich habe die Ehre, sein Urenkel zu sein. Man rühmt ihn als einen der trefflichsten Männer in unserem Hause, ein Charakter und seltner Esprit.«

»Es gab aber auch unter den Refugiés«, fiel der Wachthabende ein, »einen Sieur Pierre-Bertolet Fulcrand de Bovillard, der als maître de Cerisé in den Listen eingetragen steht.«

»War auch mein lieber Urgroßvater, ein exzellenter Mann.«

»Wie paßt das zusammen?«

»Sie waren ein und dieselbe Person.«

»Mein Herr, wir sprechen hier in einer seriösen Angelegenheit.«

»Die seriöseste von der Welt. Mein Ahnherr konnte die Güter von Cerisé nicht mitnehmen, als er vor Louis' Dragonern bei Nacht und Nebel über die Grenze schlüpfte, aber sein Talent, Pasteten zu backen, hat er mitgebracht. Er befand sich auch ganz wohl dabei. Ein jovialer Mann. Ich bin nicht stolz auf Verdienste meiner Vorfahren, die mir abgehen, aber ich darf mit Ruhm sagen, daß seine Konfitüren am Hofe des nochmaligen Königs Friedrich im besten Renommee standen. Sonst wäre er auch nicht auf kurfürstlicher Durchlaucht Befehl mit nach Königsberg beordert worden.«

»Er ward mit zur Krönung befohlen!«

»Und mit zur Tafel gezogen?« fragte der Arrestat.

»Allerdings. Die große Pastete an der Krönungstafel war sein Werk. Sie nimmt in der Geschichte keinen unrühmlichen Platz ein. Wir besitzen in der Familie eine Abbildung davon. Wenn es den Herren gefällig wäre, sie zu sehen, stehe ich immer zu Diensten.«

»Und in die Pastete hat Ihr Urgroßvater seinen Adel eingebacken?«

»Wie Sie's nehmen wollen, Herr Kapitän. Als sie aufgeschnitten ward, kam der bekannte Zwerg heraus. Mein Ahnherr ward gerufen, mit Lob überschüttet. Ihre Majestät, die geistreiche Königin Sophie Charlotte, setzte ihm eigenhändig einen kleinen Lorbeerkranz auf. Leibniz erwähnt seiner und der Pastete in einer Epistel; Gundling schrieb später eine Abhandlung darüber, auch Morgenstern.«

»Und für diese Verdienste –«

»Ward er persönlich von der Perückensteuer befreit.«

»Man muß gestehen, Ihre Familie hat eine historische Entree in unserm Staat gemacht.«

»Wie viele andre. Bekanntlich fällt in jene Zeit die Blüte des Königsberger Marzipans. Gewöhnlich schreibt man die Erfindung einem Schweizer Kuchenbäcker zu. Mit welchem Rechte, und ob ich Traditionen in unsrer Familie Glauben schenken darf, das bleibt für immer in den Nebeln des Altertums verhüllt.«

»Aber da Ihre Väter in den Staatsdienst getreten sind, erkannten mutmaßlich die preußischen Könige durch Briefe Ihren französischen Adel an?«

»Die Bovillards haben nie etwas auf den Briefadel gegeben. Kann man etwas geben, was nicht ist, und etwas vernichten, was ist? So hat einer meiner Vorfahren gesagt, dem man einige Schwierigkeiten machte, als er aus den Kreuzzügen zurückkehrte. Louis der Heilige sagte lächelnd zu ihm, als er's erfuhr: ›Das kommt mir vor, als wenn Martell deinen Ahnherrn in der Mohrenschlacht nach seinem Recht gefragt hätte, den Mohren den Schädel einzuschlagen.‹ – ›Mein Ahnherr‹, sagte jener zu König Louis, ›hätte Karl Martell antworten können: Die Römer fragten bei Zülpich nicht danach, als mein Urahn hinter Chlodwig in ihr Speerkarree einhieb.‹«

Bis zu den Kreuzzügen konnten ihm weder die Stiere von Dohleneck und die Kniewitze noch die Horstenbock und Wolfskehlen, genannt zu Ritzengnitz, folgen. Aus Besorgnis, daß er sie nicht noch bis zur Schöpfung der Welt inkommodiere, erklärte man schnell das Verhör für beendet, und der Rittmeister schätzte es sich zum Vergnügen, den Herrn von Bovillard in seiner Ehrensache mit dem fremden Legationsrat zu begleiten.

Bovillard bat den Wachthabenden, ihn mit dem Herrn, den er noch nicht zu kennen die Ehre habe, bekannt zu machen. Er bat es mit Ruhe und feinem Anstande. Mit demselben Anstande erfolgte die Präsentation.

»Von einem Offizier Ihres Rufes konnte ich diese ritterliche Gesinnung erwarten.«

»Hol mich der und jener«, sagte der Rittmeister, »ich freue mich, daß ich Sie anders kennenlerne, als ich – dachte.«

»›Sei keusch wie Eis und rein wie Schnee, du wirst der Verleumdung nicht entgehen‹, sagte ein Poet zu Ophelia, und es ist auch so geschehen.«

»Die sprang ja wohl ins Wasser«, sprach der Rittmeister, den Pallasch umschnallend. »Herr von Bovillard, wir gehn ins Feuer; da wird es anders.«

»Hat sich magnifique benommen, ganz als ein Kavalier«, sagte der Wachthabende, als beide die Stube verlassen. »Man muß es ihm lassen.«

Der Arrestat paffte Gedanken in die Luft, die er nicht nötig fand, in Worten zu äußern. Sie mochten nicht ganz mit denen des Wachthabenden harmonieren.

»Donnerwetter!« rief der Kornett am Fenster. »Sie gehen Arm in Arm.«

»Was soll nur daraus werden?«

»Die Hetzpeitsche kann er nicht mehr bekommen.«

»Das kommt davon, wenn man einen leichtsinnigen Onkel hat!«

Der neue Kavalier mochte die Gedanken der Herren in der Wachtstube mitempfinden, denn auf der Straße hatte er den Rittmeister gefragt, ob er sich nicht fürchte, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden. Der Rittmeister konnte das Wort fürchten nicht leiden, er hatte sich mit einem um so festeren Druck an Bovillards Arm gehängt. »Wer sich schlagen will und zum Sterben bereit ist –«

»Über den ist die Fahne geschwenkt«, fiel Bovillard ins Wort, »und er ist ehrlich, wie des Scharfrichters Schwert den armen Sünder ehrlich macht.«

In der Kaserne, wo Dohleneck wohnte, hatten beide eine lange Unterhaltung. Unmöglich konnte das Gespräch allein die Arrangements des morgenden Ganges betreffen. Sie schieden mit einem Händedruck, wie Freunde, die sich herzlich über vieles ausgesprochen haben.

»Wissen Sie, was ich möchte? – Philosophie studieren!« sagte der Rittmeister, als die Hände noch ineinander lagen.

»Warum?«

»Damit ich auf die vielen verfluchten Warum, die einem aufstoßen, immer ein Darum wüßte. Warum haben wir uns nun heute erst kennengelernt? Warum haben wir uns so viele Jahre gefoppt und geärgert? – Sympathien nennen sie's. Wir stecken beide in Schulden, sind beide ehrliche Kerls, lieben beide mal 'nen tollen Spaß, werden beide geplackt und gestoßen von Schuften, die wir gründlich hassen, warum, sagen Sie, warum stecken die Sympathien nicht an der Stirn wie die Ringkragen am Hals. – Und dann« – er atmete tief auf –, »warum placken wir uns selbst? Warum ist nun das? Exerzieren, Parade, Liebschaften, Komödie, ein Spielchen, auf die Wache kommen und wieder rauskommen? Wie ein Schnürchen, wenn's zu Ende, fängt's wieder von vorn an. Warum leg ich mich abends zu Bette, um morgens aufzustehen? Und warum stehe ich morgens auf, da ich weiß, daß ich abends wieder zu Bette gehen muß?«

Louis Bovillards Hand faßte die des anderen etwas höher nach dem Gelenk, und er sah ihn scharf an: »Dieser Drang nach Philosophie deutet auf eine Krankheit.«

»Na, krank bin ich nicht.«

»Das Kriterium der gefährlichsten Krankheit ist der Glaube, gesund zu sein. Sie sehnen sich auf Augenblicke hinaus aus diesem Leben?«

»Weiß der Henker – zuweilen wünsche ich, es wäre aus.«

»Und Sie haben immer Appetit?«

»Vollkommen.«

»Alle Funktionen in Ordnung?«

»Regulär.«

»Dann ist's – Sie sind verliebt.«

»Nein – nein – 's ist eine in mich verliebt! Das ist's!«

»Das Warum?«

»Ein andermal.«

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