Fünftes Kapitel.
Nur keine Lüge mehr!

Es war ein glänzender Gesellschaftsabend im Palais der Fürstin. Aber der Abendstern, der heute glänzen sollte, erschien wie erlöschendes Licht, wie eine schöne Statue in Mondscheinbeleuchtung.

Es war etwas vorangegangen. »Ein zu heißer Tag!« sagten die Herren.

Die Fürstin lächelte sanft.

Man wußte in den flüsternden Gruppen, weshalb die Fürstin die schöne Adelheid in ihrem Hause aufgenommen. Sie sollte es dekorieren, wie die schönen Bilder, Statuen und Raritäten an den Wänden es dekorierten. Gerade wie die Lupinus vorhin ein solches Möbel für ihr Haus gebraucht. Dies hatten die scharfen Zungen schon längst ausgesprochen. Auch mag ein Möbel, eine Ornamentur, die in einem Hause längst ein abgenutzter, alltäglicher Gegenstand geworden, in einem andern durch geschickte Verwendung wieder zu einem der Bewunderung werden.

Aber die Fürstin arrangierte nichts, sie ließ alles gehen, wie es wollte. Das junge Mädchen war nicht wie eine Untergebene, nicht wie eine Tochter, man möchte sagen, auch nicht wie eine Freundin, sondern wie eine Herrin aufgenommen, der ein Recht auf dieses Haus und alles darin zustand. Sie hatte ihre besonderen Zimmer, Diener, sie konnte Besuche empfangen, ausfahren, wie sie Lust hatte. Sie erschien oder blieb aus, wenn Gesellschaft sich versammelte; die Fürstin betrachtete es als eine Freundlichkeit, wenn sie teilnahm, und dankte ihr, jedoch mit der Bitte, es nie als ein Opfer zu betrachten, vielmehr ganz ihrem Penchant zu leben.

Die Königin Luise hatte wieder gelegentlich den Wunsch geäußert, die schöne Adelheid zu sehen. Der Wunsch einer Königin ist sonst Befehl. Aber als Adelheid die Augen niedergeschlagen und geantwortet hatte: »Was soll ich vor der hohen Frau?«, war die Fürstin ihr mit der liebenswürdigsten Art um den Hals gefallen: »Sie haben recht, was sollen Sie da! Warum sich einen Zwang antun. Solche hohe Personen werfen in der einen Stunde einen Wunsch hin, um ihn in der nächsten zu vergessen.«

Gegen vertraute Freunde äußerte sie: »Wo die Sonnenblume wuchert, verkäme das Veilchen. Der Gärtner behandelt jede Pflanze nach ihrer Natur. Zwingt man ihr Licht, Erde, Wärme auf, die ihr fremd sind, vergeht sie oder schießt zu einer unnatürlichen Bastardart auf. Und eine Pflanze, die im Zimmer krank war, heilt man nur, wenn man sie dem natürlichen Boden zurückgibt. Es ist an dem jungen Mädchen zuviel erzogen worden; das rasche, künstliche Einimpfen von Wissenschaft und Grundsätzen hat ihren natürlichen Entwicklungsgang gestört. Diesen muß man wiederherstellen, indem man sie ganz sich selbst überläßt –«

»Und ihren Phantasien«, hatte einer der Freunde geantwortet.

Es mußte im Ton ein Vorwurf liegen. Wenigstens faßte die Gargazin es so auf, indem sie nach einem Augenblick Nachdenkens entgegnete: »Und warum nicht! Sehnen wir uns nicht alle zuweilen in die Märchenwelt zurück, wo die Blumen sprechen und die Wälder singen. Ist denn die Unterhaltung am Teetisch so fesselnd, daß wir darum nicht begierig wären, die Stimmen der Vögel zu verstehen! Wir können nicht mehr aus dem Gewühl der Gesellschaft dahin zurück, warum es denen nicht erleichtern, die noch halb im Flügelkleide gehen! Die Phantasie, sich selbst überlassen, schießt giftige Blüten, will man behaupten. Wie macht denn die Biene den Honig? Keiner lehrt sie, welche Blumen und Kräuter schädlich, welche den süßen Saft enthalten. Sie nippt den Tau, sie nippt den Duft, sie saugt am Busen der Natur – der Mensch soll nicht Instinkt haben, wollen sie behaupten, weil der Schöpfer ihm einen besseren Mentor mitgab. Die arme Vernunft und die noch ärmlichere Erziehungskunst! Was präpariert ihm diese für Kreuz- und Querwege, welche philisterhafte Musterkarte von eingepferchten Begriffen und Vorstellungen, durch alle die das arme Kind systematisch hindurch soll auf den Weg zur Vervollkommnung. Oh, geht mir damit, laßt es springen wie das Reh im Walde. Verirrt es sich, wird es sich wieder hinausfinden. Nascht es von einer giftigen Frucht, legt es sich unter einen Blütenstrauch schlafen, der tötenden Dunst aushaucht, so hat die Natur, die Bergluft, der klare Quell tausend Mittel, das Gift zu paralysieren. Sehn Sie das Bild«, hatte sie, auf eine Schilderei zeigend, gesprochen. »Das Kind ist am Abgrund eingeschlafen, aber sein Genius wacht neben ihm.«

»Könnte es aber nicht einmal sein, Erlaucht, daß der Genius müde würde von dem ewigen Händeaufhalten?« hatte Lombard erwidert. »Was macht denn dann das arme Kind, wenn er einschläft?«

»Es würde unzweifelhaft in den Abgrund stürzen, mein Herr Geheimrat, wo es indes nicht so düster und schreckhaft sein muß, als der Maler angedeutet, denn ich weiß von sehr geistvollen und liebenswürdigen Personen, die in dem finstern Grunde wie zu Hause sind. Das arme Kind –«

»Würde sich auch gefallen, wenn es einmal gefallen ist, meine gnädigste Frau?«

»Wenn sein Engel erwacht ist, wird er die Arme emporstrecken, und aus den dunkeln Wolken da wird ein Vaterauge blicken, von so glänzender Huld, daß selbst mein Herr von Lombard davon geblendet wäre, und eine lichte Wolke würde sich herabsenken in den Grund, das Kind umschließen und es sanft in die Lüfte heben.«

»Charmant, Erlaucht, ganz sanft«, hatte Lombard gerufen, »sanft und langsam, damit es doch noch ein bißchen da unten sich umsehn kann und eine rekreiernde Erinnerung in die Wolken mitnimmt. Bon Dieu, wie grau hat der Maler sie angelegt! Das sind Wolken, die Regen träufen.«

»Tränen aus schönen Augen«, hatte die Fürstin erwidert.

Es war etwas vorangegangen vor dem Abend, von dem wir sprechen wollten. Die Fürstin war von ihrem Prinzip gewichen, sie hatte Adelheid genötigt, mit der Baronin Eitelbach eine Spazierfahrt zu machen. Sie wollte die schöne Seele los sein. Adelheid hatte sie als Blitzableiter gebraucht, ohne zu bedenken, ob die elektrischen Zuckungen des Entsagungsfiebers nicht in den Blitzableiter selbst übergehen und ihn verderben könnten. Die Welt wäre vollkommen, wenn es keinen Egoismus gäbe, sagen weise Leute. Andre meinen, es wäre darin nicht auszuhalten, wenn nicht bisweilen der Impuls der Selbstsucht zerstörend durch die Linien und Netze fahre, mit denen uns die berechnende Weisheit zu Zahlen in einem großen Exempel machen will.

Es war ein schwüler Sommertag, aber es ruhte sich so weich in den Polstern des offenen, von englischen Federn geschaukelten Wagens, und der russische Kutscher lenkte seine Pferde pfeilschnell durch die schattenreichsten Gänge des Tiergartens. Eine Fahrt, recht geeignet, um seinen Träumen nachzuhängen; die Gedanken konnten spielen wie die Schatten der Blätter auf den hellen Kleidern der schönen Damen, die, sie wußten selbst nicht recht, warum, hier kopuliert waren.

Die Baronin war eine herzensgute Seele; dessen war sie sich jetzt selbst bewußt, seit die Liebe ihr ein Bewußtsein gegeben. Sie hatte nie hinter dem Berge gehalten, als sie noch nichts mitzuteilen hatte, nämlich aus ihrem innern Leben; seit hier ein Gedanke wogte und andere erzeugte, die sie für ihr unbestreitbares Eigentum hielt, erschien es ihr sogar als Pflicht, von diesen Gefühlen und Gedanken auszuschütten. Je schwerer uns eine Errungenschaft ward, um so höher taxieren wir sie, um so mehr halten wir uns berechtigt, daß andere Belehrung von uns empfangen müssen. Es ist nun einmal aller Autodidakten Art.

Adelheid war eine Kranke. Das war eine angenommene Sache, nur war man darüber uneinig, ob ihre Krankheit eine physische oder psychische sei. Die Roheren oder die Gleichgültigen sagten: sie sei so schlecht von der Geheimrätin behandelt worden, oder sie habe sich doch so wenig mit ihr vertragen können, daß sie fortlaufen mußte, und man habe es dann nachher so abgekartet, als hätte die Fürstin sie nur wegen des Nervenanfalls ins Haus genommen. Von dieser erschrecklichen Behandlung oder dem inneren Zwiespalt sei das arme Mädchen krank, und schweige nur darüber aus Großmut und Schonung gegen ihre frühere Wohltäterin. Vermittelnde sprachen für jene schon erwähnte Tradition, daß die Geheimrätin ihr Verhältnis zu Walter van Asten begünstigt, daß sie ungehalten geworden, weil Adelheid kalt gegen ihn geworden; das habe beide auseinandergerissen. Aber krank konnte sie doch darum nicht sein; nicht aus Verdruß, daß sie die Liebe einer Frau eingebüßt, welche sie nie geliebt, noch Wohltaten, welche ihr stets erdrückend gewesen. Genoß sie doch jetzt die volle Liebe und Wohltaten der liebenswürdigen Fürstin in ganz anderm Maße.

Also mußte eine andere Liebe ihrem kranken, unbeschreiblichen Wesen zum Grunde liegen. Und hier war das Feld der Vermutungen für die Feineren. Sie hatte dem ihre Neigung zugewandt, der sie als Lehrer rasch und glücklich in ein höheres geistiges Leben geführt. Es war eine reine uneingeschränkte Neigung geblieben, welche sie, von Bewunderung und Dankbarkeit erwärmt oder getäuscht, für Liebe gehalten, bis – ein anderer erschien, für den ihr Herz anders schlug. Sie war krank geworden, wirklich körperlich leidend, unter Gefühlen, die sie vergebens zu unterdrücken versucht. Da war – es mußte eine Krisis eingetreten sein, die mit einer äußern Begebenheit in Verbindung stand. Sie war infolge derselben in ein andres gastliches Haus übergebürgert. Soweit war den Eingeweihten alles klar. Sie kannten auch den Namen des Zauberers, ihn selbst. Hier aber schoß ein neues Rätsel auf, eine neue Sphinx lagerte sich vor dem Portikus, der in die Salons der Fürstin führte.

Louis Bovillard hatte Zutritt. Die Fürstin, die um alles wissen mußte, nahm ihn, wenn nicht mit Auszeichnung, doch mit zuvorkommender Teilnahme und Güte auf. Er, bis da ein wüstes Genie, das man verloren gab, vermieden, wenn nicht gar ausgestoßen aus der Gesellschaft, ward von ihr nicht nur zu den kleinen Zirkeln und Partien gezogen, sie schien die Fahne über ihn schwenken zu wollen, wenn sie die höchsten und ehrenwertesten Personen in ihr Haus geladen hatte. Und er ging aufrecht und stolz umher, unbekümmert um die, welche ihn scheuten oder haßten; denen mit ironischem Mitleid sich nähernd, welche vor seiner Berührung erschraken. Bis auf eine feinere Toilette, eine gentilere Haltung schien er hier derselbe Louis Bovillard, auf den man einst auf der Straße mit Fingern zeigte; dieselbe Nonchalance, derselbe kaustische Witz, mit bitteren Sottisen, mit einem beißenden und vernichtenden Urteil, derselbe Übermut und dieselbe Rücksichtslosigkeit gegen die, um welche die Gesellschaft sich ehrerbietig gruppierte.

Nur wenn eine erschien, war er ein anderer. Sein Übermut war gebrochen, sein Witz stockte, seine glühenden Augen hafteten auf ihr. Er konnte dem flüchtigen Beobachter, wenn er sie dann wieder zu Boden sinken ließ, wie ein verlegener junger Mensch bedünken, der zum erstenmal in eine Gesellschaft tritt. Und doch war Louis Bovillard kein Rätsel.

Aber sie, die eine, welche diese Wirkung auf den tolldreisten Wüstling geübt! Liebte sie ihn, sie, die so ruhig und kalt ihm entgegentrat wie jedem andern gleichgültigen Gast, seine Verbeugung mit leichter Grazie erwidernd, um nach einigen gewechselten Worten über Wärme und Kälte, Wetter und Wind, anderen entgegenzueilen! Wie war sie da erfreut, schüttelte die Hände, embrassierte die unbedeutendsten und unangenehmsten Damen wie nur teure Jugendfreundinnen. Nur daß sie, plötzlich in Gedanken versunken, auf ihre Ansprache zerstreut antwortete. Sie mußte nicht recht zugehört haben, sie verwechselte die Personen. »Eine verzogene kleine Glücksprinzessin«, hatte da wohl eine vornehme Dame geäußert, die auf spezielle Aufmerksamkeit Anspruch machte. – »Sie ist wohl destiniert, immer die Interessante zu spielen«, entgegnete eine andere. – »Sie ist krank, und kränker, als wir denken«, sagte ein Arzt, der berühmte Doktor Markus Herz, welcher sie seit einiger Zeit aufmerksam zu beobachten schien. Auf die Frage, was ihr fehle, entgegnete er: »Was unserm Staate fehlt, eine heftige Krisis, damit die Krankheit herauskommt.« – »Welche Krankheit?« – »Die schwerste, die, welche man vor sich selbst verbirgt.«

Sie liebt ihn doch, sagten die Empfindsamen, denn sie war immer blaß. Das blühende Kolorit war verschwunden, die Rosenröte, die sie überhauchte, ging so schnell vorüber, als sie plötzlich kam. Sie konnte unter andern blühenden jungen Mädchen wie eine Geistererscheinung aussehen. Klopfte man bei der Fürstin vorsichtig an, so schien sie überrascht von der Wahrnehmung. Sie hatte gar nichts bemerkt, da es ihr Prinzip sei, ein so vom Himmel sichtlich begünstigtes Wesen ganz sich selbst zu überlassen. Schon die Beobachtung wirke störend ein auf eine so eigentümlich konstruierte Psyche. Freilich konnte auch sie dem, was zutage lag, ihr Auge nicht verschließen, aber sie hatte schnell die Erklärung gefunden. Adelheid war enthusiastische Patriotin. Die Schmach des Vaterlandes drückte ihre Seele.

Und Adelheid bestätigte es ja mit Wort und Tat. Sie begriffe nicht, wie man Bovillard heißen könne! hatte sie einmal ausgerufen, als verlautete, daß der Kaiser der Franzosen dem Geheimrat Bovillard eine Auszeichnung durch seinen Gesandten zukommen lassen. Jemand, der fein auf den Strauch klopfen wollte, hatte darauf erwidert, der junge Bovillard teile nicht die Meinungen seines Vaters. »Aber er schwärmt für Bonapartes Größe!« hatte sie ruhig erwidert und sich abgewandt.

»Also darum kann sie ihn nicht leiden!« hatte zu seinem Nachbar der Kammerherr von St. Real gesagt, welcher die Zirkel der Fürstin zu frequentieren anfing, sich aber noch bescheiden im Hintergrunde hielt. »Meinen Sie nicht auch, lieber Doktor Herz, daß unsre jungen Mädchen anfangen, an Überschwenglichkeit zu leiden?«

Der Doktor hatte, freundlich nickend, seine Hand auf die Schulter des Kammerherrn gelegt: »Wir sind alle zu Leiden geboren; der Unterschied ist nur, daß die einen an zu vielen Mängeln, die andern an zu vielen Vollkommenheiten leiden. Zum Exempel, die einen sind zu dumm und die andern zu klug. Beide Krankheiten sind darin sich gleich, daß beide inkurabel sind. Ihre Differenz aber ist, und darin werden Herr Kammerherr mir wieder recht geben: wer überschwenglich klug ist, leidet nur für sich, der überschwenglich Dumme macht andre leiden, denn sie müssen ihn anhören.«

Auch die Baronin Eitelbach betrachtete Adelheid als eine Kranke; Adelheid litt an der Krankheit, in deren Überwindungsstadium sie sich selbst befand.

»Liebe Seele«, hatte sie gesagt, »ich kenne ja das. Sie sind verliebt und wollen sich's nicht eingestehen.«

Adelheid war aufgefahren: Sei es denn Zeit, um zu lieben, wo man nur hassen müsse? Sie hatte von der Ehre und der Not des Vaterlandes gesprochen, warm, wie es aus dem Herzen kam, in solchen Augenblicken dürfe der Mensch nicht an sich denken! Aber sie erschrak über ihre eigenen Worte. Es war eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung, denn sie hatte ja eben nicht an das Vaterland, sie hatte nur an sich gedacht. Wie sie dort im kurzen Röckchen unter den Platanen gespielt, unter den Brombeersträuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck hinter den verkümmerten Tannen war eine Wüste gewesen, die für sie kein Ende hatte. Das Wort Waldeinsamkeit war noch nicht ein Gemeingut, aber sie hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann – durch dieselbe Allee war sie später gefahren, und wenn sie an die forschenden Blicke der Neugierigen dachte, die sie jetzt erst verstand, schoß das Blut ihr zu Kopf! Aber auch die Obristin Malchen und ihre Nichten verschwanden wieder wie neckende Spukgeister hinter den Gesträuchen, in denen die Sonne ihr funkelndes Gold aussprenkelte. Wie oft war sie an der Seite der Geheimrätin hier vorübergerollt. Warum war diese Erinnerung jetzt ihr weit schreckhafter? Warum rückte sie in die Ecke des Wagens, als scheue sie vor der Berührung eines Gespenstes? Verdankte sie ihr nicht viel, sehr viel, ihr ganzes geistiges Dasein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrungen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Frostfieber ihre Adern durchrieselte. Sie war die chemische Säure gewesen, die aus der jungen Brust die Begeisterung, aus dem Blut die Elastizität gesogen, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie wäre untergegangen, das fühlte sie, in dieser kalten, zersetzenden Nähe, und etwas davon war in ihr geblieben, es beschwerte ihr Blut, es trübte ihren Blick, der Egoismus des Verstandes!

Und als diese wechselnden Schicksale wie die Stäubchen im Sonnenstrahl vor ihrem inneren Auge wirbelten, hatte sie sich gefragt, warum das Schicksal so wunderbar mit ihr gespielt? Sie schleudere aus einem Arm in den anderen, Menschen und Gewohnheiten tauschend, wie die Bilder aus einer Laterna magica? Ob sie eine besondere Bestimmung habe, indem sie die Menschen in ihrer Schlechtigkeit kennenlernen sollte? Eine entsetzliche Frage hatte in dem jungen Herzen angepocht: Hat die Natur den Menschen auf die Welt gesetzt zur Lüge, oder um nach der Wahrheit zu ringen? Die der Lüge lebten, einen andern Schein um ihr Sein woben, hatte sie nicht beobachtet, daß grade diese vom Glück angestrahlt waren, gesucht, geschätzt, anerkannt, selbst von denen, welche sie durch und durch erkannten! Die dagegen kein Aushängeschild über ihr Wesen trugen, ihre Gedanken rein aussprachen, grade auf ihr Ziel losgingen, wo hatten sie es erreicht, wie wurden doch ihre Gedanken mißverstanden, anders ausgelegt, höchstens belohnt durch eine laue Anerkennung ihres redlichen Strebens. Aber hinzugesetzt ward: Schade, damit wird er nie durchdringen. Es hilft der Welt nichts, was er tut. – Was hatte Walter errungen? – Der arme Walter! Und sie! – Sie hatte ihn getäuscht, sie täuschte ihn noch immerfort, sie täuschte sich – sie war in ein Labyrinth der Lüge geraten. Und wo der Ausweg!

Als wolle sie ihn suchen, hatte sie in die Wipfel geblickt, deren Blätter im Abendwinde durcheinanderwogten, ohne daß sie nur eins mit den Augen verfolgen können. Da hatte die Baronin jene Worte an sie gerichtet. Und wieder betraf sie sich auf einer Lüge. Sie mußte das Auge vor dem Blick der Eitelbach niederschlagen. So hell und klar sah diese sie aus ihren großen blauen Augen an. Das ausdruckslose Gesicht gewann durch das Gepräge der Wahrheit einen Ausdruck, der für sie in dem Moment überwältigend war.

»Liebe Alltag, warum zieren Sie sich denn vor mir«, sprach die Eitelbach mit dem gutmütigsten Tone von der Welt. »Der Bonaparte mag ein noch so böser, und unser König ein noch so guter Mensch sein, jeder Mensch denkt doch an sich zuerst.«

»Jeder!« sagte Adelheid, um nur durch ein Wort ihrer gepreßten Brust Luft zu machen.

»So ist es schon. Ich laß mich auch gar nicht mehr irremachen. Krieg mag schon nötig sein auf der Welt, meinethalben; ich kenne sie aber, die Herren Offiziere, alle, und da ist keiner, der nicht an sein Avancement denkt, wenn er sich in den Kragen wirft und grunzt, daß man glaubt, die Seele sollte ihm ausgehen, von des Königs Rock und Friedrichs Ehre, und wenn er dann auf den Hacken kehrtmacht und eine Miene sich geben will. – Na, habe dich nur nicht, denke ich. – Grade wie mein Mann. Wenn der spuckt und über den Frieden lamentiert und sagt: ›Daran gehen wir zugrunde!‹, dann weiß ich auch, was die Glocke geschlagen hat. Wenn er die Mantellieferung gekriegt, dann wären wir nicht zugrundegegangen und es könnte Friede werden in alle Ewigkeit. So sind die Männer. Sie denken nur an sich.«

»Nicht alle.«

»Nein, einer nicht. Aber sonst! Ja, wenn das andre draußen mit ihren Wünschen zusammenpaßt, dann sind sie lichterloh. Das weiß dann zu parlieren und encouragiert sich, bis sie's am Ende selbst glauben, daß es darum ist. Es amüsiert mich, wenn ich sie so höre sich warm reden; aber mich täuschen sie nicht mehr, auch die Klügsten nicht. Ich denke: Sprecht ihr nur, ich weiß doch, was dahintersteckt.«

»Täuschen die Männer nur? Belügen wir uns niemals?«

Die Baronin schien nachzusinnen: »Nein, liebe Seele, Engel sind wir auch nicht immer. Wenn mein Mann Feuer schlägt, mancher Schwamm will gar nicht zünden, aber der andre fängt im Augenblick. ›Der ist weicher‹, sagt er. So sind wir Frauen, habe ich da gedacht. Wenn ein Funke vom Himmel fiele, bei den Männern hat es gute Weile, aber wir –«

»Lodern rascher auf. Ist das aber gut?«

»Was vom Himmel kommt, ist doch gut. Die Leute sagen nun, Sie könnten den Louis Bovillard nicht ausstehen, weil er den Napoleon einen großen Mann nennt und Gott weiß was. Die Leute sind nicht gescheit. Er tut es nur, um sie zu necken und Sie auch. Und wissen Sie, warum Sie ihm immer den Rücken kehren? Damit er sich nicht einbilden soll, daß Sie ihm gut wären. Und warum Sie immer so in Ekstase sprechen, wie Sie die Franzosen hassen? Nur damit die andern nichts merken sollen, wie Sie verliebt sind.«

»Frau Baronin!«

»Mir machen Sie nichts weis. Sie sind's bis über die Ohren, und wenn er selbst ein leibhaftiger Franzose wäre, schadet nichts. Und wenn er dem Bonaparte sein General oder gar sein Spion wäre, da würde Ihr Franzosenhaß so klein, ach, mit dem Teelöffel könnten Sie ihn runterschlucken.«

Adelheids erstaunter Blick sagte: Wie kamst du dazu?

Auch diese stumme Sprache verstand die Erleuchtete: »Und ich weiß auch wohl nicht, was Sie jetzt denken? Daß die blinde Henne auch mal ein Korn gefunden hat. – Denken Sie's immerzu, ich nehm's Ihnen gar nicht übel. Als ob ich nicht wüßte, daß die andern auch so denken! Das geniert mich aber gar nicht. Haben sie doch gedacht, sie könnten mir Männchen vormachen und mit mir Blindekuh spielen in Ewigkeit. Eine Weile geht's, aber dann fällt die Binde doch runter. Jetzt sollen sie's aber nicht mehr, da gebe ich Ihnen mein Wort. ›Allzu scharf macht schartig‹, und ›hinterm Berge wohnen auch Leute‹, sagte meine Mutter. Aber warum wickeln Sie sich so in Ihr Shawl? Zu schämen brauchen Sie sich doch nicht, und vor mir am wenigstens, denn ich sage es jedem gradheraus: Ich liebe und bin glücklich.«

»Und Sie haben doch entsagt?« Das Verhältnis der Baronin war zum öffentlichen Geheimnis geworden.

»Und nun bin ich grade erst glücklich. Ich weiß, er liebt mich, und er weiß, ich liebe ihn, und es geht nun einmal nicht.«

»Ist das ein Glück?«

»Muß man denn sich immer ins Auge sehen, die Lippen öffnen und die Hand drücken, um sich zu sagen, daß man sich liebt! Wenn wir noch so weit getrennt sind, sehen wir nicht beide da den Abendstern aufgehen? Brauchen wir uns Briefe zu schreiben, um uns zu sagen, daß wir uns nie vergessen werden? Ja, ehedem dachte ich wohl, ohne Rosabilletts auf duftendem Papiere und schöne Präsente ginge es nicht. Ach, wie ist das alles ganz anders! Diese Blicke aus seinen treuen, guten, schönen Augen werden immer vor mir stehen, wie die Sterne am Himmelsbogen. Und ist das kein Glück, daß ich überzeugt bin, auch er sieht mich, wie ich ihn sehe! Auch er wird von falschen Zungen umschwirrt, die mich wie ihn verreden. Aber auch er weist sie zurück! Nein, je weiter Zeit und Ort uns entfernen, um so inniger wird unser Bund, denn er ist unauflöslich. – Und, Adelheidchen, so könnten Sie auch fortlieben und glücklich sein –«

»Und lügen – lügen in Ewigkeit!« brach es aus der gepreßten Brust. Es war unwillkürlich; die Eitelbach wollte sie nicht zur Vertrauten ihrer Gefühle machen.

»Entsagen, Liebe, ist das lügen! ›Der Besitz tötet die Freude des Verlangens‹, hat mir jemand ins Stammbuch geschrieben. Würde ich ihn lieben wie jetzt, wenn er vor acht Jahren – nun ja, wäre er mein Mann, dann würden wir uns vielleicht recht gut sein, aber hätten sich unsre Seelen kennengelernt! ›Die gemeinschaftliche Menage‹, sagte der Legationsrat, ›das tägliche Beieinander stumpft die feineren, sinnigen Gefühlsfäden ab, nur Verlangen und Entbehrung weckt die edleren Seelenkräfte.‹ Er will's mir auch ins Buch schreiben. Er braucht es nicht ich fühle es, ich weiß es. Ich ward eine andere, mein Mann sagt, er kennt mich nicht wieder. Nun bin ich erst froh, ich weiß, warum ich lebe. Wir nicken uns durch die Lüfte einen ›Guten Morgen!‹ zu. Wenn ich ausfahre, freue ich mich der frischen Luft; auch ihn kühlt sie ja, wenn er über die Heide sprengt. Abends schüttelt er treuherzig den Kopf und ruft mir ›Gute Nacht!‹ zu.«

Adelheid faßte krampfhaft den Arm ihrer Begleiterin: »Soll das Ihr Leben dauern?«

»Herrgott, wie Sie zittern! – Warum denn nicht.«

»Weil – allmächtiger Gott, ich glaube, der Versucher rauscht in den alten Eichen! Nennen Sie das entsagen?«

»Wie denn sonst? Der Versucher, das weiß ich wohl, mit dem hat die Fürstin es zu tun, er vergiftet das Blut, sagt sie, und der sündhafte Gedanke zehrt an der Seele, ein kleiner Fehltritt sei nichts gegen eine große Gedankensünde. Ach, die gute Gargazin ist eine Russin, sie kennt die Liebe nicht, die sich alles versagt und nur für den Geliebten sorgt. So, liebe Seele, würden Sie lieben. Wenn Sie den Herrn van Asten heiraten müssen, weil er Ihr Wort hat, tun Sie's, und er wird gewiß ein guter Ehemann werden, besser als meiner. Aber dann, wenn Sie Ihre Pflicht getan, wer darf Sie von Ihrem Bovillard trennen, oh, dann werden Sie selig, unaussprechlich selig werden.«

Adelheid fühlte einen Schwindel, es schwankte und drehte sich, und ihr war, als müsse sie aus dem Wagen springen. Es war aber mehr als eine Empfindung der aufgeregten Stimmung. Der Kutscher, wie sich nachher ergab, betrunken, hatte den Wagen aus der Seitenallee in die Chaussee umgelenkt, ohne den Charlottenburger Milchkarren, der leer, aber langsam ihm entgegenfuhr, zu bemerken. Die Fuhrwerke waren aneinandergestoßen, freilich zum größern Schaden des Karrens, der zerbrochen am Boden lag, die Blechgefäße polterten auf die Straße, aber auch die Equipage hatte sich übergelehnt, und Adelheid war jetzt zu dem gezwungen, wozu vorhin innere Angst sie drängte.

Als die Baronin noch um Hilfe schrie, hatte sie, rasch entschlossen, sich schon danach umgesehen, und sie war zur Hand. Zwei einsame Spaziergänger waren von den entgegengesetzten Seiten des Weges auf den Lärm herangeeilt. Adelheid riß ihr Shawl von den Schultern und warf es dem ihr Nächststehenden zu. Als er aber die Arme ausbreitete, um ihr herabzuhelfen, fuhr auch ihr ein Schrei über die Lippen, kein lauter in dem allgemeinen Toben und Fluchen, aber laut genug, daß er zweien durchs Herz fuhr, der, welche ihn ausgestoßen, und dem, welcher ihr die Arme entgegenstreckte. Walter van Asten sah, wie Adelheid sich von ihm abwandte und umschlungen vom Arm des Rittmeisters Stier von Dohleneck aus ihrer gefährlichen Lage gehoben ward. Er hatte genug gesehen. Auch die Baronin durchzuckte ein Ton, der nur halb über ihre Lippen kam. Sie nahm die Hilfe des jungen Mannes dankbar an. »Ich danke Ihnen«, sagte sie, ihr Haar in Ordnung bringend, »daß gerade Sie es sind.«

Wir lassen unsere Leser auf der dunkelnden Charlottenburger Chaussee nicht länger verweilen; was geht uns der Lärm, das wüste Gezänk an zwischen Kutscher, Milchmann, den umstehenden Schiedsrichtern und Helfern. Ein Rad war gebrochen, in der Equipage konnten die Damen nicht mehr nach Hause fahren. Ihre Retter führten die Erschreckten langsam, bis eine leere Kutsche ihnen begegnete.

Adelheid wußte nachher nicht, was der Rittmeister mit ihr gesprochen, sie wußte selbst nicht, ob es der ihr wohlbekannte Rittmeister gewesen, an dessen Arm sie ging. Sie wußte nichts von sich auf dem viertelstündigen Wege. Erst als man sie in den andern Wagen hob, fühlte sie einen Händedruck. Walters Stimme flüsterte fest, aber nicht rauh und kalt: »Zum Abschied, Adelheid! Nun bist du frei.«

Die Damen hielten ein gegenseitigem Schweigen für die beste Unterhaltung auf dem Rückwege. Adelheid hatte sich fest in ihr Shawl geschlungen, obgleich es eine laue italienische Nacht war und die Baronin ihr Tuch abwarf, um sich nicht zu echauffieren. Das junge Mädchen mußte frieren, ihre Zähne klapperten, und es waren wohl Phantasien, wenn die Baronin oft die Worte hörte: »Nur keine Lüge mehr!«.

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