Achtes Kapitel.
Nationalität.

In einem andern Zimmer sah man Staatsmänner, Gelehrte und Künstler sich um die Wirtin bewegen. Die Zeitverhältnisse, die Politik waren in das Gespräch gezogen, aber mit jenem Takt, der alles Bestimmte und Persönliche ausschloß.

Eine jener Stimmen war hier erklungen, die damals nur wie vereinzelte Akkorde, Trompetenstöße aus einem mythischen Lande, in das Gewirr des Tages schmetterten, um später zu einem rauschenden Orgelton zu werden. Nicht, daß nicht schon im Volke, unter einzelnen Gelehrten, in den Universitäten und Schulen der Ruf der Nationalität vibrierte, den später die Arndt und andre zu einem mächtigen Schlachtruf für die deutsche Nation erhoben, aber in den höheren Kreisen der Gesellschaft verstummten diese Töne, erstickten diese Luftzuckungen noch immer an einer ganz andern Luftatmosphäre. Man hörte sie an, nicht ungefällig, aber vornehm Beifall lächelnd, wie man eine neue, überraschende Erfindung betrachtet, deren glänzende Erscheinung man zwar bewundert, aber die Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit bezweifelt.

Man hatte nachdenklich einem Redner zugehört, welcher gesprochen von der Heiligkeit, einem Volke anzugehören, von dem Recht auf Sprache, Sitte, eigenes Wesen, ja von der Pflicht desselben, für dieses höchste Gut sein alles einzusetzen. Eine Nation, die gegen diese Pflicht gleichgültig werde, habe schon das Anrecht auf ihre Existenz eingebüßt. Soweit ward der Sprecher verstanden, die Damen hatten Verse aus der »Jungfrau von Orleans« und »Tell« zitiert. Aber als er weiterging und nicht sowohl den Haß gegen alles Französische, nicht allein gegen Bonaparte und seine Soldaten, gegen die Revolution und die Jakobiner empfahl, worin man ihm beigestimmt haben würde; als er es als noch heiligere Pflicht forderte, daß der einzelne wie das Ganze sich versenke in das, was deutsche Art und Wesen sei; daß nur dann, wenn wir dieses wieder rein hergestellt in der Sprache, unsern Gewohnheiten, unsrer Denkweise, wenn wir ganz wieder zurückgekehrt zur eigentümlichen Anschauungsart unsrer Väter, das Fremdartige, was durch Jahrhunderte sich in unser Blut gefressen, abstreifend und ausmerzend, daß nur dann Rettung sei für unsre Nation von der Fremdherrschaft: da hörte man wohl belobende Phrasen; die meisten aber verstanden es nicht, andre schwiegen, noch andere schüttelten den Kopf.

Der Redner hatte eine noch kühnere Hypothese aufgestellt: nur in der Nationalität sei die Wurzel der Kraft, um der Tyrannei zu widerstehen. Der korsische Riese, der mit den Flügeln des Vogels Rock die Welt umspanne, wisse, was er tue, indem er das Ureigene der Nationen erdrücke, um sie in eine Allgemeinheit von gleicher Farbe, gleicher Prägung zu stampfen. Das ermatte den Lebensnerv; woran solle die Begeisterung, der Patriotismus sich klammern, wenn ein Pfeiler nach dem andern der alten heiligen Erinnerungen, der Töne und Bilder zerbreche, an denen wir uns als Kinder gehalten! Das anscheinend Unbedeutendste sei da von Wichtigkeit, ein altes Lied, es dünkt uns ohne Sinn, ein Sprichwort, eine Ruine, ein dunkler Winkel, den ein Geist, eine Sage umschwebt, eine Gewöhnung, die uns albern erscheint, alles sei doppelt bedeutend, was als Heftnadel gelten könne, um ein Volk zusammenzuhalten, in einem Augenblick, wo alles hinarbeitet, es zu zersplittern und sein Dichten und Trachten in allgemeine Begriffe von Wohlergehen und Glückseligkeit aufzulösen.

Er ging noch weiter: nur den Nationen, welche diese ihre Nationalität festgehalten, winke die Palme des Sieges. Nicht seine Insellage schütze Albion, sondern das ehrenwerte Festhalten an den alten Sitten und Gesetzen. So sah er in Spanien eine Mauer, an welcher des Eroberers Ehrfurcht scheitern müsse, er erwartete von den Basken in den Pyrenäen, daß sie die Standarte der heiliggehaltenen Volksrechte erheben würden, er blickte nach Rußlands Steppen, wo eine Völkerwiege des Ureigenen braue, aber seine Stimme wurde bewegt, als er von dem teuren deutschen Vaterlande sprach, einem Volk, das sich selbst zerrissen und sich nicht wiederfinden könne, das wie Kinder, die Muscheln am Meere sammeln, alles Neue, Fremde, Glänzende aufgreife, das wie ein Schwamm die Feuchtigkeit der Luft einsauge und seine schönsten Eigenschaften zu selbstmörderischer Tätigkeit auspräge. Mit seltner Empfängniskraft begabt, drängt seine Natur es dazu, alles Große zu bewundern, aber sein böser Geist wolle, daß es nur das Fremde bewundert; wo die eigene Größe Anerkennung fordert, erschrecke es scheu, kalt, ängstlich, und im Mißtrauen an sich selbst zergehe die schönste Kraft.

Der Redner, ein junger Mann von hoher Abkunft, hatte einen doppelten Fehler begangen. Er hatte begeistert gesprochen; die Begeisterung gehört in keinen Salon. Er war selbst gerührt worden; das war ein Fehler unter allen Umständen. Er hatte aber auch sein Auditorium nicht berechnet, und das war unverzeihlich. Er befand sich in Friedrichs Hauptstadt, in einem Kreise von Würdenträgern und ausgezeichneten Männern, die sich für Träger der Monarchie des großen Königs hielten, diese selbst aber für so fest, gesichert und in gutem Stande, daß es nur einiger Ausbesserungen bedürfe, aber keines Fundamentalbaues. War nicht seine ganze Rede ein einziger Angriff gegen die Schöpfung des Einzigen? Wo war denn die Nationalität hier, die er als einzigen Anker, der Zukunft und Vergangenheit zusammenhalte, anpries? Wo das ureigene deutsche Element? Friedrich, der mit dem Degengriff und der Feder zerstörend in das Zerfallende hineingegriffen, hatte eine Schöpfung hingestellt, die der Gegenwart angehörte. Freilich hatte er diesen Vorwurf in seinem Sinne nicht deutlich ausgesprochen noch begriffen es alle, aber man fühlte es.

Ein peinliches Schweigen war eingetreten. Einige Damen lobten hinter dem Rücken das sonore Organ des Redners: leise, aber laut genug, daß er es hören konnte. Man begegnete ihm mit großem Respekt, aber – es galt seinem Stande. Der junge Mann fühlte sich unbehaglich, er verschwand bald; er war noch zu Hofe geladen.

Dennoch hatte seine Rede einen Eindruck hinterlassen.

Ob die Fürstin das Lob der Nationalität, die Hoffnung auf Rußland, für ein Kompliment genommen?

»Was sagen Sie dazu?« sprach sie, aus ihrem Nachsinnen erwachend, als ihr Blick auf einen Mann fiel, dessen Stirn, Auge, Haltung den Künstler nicht verkennen ließ, der sich mit dem Stolz des Bewußtseins in dem Kreise bewegte, welcher an Stand und Geburt weit über ihm stand. Aber sein Blick, seine Sprache, die Nonchalance seines Wesens bekundete, daß er sich, wenn nicht ihnen gleich, doch frei und unberührt von der Präponderanz dieser Geburts- und Standesvorzüge fühlte, ohne doch in das umgekehrte Extrem zu verfallen, einer brüsken Nichtachtung. Er hatte der Rede des jungen vornehmen Mannes mit zugehört, anfangs aufmerksam, dann hatte er mit dem Kammerherrn von St. Real eine Marmorgruppe betrachtet und schien ihn jetzt auf einige Fehler derselben aufmerksam zu machen.

»Ich habe die Eloquenz admiriert«, entgegnete der Künstler. »Überhaupt, wenn in den Schulen etwas dafür getan würde, möchte die art rhetorique auch in Deutschland Progressen machen.«

»Ich meine, was Sie zur Sache sagen. Was halten Sie von der Nationalität, Schadow? Ein Künstler muß darüber ein Urteil haben.«

»Meine gnädige Fürstin«, entgegnete der Bildhauer, »wenn man die Menschen nackend auszieht, so sieht einer aus wie der andere, und wir Skülpteurs haben's eigentlich nur mit nackten Menschen zu tun.«

»Aber die Rassen sind anders gebildet. Wo wären die Götterbilder der Griechen, wenn ihre Phidias und Praxiteles nur nackte Hottentotten gesehen hätten.«

»Ich pariere darauf, wenn Phidias sich nur eine hübsche Hottentottin ausgesucht, er würde auch eine Venus zustande gekriegt haben, die unsre Amateurs admirieren müßten. Und was die Rassen betrifft, so ist unsre deutsche auch eben keine Schönheit gewesen. Nach den descriptions der Historiker und den Skulpturen an den Säulenbildern waren unsre barbarischen Vorfahren auch barbarisch häßlich.«

»Die Kultur also hat die Rassen veredelt. Das ist Ihre Meinung?«

»Sie könnte noch immer etwas mehr tun, als sie getan; indessen, wir Künstler dürfen es nicht zu genau nehmen. Wo wir nichts finden, borgen wir, hier einen Arm, da ein Bein, eine Hüfte, eine Schulter –«

»Und das Beste tun Sie selbst hinzu, die Harmonie. Die Kunst ist Stückwerk, wie alles unter dem Monde, der Geist muß in die Formen fahren, um ihnen eine Seele zu geben. Aber Sie wollen mich nicht verstehen und verstehen mich doch. Die Griechen waren eine Nation, die Römer –«

»Die Juden sind auch eine«, fiel Schadow ein, »und doch rümpft man in der Société die Nase.«

»Ich will Ihre Meinung wissen, Schadow«, sagte die Fürstin mit entschiedenem Ton. »Ihre Moquerien ein andermal.«

»Wenn man meine Skulpturen so gütig ist zu rühmen«, sagte der Künstler, »ist's jetzt so Mode, ein Schwanzende dranzusetzen, daß wir uns von der französischen Imitation losreißen müßten. Ich habe auch nichts dagegen; wer frei stehen kann, mag sich losreißen, aber ein Kind gebiert sich nicht selbst. Es ist dazu eine Mutter und ein Vater nötig, und die mußten wieder Väter und Mütter haben. Meine ersten Väter waren die französischen Maitres, die der grand Frédéric herbeirief. Was fängt die junge Welt jetzt an, gegen sie zu schwätzen! Auch meine Jungens, der Rudolf und Wilhelm, tun's, seit sie den Mund auftun können, als müßte es so sein. Habe auch nichts dagegen, denn Schwatzen gehört zum Leben, aber ich lache so im stillen, was wäre ich denn, und was wäret ihr alle und wir alle ohne die Franzosen! Und die Franzosen ohne die Italiener und die ohne die Römer und Griechen! Und die Griechen vielleicht ohne die Ägypter und so weiter.«

»Sie mögen recht haben.«

»Da wollen sie jetzt auf Goldgrund malen, lange Engelsgesichter mit Wickelkinderleibern und mit Schleppkleidern, und das nennen sie deutsch, weil sie vor vierhundert Jahren, als das Gold noch wohlfeiler war, die Leinwand so angestrichen haben. Als ob der Fiesole und die Florentiner so gemalt hätten, wenn sie damals schon Besseres gesehen.«

»Sie springen ab. Ist die Nationalität Ihnen gar nichts?«

»Das Kleid, was der Mensch sich anlegt, weil wir nun einmal nicht nackt gehen sollen. Sie sagen, es schickt sich nicht, ich aber meine, weil wir zu eitel sind. Weiter nichts, um unsre Gebrechen und Unschönheiten zu bemänteln, legen wir Kotillons, Surtouts und Redingoten an. Und gar nicht nach unsrer Wahl, wie wir's von unsren Voreltern übernommen haben. Wir ändern nur den Schnitt. Und von wem kommt der? Soweit Sie zurückgehn, aus Paris. Nehmen Sie mir Stück für Stück vom Leibe, was vom Auslande stammt, und ich würde wirklich mich nicht unterstehen, in dem Kostüm, was die Natur mir läßt, vor Euer Erlaucht stehnzubleiben. Was ist's nun mit der Nationalität anders, gnädigste Frau, verschieden geschnittene und gefärbte Röcke um dieselben Menschen. Freilich pressen enge Schuhe den Fuß der Chinesinnen klein, und der des Türken wächst plump in seinen weiten Pantoffeln, aber der Fuß bleibt Fuß, und mit der Sohle treten sie in Grönland auf und in Konstantinopel. Ist der Franzose ein andrer, weil er mehr auf den Zehen geht, und wir mehr auf den Hacken? Wo wir nun alle bettelarm wären, und zottig umherlaufen müßten in unsrer Blöße, lohnt sich's da, um den Schnitt und das Kostüm uns zu hassen? Denn weiter ist die Nationalität nichts.«

»Einem Bildhauer vergebe ich diese Naturauffassung. Aber Sonne, Klima, Luft wirken verschieden auf die Kreatur. Die Nationen sind verschieden in Gemütsart, Intentionen, das können Sie nicht abstreiten.«

»Ja, in jedem Lehrbuch steht's, daß der Franzose leichtes Blut hat, der Spanier schwarzes, der Italiener heißes, der Deutsche warmes. Der Franzose ist leichtfüßig und eitel, der Italiener zänkisch und rachsüchtig und der Deutsche keusch und treu. Eigentlich brauchte man nur an den Puls zu fassen, und gleich hätte man weg, von welcher Nation jemand ist. Schade nur, Prinzessin, daß ich in Italien die liebsten Menschen fand, von warmem Blut und dem besten Herzen, fleißig, emsig, rechtschaffene Familienväter und treue Freunde. Sollte ich sie darum hassen, oder die Franzosen, weil Montesquieu und Rousseau, weil Buffon und Laplace Franzosen waren, oder alle Deutschen darum lieben, weil sie alle grad, ehrlich, Männer von Wort, Biedermänner und keusch wie Joseph sind?«

Herr Schadow hatte dabei wie zufällig den Blick auf dem Kammerherrn von St. Real ruhen lassen, welcher etwas unruhig ward. Es gibt Tiere und Menschen, welche das Fixiertwerden nicht vertragen. Die Fürstin, sichtlich im Innern bewegt, nahm wieder das Wort:

»Sie haben recht, die Nationalität ist auch nur ein Götze, geknetet und angestrichen aus Leim und Kot, aus Träumen und Blut. Aber, Herr Schadow, ein schöngeformtes Götterbild bleibt's, schöner als Ihre Apollo und Jupiter.«

Der Meister hatte eine Prise genommen: »Ja, die Kostüms sind recht hübsch, ich zweifle gar nicht, daß der Patriotismus einst eine Rolle spielen wird.«

»Wie wir alle!« sagte die Fürstin, indem ihr Blick die Gesellschaft überflog. Die Eitelbach und Laura gingen vorüber; sie nickte ihnen zu, aber ihre Gedanken waren mit anderm beschäftigt und die Worte kaum an den Bildhauer und den Kammerherrn gerichtet, so wenig als an den Rittmeister Dohleneck, der eben aus dem andern Zimmer auf sie zuschritt. Sie sprach mit sich selbst.

»Wir alle spielen eine Rolle, vor andern oder vor uns selbst. Wenn wir uns doch darüber nicht täuschen wollten! Schadow hat recht, was ist denn unser eigenstes Eigenes? Die Szene, wo wir auftreten, das Licht, das uns anleuchtet, das Kleid, das sich an unsre Glieder schmiegt, es übt Einfluß, es macht uns erst zu dem, was wir scheinen; das Lächeln der Lippen, es ist angeblasen vom Augenblick, der Stimmung; alles, was wir zu besitzen glauben, ist Geborgtes und wir nur Mollusken, die Farbe und Gestalt annehmen von der Flüssigkeit, die sie einsaugen, Schmetterlinge, denen der Blütenstaub den Duft leiht, und der Finger des Knaben entfärbt sie wieder; Irrlichter sind wir, schaukelnd in der Vibration der Luft, und unsere törichste Rolle, es ist die unverschämte Lüge, wenn wir wahr zu sein glauben.«

»Dazu, meinen einige, wären wir auf der Welt«, entgegnete der Meister.

»Schadow, haben Sie nie die ungeheure Leere empfunden, dies gähnende, graue Mißbehagen der Kreatur?«

»Niemals, meine Gnädigste.«

»Ich kann den Trinker begreifen, der ausstürzt Becher über Becher, immer feurigren Wein, es ist die Molluskensehnsucht nach einer Existenz, nach einer Verkörperung des Geistes.«

»Wenn ich den brennenden Durst empfinde, den Erlaucht meinen«, sagte Schadow, »dann knete ich ihn in Ton und meißle ihn in Stein.«

»Und das tote Werk vor sich, sind Sie befriedigt?«

»Da ist's heraus, fix und fertig, was mich plagte, nach allen Regeln steht's vor mir, und ich bin frei.«

»Glücklicher – Unglückseliger! Bis Sie wieder von neuem geplagt werden.«

»Dann schaff ich's von neuem aus mir raus.«

»Und käme eine andre Zeit, die alle diese Regeln zusammenwürfe?«

»Dann habe ich für meine geschaffen und genug getan.«

War das Zustimmung, war es Schadenfreude, oder wo kam der Funke her, der plötzlich über ihr Gesicht zuckte: »Und Sie haben recht. Wir, wir leben ja alle nur für unsre Zeit. Nur unsre Rolle gut durchgespielt, das ist die Aufgabe. Harmonie hineinbringen müssen wir, nicht die aus den Sphären, die bringt schrillende Disharmonien. Die Harmonie des Scheins. Sie schaffen, was heute gilt, der Komponist, was heute die Ohren kitzelt, der Philosoph, der Politiker – ach, mein Gott, wohin verirrten wir uns, lieber Schadow, schwärmen und philosophieren, heißt das nicht aus der Harmonie unsrer Rolle fallen, und unsre lieben Gäste blicken verwundert nach uns.«

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