Claude Anet
Russische Frauen
Novellen
Verlag C. Weller & Co.
10.-12. Tausend
1926
Frauen und Liebe in Rußland
Stendhal wäre von Rußland, wenn er es gekannt hätte, begeistert gewesen. Dort hätte er nirgends jene alle Gefühle verdrängende Eitelkeit angetroffen, die er in Europa so tiefst verabscheute. Doch eine Moral in Liebesdingen hätte er jenseits der Weichsel gefunden, wie sie in keinem anderen Lande erreicht wird – eine gewisse Aufrichtigkeit und Unvoreingenommenheit in allen Gefühlen, ohne jede Trübung durch konventionelle Regeln, einen entschlossenen Willen, jede Liebesangelegenheit für sich allein, ohne Rücksicht auf Überlieferung und Gepflogenheit und vor allem ohne Rücksicht auf die Meinung der Umwelt zu entscheiden. Wirklich findet man in Rußland eine vollkommene Verachtung der »öffentlichen Meinung« – ja, da ich dies niederschreibe, bin ich immer noch allzusehr im Banne unserer westlichen Anschauungen, denn für einen Russen, der liebt, gibt es einfach gar keine andere Meinung, als sein eigenes Gefühl und deshalb kann er sie auch nicht einmal verachten. Jeder Liebeskonflikt ist bloß ein Drama zwischen zwei oder drei Personen, der antike Chor, der in unserer westeuropäischen Gesellschaft niemals von der Szene weicht, hat in der russischen Tragödie keine Verwendung.
Daher dies bezaubernd Ursprüngliche im Entstehen und in der Entwicklung einer Leidenschaft. Die westliche Liebe läßt den Gedanken an einen sorgfältig gepflegten Garten aufkommen, an einen Park, in dem das Wasser durch kunstvoll angelegte Kanäle rinnt, sich in schön zementierten Becken im Schatten sorgsam gestutzter Bäume sammelt und in seinem ganzen Lauf etwas vornehm Zurückhaltendes behält. Immer wieder erkennt man die höhere Mahnung: »Bis hierher und nicht weiter!« Alles Unvorhergesehene und alles, was gegen den vorgezeichneten Plan verstoßen könnte, scheint undenkbar. In Rußland ist solche Beschränkung unmöglich. Da werden weder die Bande des Gesetzes, noch die der Gepflogenheit, ja, ich wage es zu sagen, auch nicht die der Vernunft geduldet. Und daraus entspringt in Rußland der Zwang, täglich sein Leben neu zu gestalten, in jedem Augenblick nur der Logik seiner Empfindungen allein zu gehorchen. Der Russe urteilt niemals, wie etwa ein englischer Richter, nach Präzedenzfällen, er hat keine Überlieferung, jeder Fall ist ihm ein neuer, er fühlt sich frei, ihn immer nur seiner augenblicklichen Stimmung gemäß zu entscheiden. Weder an die Vergangenheit denkt er dabei, noch an die Zukunft. Eine so weitgehende Unmittelbarkeit der Entschlüsse, eine so vollständige Ausschaltung aller gesellschaftlichen Rücksichten, führt, wie man sich denken kann, zu den überraschendsten Situationen und zu den – in unseren Augen – unerwartetsten Zwischenfällen. Aber gerade diese Situationen haben für uns den unschätzbarsten Wert, denn sie sind immer nur der reinste Ausdruck des freien Spiels der Gefühle und Stimmungen und tragen keinerlei Spuren jener schrecklichen, die ganze Gefühlswelt des Abendlandes verseuchenden Frage an sich: »Was wird man dazu sagen?«! Darum muß die russische Handlungsweise, welche Lösung immer sie auch bringen mag, hochgeachtet werden, denn sie fährt unverfälscht aus der Wolke der Leidenschaften und beleuchtet uns blitzhaft die verborgensten Zuckungen des menschlichen Herzens.
In Frankreich und England würden bei gleichen Konflikten erst tausend äußere – fremde – Einflüsse zur Geltung kommen. Ein betrogener Gatte ist, sobald sein Schicksal die Öffentlichkeit beschäftigt, gezwungen, an Scheidung zu denken. Die gesellschaftliche Moral verbietet ihm, aus diesem – man weiß nicht recht warum – als angetanen Schimpf betrachteten Fall andere Konsequenzen zu ziehen.
Sollte er aber, sich selbst überlassen, Neigung zu einer gütlichen Lösung zeigen, so wacht die Gesellschaft darüber, daß er zum Handeln gezwungen werde. Verwandte, Nachbarn, Klubbekannte und Geschäftsfreunde lassen ihm keine Möglichkeit, nach seinem eigenen Belieben zu leben. Das ganze Gewicht der – leider – allmächtigen, öffentlichen Meinung erdrückt den Willen des Gesellschaftsmenschen, der niemals sich allein angehört.
Dieser lastende Einfluß ist unter unseren europäischen Gesellschaftsformen so weit zurückreichend, daß er sich heute gar nicht mehr äußerlich zeigen muß, denn er hat sich schon allzufest in allem Denken und Fühlen, im ganzen Seelenleben verankert. Es ist so weit, daß man sich wirklich zur Frage berechtigt fühlt, ob die Mehrzahl unserer Zeitgenossen überhaupt noch einer spontanen Handlung fähig ist und ob sie nicht einem Erlebnis gegenübergestellt, bloß ganz automatisch den unbewußten Weisungen gehorcht, die ein Leben unter dem beobachtenden Blick von Nachbarn als hundertjährige Tradition ihr einimpfte. In Rußland ist der Mensch noch eine Individualität, die dieser Sklaverei nicht verfiel.
Wie man aber diese Freiheit jenseits der Weichsel verwendet, das ist eine andere Frage. Doch, wenn man sie auch opfert, so ist es kein falscher Ehrbegriff und es sind keine Schicklichkeitsgründe, denen zuliebe dies geschieht denn all das hat nach dortigen Begriffen nichts mit Fragen des Gefühls zu tun.
Ein europäischer Betrachter würde sich sehr täuschen, wenn er aus dieser so schwach entwickelten Rücksicht auf die Umwelt und aus diesem Mangel an Tradition auch auf einen Mangel an Kultur und Zivilisation schließen wollte. Denn es ist nur eine andere, vertiefte, verfeinerte Zivilisation, die hier wirkt, die, voll uns fast unverständlichen Problemen, sich nach fremdartigem Rhythmus und Gesetz entwickelt. Wie ein Brodeln ungebändigter, unerforschbarer, fast immer neu geborener Kräfte, so sind die Kontraste, denen man auf russischem Boden begegnet, in jenem Land, das sechs Monate des Jahres im Schnee versinkt, das einen Frühling kennt, der wie ein Rausch betäubt und dessen Sommer voll asiatischer Glut alles Leben zu Boden drückt.
Don Juan ist in Spanien geboren. Doch er ist ebenso Franzose, wie Engländer oder Italiener. Auf meiner Reise durch Rußland aber suchte ich ihn vergebens. Weder unter meinen Zeitgenossen, noch in den Erzählungen der Frauen, fand ich ihn; auch nicht in alten Sagen oder als Romanhelden verkörpert. Er ist in jener einzigartigen Sammlung russischer Typen nicht vertreten, wie Gogol sie in »Tote Seelen« verewigte, nicht bei Dostojewski, Tolstoj, Lermontow und ebensowenig bei Gontscharow, Griboidow und Tschechow. Puschkin schrieb wohl in Anlehnung an Byron einen Don Juan, doch ohne jeden russischen Einschlag. Und überdies ist sein Eugen Onegin doch bloß ein seichter Dandy. Don Juan, den wahren, gibt es in diesem Lande nicht! (Der einzige russische Don Juan, den ich kenne, ist Prinz Karasow in » Rouge et Noir«. Der kleine Vortrag, den er Julien Sorel über Don Juanismus hält, ist ganz vorzüglich, aber dieser Russe scheint mir im Umgang mit uns ganz Europäer geworden, was übrigens nicht unwahrscheinlich ist. Außerdem sehen wir ihn nur in der Rolle eines Beraters. Ist es erwiesen, daß er jene Kaltblütigkeit, die Julien Sorel so imponiert, auch bewahren würde, wenn bei ihm selbst die Leidenschaft mitspräche?) – Kein Don Juan in diesem Lande, in dem die Liebe so leidenschaftlich glüht! Als ich diese Entdeckung machte, sah ich frohbeglückt einen lohnenden Weg für meine Gedanken vor mir, der mich tiefer ins Verständnis der russischen Seele – zum Begreifen Don Juans vordringen lassen würde.
Und ich begann den Ursachen nachzuforschen.
Ein junger Offizier, der den Frauen nachstellt und die Nächte durchschwärmt, ist noch kein Don Juan. Er vergibt seinen Überschuß an Kräften wahllos, in zufälligen Begegnungen, ohne mehr als das rein Physische seiner selbst zu engagieren.
Don Juan aber ist ein zielbewußter Wille, der niemals erlahmt. Er beherrscht die Ereignisse, wie die Frauen, die er in seine Arme zwingt; was immer ihm begegnen mag, er bleibt Herr seiner selbst, Herr der Situation.
Die Kunst der Selbstbeherrschung ist der russischen Liebe fremd. Sie kennt so unvermitteltes Emporlohen, daß jede Dämpfung vergeblich wäre. Und im ewigen Kampf der Geschlechter versucht der Russe gar nicht Sieger zu bleiben. Wenn er liebt, setzt er seinen Stolz darein, sich von seiner Geliebten tyrannisieren zu lassen, sich zu erniedrigen bereitet ihm eine herbe Freude. Für ihn ist immer der Gedanke, sich zu opfern, der beherrschende und dadurch vermeint er – welch verhängnisvoller Irrtum! – sich in den Augen jener, der er sich weiht, zu erhöhen! Schon im voraus ist er bereit, alle Demütigungen zu erdulden und die Frau erspart ihm keine. Wie fern ist dies dem Geiste Don Juans!
Dieses Sichverlieren hat vielfache Folgen. Ich will nur auf eine, im Physiologischen liegende mit jener vorsichtigen Wahl der Worte, die dieses heikle Thema erfordert, hinweisen.
Die Liebe, eine Verbindung der Seelen, ist auch eine Auswirkung des Körperlichen. Weiblicher und männlicher Organismus folgen bei diesem Zusammenklang den Gesetzen ungleicher Entwicklung – der weibliche in der Regel zögernd, der männliche hitziger. Und doch ist es wesentlich, daß sich eine Übereinstimmung ergebe. Das erfordert ein großes Maß von Selbstbeherrschung beim Manne, der es in allen Stürmen seiner Gefühlswelt stets verstehen muß, sich zu gedulden, sich auf die Frau einzustellen, um sie erst dahin zu leiten, wo er selbst schon angelangt ist und sie stets erst dann zu erobern, wenn sie selbst sich verschenken will.
Denkt ein Mann aber nur an sich selbst und überrumpelt er eine Frau, ohne zu überlegen, daß sie noch nicht die gleiche Höhe seiner Gefühle erreicht habe, dann wird sie, abgestoßen, verletzt und enttäuscht, grausame Rache an ihm üben und eine Kette von Mißverständnissen und Verstimmungen wird daraus folgen.
Ein Russe nun, der sich mit geschlossenen Augen seiner Leidenschaft überläßt, wird kaum im entscheidenden Augenblick Herr seiner selbst bleiben und sein ganzes Verhältnis zur Frau wird dadurch gestempelt. Ideal veranlagte Seelen werden sich voll Abscheu vor dieser materialistischen Betrachtung abwenden. Nun, ich will gleich eine weitere anknüpfen, die ihrem Geschmack mehr entsprechen dürfte.
Don Juan ist nicht bloß im Körperlichen der stets Überlegene, auch die Seele will er beherrschen und die Mittel, die ihm dazu verhelfen können, sind ihm vertraut. Gibt es eine Frau, sei sie noch so hohen Standes und so stolz, als man nur annehmen möge, die nicht im verborgensten Dunkel ihrer Seele, vielleicht ihr selbst unbewußt, die heiße Sehnsucht nach einem überlegenen Wesen trägt, dem zu folgen ihr Glück bedeutet? Besteht nicht das Wesentliche der Frauenliebe in Anschmiegung, Unterwerfung, Selbstentsagung zu Füßen des einen Herrn, und ist nicht die Gebärde Magdalenas vor Jesus der höchste Ausdruck weiblichen Glücks?
Unser Russe aber, weit entfernt davon, seine Füße von der Geliebten waschen zu lassen, kennt nur das eine Verlangen, vor jener, die er anbetet, auf den Knien zu liegen und sie mit seinen Tränen zu überschwemmen.
Und doch wird auch er geliebt. Aber welch fremdartige Liebe ist dies, in der Stolz und Seelenadel, heiter ertragenes Leiden und Selbstachtung, die Enttäuschungen nie zugeben wird, die größte Rolle spielen! Die russische Frau hängt stets an sittlichen Gründen. Gute Eigenschaften, die sie an ihrem Geliebten bemerkt zu haben glaubt, vergrößern sich ihr, seltene Augenblicke, in denen er über sich selbst hinauswuchs, werden in ihr zum dauernden Zustand. Und sie ist so wunderlich ausgestaltet, eine so sonderbare Mischung von allerlei einander widersprechenden Schwächen und Vorzügen – oft begreift man wirklich nicht, wie sie in einem Wesen vereint zu bestehen vermögen – daß man Verbindungen von Mann und Frau in diesem Lande antrifft, die zugleich mit den erkünsteltsten Mitteln aufgebaut und doch wieder erstaunlich dauerhaft sind. Aber was erlebt man auch wieder für aufbrausende Trennungen, die unvermittelt, unerwartet und – unerklärlich sind.
Setzen wir unsere Betrachtungen fort. In diesem Land, in dem die Eitelkeit fast gar keine Rolle spielt, sind die Frauen nicht der Meinung, daß es vorteilhaft für sie wäre als unnahbar zu gelten. Sie geben sich mit erstaunlicher Leichtigkeit und aus so primitiven – oder so sehr komplizierten? – Gründen, daß deren Untersuchung ein besonderes Kapitel, wenn nicht einen ganzen Band beanspruchen würde. Der Widerspruch zwischen Leidenschaft und Wicht, der in unserer Literatur einen so breiten Raum einnimmt, ist der slawischen Seele fast fremd.
Die Frauen in Rußland beginnen dort, wo unsere enden: im Gewähren. Bei uns ist dies der Abschluß, in Rußland aber der Anfang einer Liebe. Dort erfolgt die wahre Eroberung der Frau erst nach den berühmten Gedankenstrichen unserer Romane, und die »letzte Gunst« ist bei der Russin die erste. Dann erst beginnt der wahre Kampf, geheimer, erbitterter, raffinierter, als ein Westeuropäer zu ahnen vermag ...
Unser Don Juan aber hat seinen tausenddrei Namen einen neuen hinzugefügt und eilt unbekümmert zu seiner nächsten Eroberung. Denn er ahnt nicht, daß die Festung, die nach seiner Meinung kapituliert hat, und der er kaum noch einen Gedanken schenkt, in Wirklichkeit ebensowenig sein ist, wie vorher.
Rußland ist daher ein schlechter Boden für ihn. Sein Stolz findet keine Nahrung. Soll er eine Freude darin suchen, eine Frau, die schon in seinen Armen lag, auch moralisch zu erobern? Dieser Ehrgeiz kann einem Don Juan nicht liegen, der als Westeuropäer nicht daran denkt, daß eine Frau ihren Körper verschenken kann und trotzdem Wertvolleres zurückbehält.
Und noch einen Schritt weiter – – – Welcher Sieg wird Don Juan am schwersten, und welcher gilt ihm als der größte? – Der über eine religiöse Frau! – Und welcher Nebenbuhler ist am mühsamsten zu verdrängen? – Gott. – Das ist eine Aufgabe, die Don Juan zu reizen vermag! Aber es soll eine wahre Frömmigkeit sein, eine strenge Zucht, die die Seele einer solchen Frau geprägt hat. Tag um Tag soll sie nur ihren Pflichten gelebt haben, und ihre Frömmigkeit darf ja nicht zum Mystizismus abbiegen, denn dieser Weg führt sie unserem Don Juan nur rascher in die Arme. Wie rief doch Baronin Krüdener, die große Mystikerin, im Augenblick des höchsten Sinnesrausches: »Oh, Gott, vergib mir das Übermaß meines Glückes!« und gab damit ihren sehr weltlichen Gefühlen ein fast heiliges Mäntelchen. – Nein, keine Mystikerin, eine Frau, die ein ehrwürdiger und kluger Priester in Geist und Wort der heiligen Gesetze eingeführt hat. Das ist die große Aufgabe eines Don Juan, der, wie Jakob, mit Gott selbst ringen will. Das ist sein schwerster Kampf – sein glorreichster Triumph! Wo aber ist in Rußland diese Frau? Wo findet man hier geistige Zucht, Ehrfurcht vor Gesetzen, Schulung der Seelen? In diesem Volk ist die Mystik so vertieft und stark, daß sie sich dem größten Materialismus paart und die religiöse Seele, die ihr erliegt, verfällt in jene erstaunliche sexuelle Zügellosigkeit, wie man sie in so vielen russischen Sekten findet.
Was sollte Don Juan im Kreise dieser Mystikerinnen, denen die Probleme des Fleisches, obgleich sie so viel Freuden daraus ziehen, ganz untergeordnete Bedeutung haben!
Der Lebensekel, besser gesagt, die Verzweiflung, die »kranke Seele« der russischen Frau erklären zur Genüge die häufigen Erfolge, die Männer hier ihrem Gelde allein verdanken. Man kann dies noch tiefer begründen. – Die Verachtung seiner selbst, der Wunsch sich zu demütigen – je höher entwickelt die Frau, desto stärker dieses Verlangen – der Drang nach den Tiefen des Lebens und nach dem Taumel, den ihr Kontrast zu der inneren Höhe verursacht, eine Religion voll mystischen Schwärmens und das trostlos Niederdrückende in den äußeren Lebensbedingungen – das sind die tiefsten Ursachen jener Katastrophen, in denen viele der wertvollsten Individuen Rußlands zugrunde gehen.
Ich sagte es schon: die russischen Frauen beginnen mit ihrer Hingabe.
Europäerinnen, die den Preis ihrer Niederlage hochzuhalten verstehen, die sich mit so viel Raffinement zu verteidigen wissen und die sich erst nach einer langen Belagerung ergeben, urteilen voll Verachtung: »Leichtfertige Frauen, die nicht viel von sich halten!«
Die Russin aber erwidert: »Warum begleitet ihr das Geschenk eures Körpers mit einer so übertrieben großartigen Geste? Mit all eurem Getue seid ihr ja doch bloß ganz ausgeprägte Materialisten! Die große Mühe, die ihr aufwendet, um euren Körper zu verteidigen, wir sparen sie für die Verteidigung unserer Seele. Ist denn ein Mann, der euren Körper besitzt, auch schon euer Gebieter? Habt ihr ihm denn alles damit gegeben, daß ihr in seine Arme gesunken seid? Gibt es gar nichts, das euch höher steht, als diese Sinneslust? Ist dies das Wertvollste an euch? Habt ihr gar kein verborgenes Kämmerlein, dessen Schlüssel ihr bewahrt?«
Das namenlose Volk der Dämchen bevölkert die großen und die kleinen Städte Rußlands. Es hat seinen erbärmlichen, verachteten Plebs – ich erinnere mich an eine Ruine von einem Weib, eine zerlumpte Säuferin, die sich im Hafen von Kertsch hinter Warenballen für ein Fünfkopekenstück (zehn Pfennig) den Arbeitern hingab – und seine Sterne erster Größe.
Es ist schwierig eine ganze Klasse zu charakterisieren, ohne, nur das Allgemeingültige herausgreifend, bloß nichtssagende, seichte Phrasen niederzuschreiben. Dieses Thema aber erleichtert meine Aufgabe, denn die russische Halbwelt, auch in ihren niedrigsten Schichten, hat in ihrem tiefsten Innern gewisse Wesenszüge, durch welche sie sich von der Deutschlands, Frankreichs oder Englands durchaus absondert.
Es scheint fast, als würden diese russischen Mädchen sich niemals ganz geben, als würden sie selbst am Tiefpunkt ihrer Demütigung, ihrer Erniedrigung die Fähigkeit bewahren, einen Rest ihrer selbst sich rein zu erhalten, um aus diesem geretteten Schatz in ihren eigenen Augen sich immer wieder aufrichten zu können.
Auch freut ihr Beruf sie nicht, und sie haben keinen Ehrgeiz, ihm gerecht zu werden. Sie zeigen sich weder liebenswürdig noch klug, noch raffiniert, und ich bin überzeugt, daß sie ihre westlichen Schwestern ob all ihrer Künste als sehr verderbt verurteilen würden.–« They haven't good bed-room manners«, drückte sich ein Engländer aus, der wußte, daß man dieses kultivierte Benehmen kaum anderswo als in Frankreich, dem Land einer alten Zivilisation, finden kann. Diese russischen Mädchen sind aber nur da, um den Sünden ihres Volkes zu dienen – wie Mallarmé, ganz überflüssigerweise die Religion heranziehend, sich ausdrückt – und mehr wollen sie nicht.
Die etwas höherstehende Schicht, deren Vertreterinnen man in Kabarets und Varietés antrifft, scheint auch ihren Beruf nicht weiter ausgestaltet zu haben, doch weist sie einige ihr eigenartige Züge auf. Die Mädchen sind nicht damit zufrieden, bloß ihr Geld zu verdienen, sie weigern sich, nur eine Komödie der Lust vorzutäuschen, sie wollen sie auch wirklich erleben. – Sonderbare Berufsauffassung!
In dieser Gattung gibt es die Spielart der Tischmädchen, deren Aufgabe es ist, ihren Kavalieren in jenen Lokalen Gesellschaft zu leisten. Sie setzen sich an den Tisch, essen sich für die nächsten vierundzwanzig Stunden satt, trinken Champagner, lauschen den Zigeunern, helfen ihren Herren, sich zu berauschen, und in der Morgendämmerung verschwinden sie und gleich der hohen Iris hat niemand ihren Schleier gelüftet.
Noch höher oben wird die große Demimonde wieder eins mit der Frau, von der sich, wie man weiß, alles sagen läßt, wenn sie Russin ist.
Ich glaube, es ereignet sich hier seltener als in allen anderen Ländern, daß eine von ihnen im Wohlstand stirbt, nicht etwa, weil zu wenig Geld durch ihre Hände ging, aber, weil sie unfähig sind, es zu behalten. Oft heiraten sie, obgleich sie nicht die geringste Sorge danach tragen, in Ehrbarkeit ihre Tage zu beschließen. Und wenn sie Ehefrauen werden, so geschieht es ganz gewiß nicht, um der »Welt« Konzessionen zu machen, sondern »weil es eben so kam«, und in der Regel, weil einer ihrer Freunde lange genug darum flehte. Oh, wie unendlich weit liegt die Wolga von der Seine! – Eine solche Ehe ist übrigens, wie die Mehrzahl der russischen Ehen, gewöhnlich nicht von langer Dauer.
Ein so geduldiger, Stein für Stein zusammengetragener Bau, wie ihn unsere sparsamen, lebensklugen französischen Mädchen zähe als Bürgerhaus oder Palais errichten, kann auf dem lockeren Sandboden Rußlands nicht entstehen.