Ein Denkerleben

26. Wundenmal und Abklärung

Die jüdische Kirche wollte ihren Bann gleichfalls mit bürgerlichen Folgen begleiten, sie beantragte bei dem Magistrate, daß der »Gotteslästerer« aus der Stadt verbannt werde. Die Angelegenheit wurde der Oberbehörde der reformierten Geistlichkeit zum Austrag übergeben, und der stille Denker sah sich durch Zuschriften und Vorladungen oft aus seinem innern Forschen herausgerissen. Mit weitgehenden Betrachtungen über die Regelungen des Gemeinwesens und den dazu erforderlichen Menschenverbrauch wanderte er oft durch die langen Gänge der Gerichtsgebäude und saß wartend in den Vorzimmern. Das Martyrium der neuen Welt ist ein langes aus tausend kleineren Plackereien zusammengesetztes, und unser Philosoph sollte zu demselben noch ein anderes erfahren.

Die Freunde drangen in ihn, freiwillig seine Vaterstadt zu verlassen, er aber beharrte dabei, daß er um der Gerechtigkeit willen nur dem Urteile des angerufenen Gesetzes sich fügen dürfe. Es war die letzte Freundestat Oldenburgs, der als Gesandter des niedersächsischen Kreises nach England berufen war, daß er den Freund von diesen Störungen befreite. Er bat Spinoza wiederholt, ihm zu folgen, aber dieser wollte im Vaterlande und in stiller Einsamkeit bleiben. Doch rüstete er sich nun, Amsterdam zu verlassen; denn war er auch frei von jedem Groll, so konnte er doch der unmittelbaren Empfindung nicht allzeit wehren, die ihn oft schmerzlich berührte, mitten in seinem Heimatsorte sich von Mißwollen und Abscheu umgeben zu sehen. Es tat ihm weher, diese Empfindungen schuldlos in anderen zu erregen, als ihre Folgen selber zu tragen.

Die Eigentümlichkeiten der Freunde zeigten sich bei den Erörterungen hierüber in bezeichnender Weise. Meyer fand ein Ergötzen darin, die Gebrechen und Beschränktheiten, die Denkfaulheit der Menschen mit scharfem Spott zu geißeln; Oldenburg lehnte dies ab, weil ihm jede heftige Gegenwehr, jedes Handgemenge mit der gemeinen Welt als unschön und verunreinigend erschien; und wie so oft traf auch jetzt Spinoza mit Oldenburg zusammen. Was dieser unmittelbar aus einem gewissen Anstandsgefühl vermied, dazu brachte hier Spinoza eine Begründung aus der Erkenntnis. »Die Erforschung der Gegensätze und Mängel der Menschen,« sagte er, »darf nur dazu dienen, daß wir uns vom Widerstreit nicht überraschen lassen, vielmehr in Ruhe uns Verhaltungsregeln ausbilden und die Erregung des Gemüts in möglichst kurzer Zeit überwinden. Es ist ein trügerischer Schein, wenn man dadurch frei und glückselig zu sein glaubt, daß man Fehl und Gebrechen anderer ins Auge faßt und in allerlei Auslassungen darüber sich ergeht; frei und glückselig macht uns nur die Erkenntnis der Tugenden und ihrer Ursachen, dadurch allein wird unsere Seele freudenvoll. Der Ehrsüchtige spricht am liebsten vom falschen Ruhm und den schlechten Mitteln anderer; der habgierige Mittellose vom Mißbrauch des Geldes und den Lastern der Reichen. Wer aber die Wahrheit liebt, hält sich nicht lange bei Lüge und Verstocktheit auf; er bekämpft sie nach Kräften, erfreut sich der eigenen erlangten Erkenntnis und daran, daß auch die Irrenden nach einer Naturnotwendigkeit handeln.«

»Die Glückseligkeit liegt noch immer im Jenseits,« ergänzte Oldenburg, »aber im Jenseits des besiegten Hasses, im Paradiesesfrieden der Erkenntnis.«

Meyer ließ sich indes nicht so rasch bekehren, und mit dem Selbstgefühl, daß er das Rechte vorhergesagt habe, fragte er: »An Olympia hast du hoffentlich die Charakterlosigkeit und bloße Stimmungsfähigkeit der Frauennatur erkannt, und wirst dieser Abart des Menschentums die entsprechende Stellung in deinem System anweisen?«

»Ich weiß,« entgegnete Spinoza, »wer von der Geliebten übel aufgenommen wurde, denkt an nichts als an die Unbeständigkeit, den falschen Sinn und die übrigen abgeleierten Untugenden der Frauen, und alles das läßt er alsbald in Vergessenheit geraten, wenn er von der Geliebten wieder huldreich aufgenommen wird. Wer aber seine Affekte und Begierden allein aus Liebe zur Freiheit zu mäßigen sucht, der wird sich bestreben, so viel als möglich die Tugenden und ihre Ursachen kennen zu lernen, und die Seele mit der Freude zu erfüllen, die aus ihrer wahren Erkenntnis entspringt. Wer dies emsig beobachtet – denn es ist nicht schwer – und dann übt, der wird gewiß bald seine Handlungen meist nach der Herrschaft der Vernunft einrichten können.«

So erquickten und erhoben sich die Freunde in Durchdringung der Geisteszustände und im Aufsuchen ihrer Beweggründe, und Spinoza hatte in seinem eigenen Leben Anhalt genug zu der Darlegung, die er mit unumstößlicher Beweiskraft führte, daß nur die Leidenschaften die Menschengemeinschaft und die innere Harmonie des einzelnen trennen, die Vernunft aber sie eint.

Der schöne belebende Verkehr erhielt durch Oldenburgs Abreise nach England eine Lücke. Spinoza, Meyer und de Vries begleiteten ihn nach dem Schreyerstoren (Weinensturm), der von den Tränen der Zurückbleibenden bei der Abfahrt ihrer Angehörigen den Namen hat. Mit schwerem Herzen riß sich Spinoza aus den Armen des Freundes, und wehmütig sah er ihm nach, als er von den Wellen dahingetragen wurde. Meyer und de Vries blieben ihm noch; aber dieser war zu jung, um ganz sein Freund sein zu können, Alter und Erfahrung waren zu ungleich; jener war verheiratet. Hundert Beziehungen und Begegnisse machen es dem Gatten und Vater unmöglich, sich dem Freunde stets mit gleicher ungeteilter Hingebung zu widmen; in Oldenburg hatte er seinen treuesten Freund verloren.

Als er nun allein über die Amstelbrücke zurückging, begegnete ihm ein Leichenbegängnis: unter den Leidtragenden erkannte er seinen ehemaligen Meister und seine Nebengesellen; einer derselben winkte ihm mitzugehen, er schloß sich dem Zuge an und erfuhr, daß man hier den Peter Blyning zu Grabe trage. Am letzten tollen Kirmessamstage war er mit den Kameraden beim Tanze gewesen: die Kameraden machten sich den Spaß, daß sie alle ihre Mädchen an ihn schickten, und ihn zum Tanze auffordern ließen; er konnte sich kaum halten vor Wut und Arger, stürzte Wein und Genever durcheinander ein Glas nach dem anderen hinunter. Darauf weinte er bitterlich, nahm seine Krücken und ging. Auf einmal hörte man einen fürchterlichen Schrei, alles eilte hinaus: Peter war die Treppe hinabgestürzt, hatte sich die Hirnschale zerschmettert und lag in den letzten Zuckungen da.

Spinoza folgte dem Zuge mit tiefbewegter Seele. Unterwegs begegnete er Chisdai. Als er ihm nahe kam, bemerkte er, wie Chisdai dreimal ausspie und dabei die hebräischen Worte sprach: »Du sollst einen Ekel und Abscheu vor ihm haben, denn er ist verbannt.« (5. B. M. 7, 26.) Spinoza kehrte sich nicht daran und geleitete, in sich versunken, die Leiche des Unglücklichen zur Ruhestätte.

Am Abend erhielt er noch einen erschütternden Besuch. Tief in den Mantel gehüllt kam de Silva zu ihm und in finsterem Tone begann er ohne Gruß: »Nicht der Jude kommt zu dir, er kennt dich nicht mehr. Der Arzt steht vor dir; sein Beruf ist, jedem zu helfen, zu raten, ohne zu fragen, wer er sei. Ich rate dir, verlaß deine Vaterstadt, dir droht Gefahr. Dein Herz krankt, solange du hier bist. Das kann kein Mensch ertragen, als ein Ausgestoßener wie eine Leiche zu wandeln unter denen, die einst mit ihm lebten. Ich weiß, du willst die nicht höhnen, die dein Verbleiben als Hohn deuten. Und noch eins. Ephraim Cardoso hat sich einer neuen Gesellschaft Auswanderer nach Brasilien angeschlossen, Chisdai wollte mit ihnen ziehen, aber sie verstießen ihn. Niemand will seine Gemeinschaft, er ist gemieden wie ein Verpesteter, niemand verzeiht ihm, daß er so dein Ankläger wurde.«

»Aber ich verzeihe ihm.«

»Das rettet ihn nicht und rettet dich nicht. Ich fürchte, er brütet auf eine entsetzliche Tat; denn am Tage verläßt er selten sein Haus, und nur des Nachts schleicht er umher. Laß dich warnen, ich tue es aus Dank für dich. Ja, ich ändere mein Wort und sage: ich bin als Jude bei dir. Du hast vor dem Sanhedrin unsere Religion nicht geschmäht, du hast gesprochen, wie es einem Denker gebührt. Ich selber will kein Denken, das nicht in den Armen des Glaubens ruht; aber ein Jude ruft dir zu: Bleibe gerecht gegen uns wie gegen andere. Du bist frommer, als du dir bekennen magst, als deine Vernunft dir gestattet zu bekennen.«

»Ist denn Glauben die einzige Form der Frömmigkeit?«

»Ich weiß, ich weiß,« fuhr de Silva hastig fort, »ich bin nicht gekommen, mit dir zu streiten. Du kannst es mir als Hochmut deuten, daß ich dir noch Frömmigkeit zuerkenne. Aber als du die Synagoge auf immerdar verließest, muß dir an einem Betstuhle, wo einst dein Vater stand, ein Kind erschienen sein und das Kind betete andächtig, und das Kind warst du. – Vergiß es nicht. Und du sollst es wissen und bleibe dessen eingedenk, daß ein Jude mit Trauer im Herzen dich den einsamen Weg gehen sieht. Leb wohl!«

Spinoza streckte de Silva die Hand entgegen, aber nur mit der vom Mantel umhüllten Hand faßte dieser die des Ketzers und entfernte sich rasch.

Diese neue Begegnung bewegte das Gemüt Spinozas tief. Es war eine Kunde aus einem Leben, von dem er geschieden war; er konnte sein doch nicht vergessen. –

Bald aber erregte eine Todeskunde das Herz Spinozas zu tiefer Trauer. Es war die Nachricht, daß sein Lehrer van den Ende in Paris hingerichtet worden sei. Der allzeit wohlgemute Arzt, der das Lachen als höchstes Gut pries, hatte eine Tat der Hingebung an das Vaterland bewiesen, die man nicht von ihm vermutet hätte. Um die Kriegsunternehmung Ludwigs XIV. gegen die Vereinigten Staaten durch eine Volkserhebung zu kreuzen, hatte er mit dem Herzog von Rohan und anderen einen Aufstand in der Normandie angezettelt; er büßte dafür mit dem Tod am Galgen.

Alle Bewohner Amsterdams, ja der gesamten Niederlande, widmeten dem Dahingeschiedenen ein inniges und zum Teil reuevolles Gedenken. Manche wollten zwar behaupten, der Doktor habe einmal seinen höchsten Lebenszweck im großen erreichen wollen; er habe im Chor mit ganz Europa lachen wollen über den auf der Weltbühne hin und her gezerrten Ludwig XIV. Aber das Unternehmen van den Endes und sein Opfertod war doch zu ernst und gewaltig, um solche Betrachtungsweise nicht abzuschneiden.

Spinoza suchte sich diese überraschende Wendung im Leben seines Lehrers zu deuten. Daß die leichtlebige Natur auch eine leichtsterbende sein könne, ergab sich bald, und eben dieses waghalsige Einsetzen der sonst verzettelten Lebenssumme für eine einzige Tat ließ sich wohl auf den Charakter und die Anschauungsweise van den Endes zurückführen. Dennoch blieb noch ein unerklärter Rest; Spinoza mußte innerlich dem Lehrer Abbitte tun; er hatte ihm solches doch nicht zugetraut.

Er fühlte die Verpflichtung, jetzt Olympia eine Tröstung zu bieten. In der Kundgebung seiner Trauer und in der Erkenntnis der tapfern Tat sollte zugleich die Abbitte liegen.

Er prüfte sich streng und konnte sich sagen, daß nur die lautere Teilnahme am Schmerz der einst Geliebten ihn dazu bewog; und am Abend machte er sich auf den so oft betretenen Weg nach dem Hause van den Endes. Das Haus war still und ausgestorben; von einem Nachbar erfuhr er, daß Olympia mit ihrem Gatten nach Hamburg abgereist sei. Als er auf dem Heimwege an der St. Olaikirche vorüberging, dort wo er einst in der Nacht auf den Stufen gesessen und nach dem Fenster Olympias geschaut hatte, stürzte jemand auf ihn los, packte ihn beim Arme, stieß mit dem Rufe: »Der Esel hat Hörner!« ihm den Dolch nach der Brust, und entfloh mit schnellen Schritten. Spinoza war dem Stich glücklich ausgewichen, nur sein Mantel war durchstochen; er glaubte den Täter erkannt zu haben, es war Chisdai.

Als der erste unwillkürliche Schreck und seine nächsten Folgen im Gemüte vorüber waren, erwog Spinoza nur noch den Gedanken, wie der Fanatismus nichts ist als eine Umkehr zum rohen Naturrecht, die sich scheinbar auf ein Gedankenrecht, auf die Heiligkeit eines Gesetzes stützt. Der in sich verhetzte unklare Eifer, der das innere Gesetz zu einem äußeren Fahnenspruch gemacht, hat allezeit verdammt, gekreuzigt, Scheiterhaufen entzündet und das Herz des Feindes durchbohrt. Es gilt: der Menschheit die ihr inwohnenden Gesetze zu offenbaren und sie zur Liebe, zur Freude und lebendigen Glückseligkeit zu führen ...

Den durchlöcherten Mantel bewahrte er zum Andenken auf.

Dürfen wir dies als Sinnbild nehmen, daß Haß und Unverstand nur das Kleid des Weisen durchbohrten, sein inneres Wesen aber nicht trafen? –

Spinoza erfuhr es nicht, daß man am Morgen nach der gegen ihn versuchten Untat eine Leiche aus der Amstel zog. Es war die Chisdais. Er wurde als Selbstmörder klaglos in die Erde gescharrt, wie einst Uriel Akosta, dessen Grab er gehöhnt hatte.

Keine Kunde aus der jüdischen Gemeinde drang zu Spinoza, und jetzt hatte ihn Krankheit niedergeworfen.

Emporgetragen ins Unendliche hat dich dein freies Denken, über der Einzelerscheinung schwebst du in der Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes – da plötzlich wirst du niedergeworfen in eine abgelegene Kammer, tot ist die Welt, verschüttet dein Geist, erloschen die Lichtströmung des Gesetzes durch das All.

Kein Dolchstoß aus Menschenhand hatte das Herz Spinozas getroffen, und doch fühlte er unsägliche Schmerzen in der Brust, und Blut quoll ihm aus dem Munde.

Waren es dennoch die Folgen so vielfacher innerer Bewegungen, die ihn rasch nacheinander heimgesucht und jenes schon in erster Jünglingszeit, damals beim Predigtversuche in der Synagoge, kundgewordene Leiden zum Ausbruch brachten?

Spinoza lag schwer krank danieder.

Jetzt bewährte sich Ludwig Meyer als der treue, hilfreiche Freund, Tag und Nacht. Und mit einer eigenen Heiterkeit erklärte er dem Freunde in ruhiger Stunde: »Nun bist du doch, was du sein mußt, ja noch mehr, ein verbannter Jude und Junggeselle. Der Junggeselle kann wieder in jene Paradiesesunschuld vor Erschaffung des Weibes zurückkehren, er steht wiederum frei in sich allein: meine Erbsünde – ja lache nur – die hilft mir. Ist es nicht sehr tiefdeutig: sobald ein zweites Wesen dem Adam zuredet, ist er nicht mehr allein, handelt nicht mehr bloß aus sich, er muß sein Tun mit einem andern einigen; ja zuletzt folgt er sogar fremdem Willen; da ist der Sündenfall da, er hat nicht aus sich gehandelt, sondern aus einem andern. Der Junggeselle aber ist wie Adam im Paradiese. Du mußt der Adam des Geistes bleiben.«

Spinoza sah lächelnd auf den Freund und erklärte ihm, daß der Mensch nicht in der Einsamkeit, sondern nur in der Gemeinsamkeit wahrhaft frei ist; und Ludwig Meyer stand dann oft wie anbetend am Krankenlager des Philosophen, der in schmerzfreien Augenblicken sein eigenes Siechtum wie eine fremde Tatsache ansah. Nur einmal sprach er über erfahrene Unbill, indem er, eine frühere Betrachtung erweiternd, sagte: »Die schwerste Last, die uns die Menschen auferlegen können, ist nicht, daß sie uns mit Undank, Haß und Verachtung drücken, nein, daß sie Haß und Verachtung uns in die Seele pflanzen. Das läßt nicht frei aufatmen, nicht klar aufschauen: aber es ist Eitelkeit und Selbstzerstörung, einen Menschen zu hassen; wir müssen nur die böse Tat unwirksam zu machen suchen, und damit wieder hindurchdringen zur Liebe Gottes, in der die Welt so friedsam und wonnig ist und uns allezeit mit Lust erfüllt.«

Immer mehr erstieg er jene ruhige Höhe seliger Betrachtung, so daß er von sich sagen konnte: »Ich habe mich sorgfältig bestrebt, die menschlichen Handlungen weder zu belachen noch zu beklagen noch zu verabscheuen, sondern zu erkennen: und demnach die menschlichen Affekte wie Liebe, Haß, Neid, Ehrgeiz, Mitleid und die übrigen Seelenbewegungen nicht als Fehler, sondern als Eigenschaften der menschlichen Natur zu betrachten, die ebenso zu ihr gehören, wie zur Natur der Luft: Hitze, Kälte, Wetter, Donner und andere dergleichen, die, wenn sie auch unbequem sein mögen, doch notwendig sind und bestimmte Ursachen haben, durch die wir ihr Wesen zu erkennen suchen und an deren Betrachtung sich der Geist ebenso ergötzt wie an der Wahrnehmung der Dinge, die sinnlich angenehm sind.«

Meyer konnte nicht umhin, dem Wahrheitsforscher auf sein dringendes Begehren offen zu bekennen, wie es mit ihm stehe. Nur eine kurze Weile, als fühle er jetzt schon den Todesschlaf, schloß Spinoza die Augen, als ihm Meyer erklärte, daß unverkennbare Schwindsucht hier ausgesprochen sei, und nur sorgfältigste und bemessenste Überwachung des Lebens die Jahre verlängern könne.

Eine Weile herrschte Stille, und Meyer schaute auf das unbewegte Antlitz des Freundes, der die Augen geschlossen hielt. Jetzt richtete sich der Kranke auf, sein Auge leuchtete; kein Schmerzenslaut, keine Klage kam über seine Lippen; mit der Ruhe eines vollendeten Weisen bestimmte er genau die Lebensregeln, die er fortan einhalten wollte. Und er richtete sich frei auf, als er erklärte, nun in Besonnenheit und Selbstbestimmung allein sich selber die Lebenstage zu schaffen, in Selbstbeherrschung das Dasein zu bewahren und in Seelenruhe zu erfüllen.

Er hielt getreulich Wort.

Satt an Tagen dem Tode entgegenzusehen, auszuscheiden aus der Welt des Schauens und Empfindens – es ist schwer, und doch mag man sich getrösten, den allgemein bemessenen Raum durchschritten zu haben. Aber in der Blüte der Jahre, vor der Mittagshöhe des Lebens den Todeskeim in sich fühlen, ihm tagtäglich wehren, jede Lebensäußerung bewachen, der ruhigen Gewohnheit entbehren, daß das Leben sich von selbst fortsetzt, vielmehr mit sorglichem Bedacht die Daseinspflicht allzeit vor Augen halten und dabei sich heiter und harmlos des sonnigen Tages freuen, rüstig arbeiten, durch keinen Zuruf von außen erweckt, nur im eigenen Denken das Heiligtum des Lebens und seiner Freuden finden – das vermag nur ein Mensch, dem Freiheit und Notwendigkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit eins geworden, der in der Weisheit die höchste Spitze des Daseins erstiegen. Denn Weisheit ist die bewußte Einheit mit der Naturbestimmung, die Erfüllung der Pflicht, die zur Erkenntnis und im Gehorsam gegen diese zur Neigung geworden.

Ein solcher Weiser war Spinoza.

Die Welt mit ihren tausend Widersprüchen und Gegensätzen in den Einzelerscheinungen war von seinem Geiste aufgelöst zur Einheit. Er hatte abgetan alle Selbstsucht, alles Bemessen der Dinge nach ihrer Wirkung auf den Vereinzelten; das eigene Sein mit seinen Bedrängnissen war hingegeben in das All, und im Genusse der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit lebte er das ewige Leben.

Er war der »freie Mensch«, der bekennen durfte: »Ich unterlasse das Böse oder bestrebe mich, es zu unterlassen, weil es geradezu meiner besondren Natur widerstreitet, und mich von der Liebe und Erkenntnis Gottes – die das höchste Gut ist – abziehen würde.«

In stetiger Gleichmäßigkeit, wie die Sage von den Göttern berichtet, und wie die Natur um uns her unwandelbar sich hält, so lebte Benediktus Spinoza. Was die Erkenntnis errungen, ward ihm zur seligen Gewohnheit, und wie er einst das Leben sich zum Denken geschaffen, so gab er durch sein Denken sich jetzt das Leben.

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