Ein Denkerleben

3. Der jüdische Dominikaner

Rodrigo Casseres nahm noch einen vollen Zug aus seinem langen Glase und erzählte: »Es werden jetzt ungefähr acht Monate sein, als ich durch Philipp Capsoli einen Brief aus Sevilla erhielt; ich erschrak schon als ich die Aufschrift las: ›An Daniel Casseres in Guadalajara.› Das konnte wieder nur ein unvorsichtiger Jude sein, der mich bei meinem jüdischen Namen nannte; wie erzitterte ich aber erst über den Inhalt des Briefes: ›Daniel, Mann des Gefallens,› hieß es darin, ›der Tag der Rache und des Todes ist da; ich will sterben mit den Philistern. Hei! sie sollen spüren wie's tut, wenn man bratet; komm zu mir; ich bin von heiligen Schergen bewacht. Bei dem Namen des allerheiligsten Gottes, bei der Asche unserer gemordeten Brüder und Schwestern beschwöre ich dich, komm zu deinem sterbenden Geronimo de Espinosa.‹ – Es war kein Zweifel, Geronimo selbst hatte den Brief geschrieben; der feine wagrechte Strich, das Zeichen der Verehrung des einzigen Gottes unter seiner Namensunterschrift, zeigte mir das vollkommen, wenn ich gleich die zitternde Handschrift nicht als die seinige erkannte. Ich eröffnete meinen Kindern den Entschluß, nach Sevilla zu reisen; ich war so schwach, mich durch ihre Bitten und Tränen von der Ausführung abhalten zu lassen. Ich hatte den armen Geronimo fast ganz vergessen, als mich einst ein schaudervoller Traum an ihn erinnerte, und des anderen Tages war ich auf der Reise. Ich trennte mich mit beklommenem Herzen von meinen Kindern, denen ich gesagt hatte, ich reiste nach Kordova zu meiner Schwester. Ich zog durch Kordova und schlich mich unbemerkt an dem Hause meiner Schwester vorüber; nirgends konnte ich ruhen noch rasten, es war als ob eine unsichtbare Hand mich unaufhaltsam fortdrängte. Ich kam nach Sevilla. Eben läutete das Glöcklein zur Hora als ich den Trianenberg hinanstieg. Dort weilst du, glühender Geronimo, sprach es in mir, und förderst deine Schritte zur Kapelle; hast Gebet auf den Lippen und Fluch im Herzen. Hieß es nicht Gott versuchen, da du, im Innern ein Jude, dich hineinwagtest mitten in den Rat der Inquisition, um so deinen Brüdern zu helfen? – Ich trat in die Kapelle und kniete nieder, bis die Messe beendigt war. Ich richtete mich auf und betrachtete die fetten und die abgehärmten Klosterbrüder genau; in keinem erkannte ich Geronimo. Ich fragte einen Familiaren nach ihm, er sagte, schon seit Wochen läge Geronimo zwischen Leben und Tod und spräche stets mit Daniel in der Löwengrube. Er führte mich in seine Zelle. Mit abgewandtem Gesichte schlummerte der Kranke, nichts als ein kahler Schädel war zu schauen; ein Kruzifix hing über seinem Bette und neben ihm saß ein betender Klosterbruder, der mir zuwinkte, ich möge leise auftreten. Nur das mühsame Atemholen des Kranken und ein leises Geflüster des Betenden zeigte von Leben in dieser Grabesstille. Endlich richtete sich der Kranke auf, ich erkannte ihn nicht: diese tiefliegenden Augen und hohlen Wangen, diese blassen Lippen vom lang herabwallenden weißen Bart umflossen, so konnte sich das Ansehen Geronimos nicht verändert haben; er erkannte mich aber alsbald, und leise, kaum die Lippen bewegend, sprach er: ›Bist du noch da, Daniel? Das ist schön, daß du mich nicht verlassest; brauchst dich nicht zu fürchten, bist auch in der Löwengrube, aber Gott hilft dir heraus wie unserem Propheten zu Babel; nur mir haben sie Blut und Mark ausgesogen, ich kann nicht hinaus. Nicht wahr, du gehst nicht von mir?‹

Ich hatte gefürchtet, der Augenblick des Wiedersehens würde vielleicht seinen Tod beschleunigen; ich konnte kaum begreifen, wie er tat, als ob wir längst beisammen, ja als ob wir nie getrennt gewesen. Er winkte dem betenden Bruder neben ihm und dieser nahm sein Buch unter den Arm und ging. Beim Hinausgehen sagte er mir aber noch leise ins Ohr, daß ich, wenn es zu arg würde, dort an der Klingel läuten könnte.

›Ist er fort?‹ sagte nun Geronimo, ›komm, gib mir schnell die Pechkränze, die du unter deinem Mantel hast, ich will sie hier verbergen in meinem Bett. Heute nacht, wenn sie alle schlafen, zünden wir ihnen das Nest über dem Kopfe an; das wird eine lustige Opferflamme sein, die Engel im Himmel sollen drob lachen; ich bin gebunden, ich kann nicht hinaus. An allen vier Enden muß man's zugleich anzünden: wir müssen eilen, sonst steigt der Quadalquivir von selbst aus seinem Bette und löscht die Flamme auf der Burg, sie haben ihn im Solde. Hilf mir, das Wasser reicht ans Leben. Herr Gott! ich habe gesündigt, ich habe deinen heiligen Namen verleugnet; du hast ja sonst dich gezeigt in Wundern, sende deinen Blitz, daß er sie vertilge, mich auch, mich zuerst, ich habe gesündigt, vertilge mich.‹

So sprach er schnell, und dabei schlug er sich mit seinen knöchernen Fäusten auf die Brust, daß es dröhnte; ich konnte ihm nicht wehren, er sank fast atemlos zurück; ich fürchtete, daß er jetzt verscheide, und wollte eben an der Klingel läuten, da richtete er sich plötzlich wieder auf und weinend sprach er: ›Komm, gib mir deine Hand, sie ist rein, rein vom Blute deiner Brüder; es war des Satans Eingebung, daß ich Wurm den Riesenbaum zu zernagen trachtete. Ich büße für meinen Stolz, ich habe meinen Gott verleugnet, ich sterbe nutzlos, wie ich nutzlos lebte. Siehst du nicht meinen Vater dort? er kommt auch uns zu helfen; so, du hast Pechkränze genug, Vater. Hörst du die Gefangenen drunten Hallelujah singen? Ah, das ist ein schöner Gesang, Hallelujah Hallelu El. Wir befreien euch, ihr dürft sterben. Seht mich nicht so grinsend an, ich bin nicht schuld!‹ – Er sank wieder zurück und stierte mich mit unheimlich gläsernem Blicke an. Ich bat ihn um Gottes und unserer selbst willen, ruhig zu sein; ich erzählte ihm, wie ich hergekommen sei, seinem Briefe Folge leistend; er solle ruhig sein, er habe viel Menschenleben gerettet, und Gott sei auch gnädig und verlange nur das Herz.

Mit vollem Bewußtsein redete er sodann mit mir von seinem nahen Tode, und wie er sich dessen freue; ein gewaltiger Tränenstrom enthob seine Seele der schweren Pein, die auf ihr lastete; doch plötzlich riß wieder alles in furchtbarer Zerrüttung durcheinander; er verlangte nach dem geweihten Wasser, das lindere seine Schmerzen; hier in der Herzgrube, da brenne es wie glühendes Eisen; ›trink auch,‹ sagte er zu mir, ›der heilige Vater hat es geweiht; segne mich, mein Vater, es ist Sabbat. Wo ist die Mutter? noch drunten im Keller in der Synagoge? Mutter, mach auf, ich bin's, dein Moses‹. – So sprach er, und mir schwindelte vor dem entsetzlichen Abgrunde, an dem ich stand. Es wurde Abend und Geronimo glaubte, man schleppe ihn in einen finstern Kerker, man spanne ihn auf die Folter; schmerzvoll ächzend und mit fast ersterbender Stimme rief er stets: ›Ich bin kein Jude, ich weiß nicht, wo verborgene Juden sind. Daniel, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, Daniel!‹ Endlich schlummerte er wieder ein. Es war Nacht geworden, das volle Antlitz des Mondes blickte durch das Fenster und goß sein silbernes Licht über den Kranken. Ich war zum Tode bereit, denn jedes Wort aus unserem Gespräche hätte, wenn es vernommen worden wäre, mir den Martertod gewißlich gebracht; zu gutem Glücke war aber fast der ganze Orden heute bei der Untersuchung gegen die Lutheraner in der Stadt beschäftigt. Ich betete zu Gott, daß er sich Geronimos erbarmen und ihm den Tod senden möge. Kinder! Es ist gräßlich, um den Tod eines Menschen zu beten, und noch dazu um den eines Jugendfreundes. Warum aber sollte diese Seele noch länger gemartert werden? Es war aber anders beschlossen, ich sollte noch Erschütternderes erfahren. Ich saß in trübe Gedanken versunken da, als ein Familiare eintrat und mir befahl, zu dem Inquisitor zu kommen. Mein Herz pochte laut, als ich zu ihm eintrat; ich warf mich vor ihm auf die Knie und bat um seinen Segen. Er erteilte ihn mir und sprach alsdann: ›Du bist ein Freund Geronimos. Wofern du ein guter Christ bist,‹ und hiebei richtete er einen durchbohrenden Blick auf mich, ›sorge dafür, daß Geronimo von seiner Hartnäckigkeit läßt und noch vor seinem Tode das heilige Abendmahl nimmt; versuch's und berichte mir sogleich, so darf er nicht sterben.‹ Ich ging wieder in die Zelle des Kranken, er schlummerte noch; ich neigte mich leise über ihn, er wachte auf. ›Komm,‹ sprach er hastig sich aufrichtend, ›jetzt ist's Zeit. Siehst du? Gideon mit seinen dreihundert Mann kommt auch, sie tragen die feuergefüllten Krüge ins Lager der Midianiten; still – leise – blast noch nicht in die Posaunen, laßt uns das Hochamt halten.‹ Er faltete seine Hände und bekreuzte sich darauf dreimal.

Ich bat, ich beschwor ihn, ich weinte vor innerer Angst, und redete ihm zu, ruhig zu sein; ich erzählte ihm von den Tagen unserer Kindheit und wie er mich nun selber morde, wenn er nicht das heilige Abendmahl nehme. ›Warum gibt man mir's nicht?‹ sprach er ruhig, ›ich bin ja Priester; komm, wasche meine Hände, ich bin unrein, dann will ich's empfangen.‹

Ich ging zum Inquisitor und sagte ihm, daß Geronimo zwar noch immer wirr sei, daß er aber selbst nach dem heiligen Abendmahl verlange. Der Inquisitor versammelte den ganzen Orden, und als sie den langen Gang heranzogen mit den Weihegefäßen und dem schauerlichen Totengesang, der in der hohen Halle lange nachtönte, sang Geronimo laut mit, und noch als der Gesang verklungen war, sang er de profundis clamavi mit lang anhaltendem Tone, wobei er die Hände stets gefaltet hielt; dann riß er seine Hände schnell auseinander, bedeckte damit seinen Kopf und sang die hebräischen Worte: Heilig! Heilig! Heilig! Adonaj Zebaot! (Jehovah, Gott der Heerscharen) Ave Maria gratia plena, sprach er in derselben Lage fast mechanisch vor sich hin. Der Inquisitor benutzte diesen Augenblick und reichte ihm die Hostie; er verschlang sie wie mit Heißhunger.

›Den Kelch! den Kelch!‹ rief er, ›ich bin Priester.‹ Der Inquisitor reichte ihm den Kelch, er schlang seine beiden Hände krampfhaft um denselben und begann den jüdischen Sabbatsegen darüber zu sprechen: dann richtete er sich mit Macht im Bette auf, er stand da in seiner ganzen schauererregenden Gestalt und schrie: ›Auf Gideon! Zerschmettert die Krüge! Feuer! Feuer!‹ Er setzte den Kelch an die Lippen, warf ihn an die Wand daß die Scheiben klirrten, sank um und – war tot. –

Der Fremde bedeckte seine Augen mit der Hand und stand auf, als er diese Worte gesprochen hatte. Niemand wagte ein Wort laut werden zu lassen, denn welches konnte die namenlosen Erschütterungen der Seele in sich fassen? Jeder fürchtete nur durch einen Laut, durch einen Seufzer, die tiefe Bewegung des anderen zu stören. Es war eine Totenstille. Draußen klopfte es wie mit gespenstischen Fingern an die Scheiben; alle zuckten zusammen, der Fremde öffnete das Fenster, es war nichts zu sehen. Er setzte sich wieder an den Tisch und fuhr fort: »Ich war halb besinnungslos an dem Bette Geronimos niedergesunken, der Kelch mit dem verschütteten Weine lag neben mir am Boden, Ich wagte nicht, mich aufzurichten, aus Furcht, daß mein Blick zuerst meinem Henker begegnen müsse. ›Steh auf,‹ sprach eine rauhe Stimme zu mir. Ich richtete mich auf, der Inquisitor stand vor mir, keiner der Mönche war mehr zugegen. ›Wie heißt du?‹ fragte er mich barsch. Ich war in peinigendem Zweifel: sollte ich meinen wahren Namen angeben, sollte ich nicht? Aber vielleicht hatte er ihn schon erspäht und eine Lüge brachte mir den zwiefach gewissen Tod. Ich sagte die Wahrheit; er frug nach einem Zeugen. ›Hier kennt mich niemand,‹ antwortete ich, ›aber mein Schwager, Don Juan Malveda in Kordova kann mir bezeugen, daß jener Casseres, in dessen Hause zu Segovia die erste Sitzung der Inquisition gehalten wurde, mein Ahnherr ist.‹ Ich muß mich noch jetzt über den Mut wundern, mit dem ich in diesem entscheidenden Augenblicke zu dem Inquisitor redete. ›Schwöre mir,‹ sagte er nach einer peinlich langen Pause, ›nein, schwöre mir nicht, aber wofern du nur eine Silbe von dem, was du hier gesehen, über deine Lippen bringst, so stirbst du mitsamt deinen beiden Kindern des Feuertodes. Du bist in meiner Gewalt, ich halte dich mit unsichtbaren Banden, du kannst mir nicht entrinnen.‹ Er befahl hierauf einem Familiaren, mich aus dem Kastell zu entlassen. –

Wenn wir die Geschichte des Propheten Jonah buchstäblich nehmen dürfen, gleich mir muß es ihm zu Mute gewesen sein, als er vom Seeungeheuer ausgespieen wurde. Ich glaubte noch immer den schauerlichen Grabgesang zu hören, und doch war alles um mich her totenstill. Alles war so heimlich, so bedrohlich: jeder Busch, der im Mondlichte schwankte, schien mir Eile zuzuwinken. Ich war vor Ermattung und Angst kaum mehr eines Gedankens mächtig, und nirgends in der weiten Umgebung eine Seele, an der ich mich aufrichten konnte. Da blickte ich hinauf in das zahllose Heer der Sterne, ihr himmlisch Licht glänzte wohltuend in mein Inneres, Gott, der Gott der Heerscharen, wachte über mir; meine ganze Seele war ein Gebet, er vernahm's. – Ich gelangte in meine Herberge, sattelte mein Pferd, und ritt wie auf Sturmesflügeln davon. Der Mond war hinter Wolken verschwunden, und nur der Sterne mattes Licht beschien meinen einsamen Weg. Das Pferd selbst schien wie von unsichtbaren Geißeln getrieben, es stürmte unaufhaltsam fort über Berg und Tal, und schnaubte und schäumte fürchterlich. Vielleicht, dachte ich, ist die Seele eines grimmigen Judenfeindes, vielleicht gar die Seele des verstorbenen Großinquisitors, in dieses Tier gefahren, und ist nun verdammt, mich durch die Nacht dahinzutragen zur Rettung vor meinen Feinden. Oft, wenn es seinen Kopf nach mir zurückwendete und zu mir umschaute mit seinen feurigen Augen, schien mir's als ob es zu mir spräche: Leide ich nicht genug für mein früheres Leben? Ich fürchtete mich fast vor meinem eigenen Schatten, der rastlos über Felsen und Gestrüppe dahinhüpfte, und drückte die scharfen Sporen nur noch mächtiger in die Rippen des Pferdes. – Ihr, die ihr in Freiheit aufgewachsen seid und darin lebt, ihr könnt es nicht wissen, welch eine Verwirrung des Lebens in solchen Stunden eintritt; die Erde ist nicht mehr fest, der Himmel ist verschwunden und was je von Schrecken und Gespenstern die Erinnerung aufgenommen hat, wacht auf. Ein Wunder, wenn es sich zeigte, würde ohne Staunen angesehen, denn alles ist Wunder, alles unfaßlich geworden und das eigene Leben am meisten. Ermattet kam ich in Kordova bei meiner Schwester an; erst an ihrem treuen Herzen verscheuchte ich die Angst, die mich kaum frei atmen ließ. Als ich des anderen Morgens in den Stall kam, um mich nach meinem Pferde umzusehen, lag es tot da; seine großen Augen stierten noch so unheimlich wie am gestrigen Abend. Mit einem frischen andalusischen Renner meines Schwagers setzte ich die Reise fort. Ich nahm von meiner Schwester Abschied; ich durfte ihr nicht sagen, daß ich sie zum letzten Male sah. – Als ich in der Heimat ankam, war mir die alte Ruhe und Sicherheit im Hause verschwunden. In jedem Freunde, der mich herzlich willkommen hieß, in jedem Fremden, der mich auf der Straße ansah, glaubte ich einen Abgesandten jener Mörderbande, die sich ein Gericht nennt, zu erblicken; jeder, meinte ich, müßte den Mantel zurückschlagen, und mir das blutigrote I auf seiner Brust zeigen. Die alte Sorglosigkeit war verschwunden, ich kannte nur noch Furcht und Mißtrauen. Dazu kam noch, daß wachend und schlafend mir das Bild Geronimos vorschwebte; auch du, auch du, sprach es in mir, kannst eines solchen Todes sterben, verlassen vom Glauben, der ein Spielzeug deiner Feigheit war, haltlos herumgezerrt zwischen Wahrheit und Heuchelei. Ich verkaufte all meine Güter, und machte mich nicht ohne große Gefahr – denn ihr wißt, daß niemand ohne besondere Erlaubnis des Königs Spanien verlassen darf – mit Gottes Hilfe davon. Ich schickte meine Kinder auf verschiedenen Umwegen voraus; sie sind aber in Leiden geblieben. Wenn Gott mir das Leben erhält, bringe ich sie nächste Woche hieher, Wollt' ich noch alles erzählen, was ich ausgestanden, bis ich hieher gekommen, es währte bis zum nächsten Morgen, und ich hätte noch nicht den zehnten Teil berichtet; aber es ist schon spät und wir bleiben ja, will's Gott, länger beieinander,«

»Ja, die Lichter sind auch schon ganz herabgebrannt, und morgen ist der sechste Jiar, da müssen wir früh heraus, darum wollen wir in Gottes Namen zu Bette gehen.« So sprach der Vater und Alles schied.

So behaglich anmutend ein jüdisches Haus am Freitagabend in den Stunden festlichen Beisammenseins ist, ebenso mit wundersamen Schauern erfüllt ist die Zeit der Trennung. Die sieben Lichter brennen still aus in der leergewordenen Wohnstube, und es ist eine seltsame Empfindung, wenn man sich dorthin denkt, wo ein Licht nach dem andern erlischt; denn das Gesetz verbietet, am Sabbat ein Licht auszulöschen oder eines anzuzünden und in die Hand zu nehmen.

In dem Eckhause auf dem Burgwall ging ein jedes im Dunkel nach seiner Ruhestätte und jedem folgten die Schreckbilder aus der Erzählung des Gastfreundes.

Die alte Chaje schlief schon lange und träumte eben von der Hochzeit Miriams und wie sie selbst eine so wichtige Rolle dabei spielte, als ihre Stubengenossin Miriam eintrat und sie durch Rufen und Rütteln weckte. »Was ist? was ist?« fuhr Chaje auf, sich die Augen reibend.

»Du schnarchst so sehr und schwatzest aus dem Schlaf, daß ich entsetzlich Angst bekommen habe,« antwortete Miriam; im Grunde war es aber noch eine andere Furcht, die sie zur Ruhestörerin machte: im undurchdringlichen Dunkel glaubte sie jeden Augenblick das Gespenst ihres Oheims zu sich heranschleichen zu sehen, und sie wollte durch Reden ihre Angst verscheuchen. Chaje erzählte nun ihren Traum, und wie es schade gewesen sei, daß sie geweckt wurde, der Mund wässere ihr noch von den vielen guten Speisen, die sie bei der Hochzeit genossen, sie sei obenan gesessen neben dem Bräutigam, mit ihrer goldenen Kette und ihrem rotseidenen Kleid; »ja lach nur,« sagte sie, »was einem in der Freitagnacht träumt, wird so gewiß bald wahr, so gewiß als jetzt Sabbat über der ganzen Welt ist.«

Miriam war froh, Chaje so redselig zu finden, ihre Gespensterfurcht begann zu weichen. »Wie hat denn mein Bräutigam ausgesehen?« fragte sie, als sie sich eben entkleidet hatte und sich in den Kissen zusammenhuschte. Das wußte Chaje leider nicht mehr, aber was für Kleider er anhatte, und was er mit ihr sprach, und was alle Gäste gesprochen hatten, das erzählte sie alles haarklein. Sie sprach noch, als Miriam schon längst schlief. Es konnten nicht Gespenster gewesen sein, von denen sie geträumt, denn als sie am anderen Morgen erwachte, zog sie schnell die Bettdecke über ihren Busen, schloß die Augen nochmals und versuchte es, weiter zu träumen.

Nicht so heiter war Baruch erwacht. Auch er war mit laut pochendem Herzen in sein finsteres Schlafzimmer gegangen, nicht das Gespenst seines Oheims war ihm hier in der Dunkelheit erschienen, und doch stand er vor ihm in Gedanken: ein unwandelnder Geist erfüllte ihn mit tiefem Schrecken und beklemmte seine Brust. Mit lauter Stimme und aus der Tiefe seiner Seele sprach Baruch das Nachtgebet, einen besonderen Nachdruck legte er auf die Beschwörungsformel, die er dreimal wiederholte: Im Namen Adonajs (Jehovahs), des Gottes Israels, mir zu Rechten Michael, mir zur Linken Gabriel, vor mir Uriel, hinter mir Raphael und mir zu Häupten Schechinath-El (der heilige Geist Gottes). – Er verbarg sein Angesicht in den Kissen, drückte die Augen fest zu, aber lange wollte kein Schlaf sie fesseln; zu mächtig wogte es noch in seinem Innern. Er war erst wenige Stunden eingeschlafen, als ihn sein Vater aus einem fieberhaften Traume weckte, denn es war Zeit, in die Synagoge zu gehen.

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