50.

Suche weniger selbst zu glänzen als andern Gelegenheit zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen willst. Ich habe den Ruf eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde gegangen war und in welcher ich nichts getan hatte, als mit exemplarischer Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn anzuhören, oder hie und da einen Mann auf ein Fach zu bringen, wovon er gern redete. Wie mancher besucht mich mit der demütigen Ankündigung: (wobei ich mich oft nicht des Lachens erwehren kann) er komme, um mir als einem gewaltigen Gelehrten und Schriftsteller seine Ehrerbietung zu bezeugen; der Mann setzt sich dann hin und fängt an zu reden, läßt mich, den er bewundern will, gar nicht zu Worte kommen, und geht, entzückt über meine lehrreiche und angenehme Unterhaltung, zu welcher ich nicht zwanzig Worte geliefert habe, von mir, höchst vergnügt, daß ich Verstand genug gehabt habe – ihm zuzuhören. Habe Geduld mit allen Schwächen dieser Art! Wenn daher auch jemand ein Geschichtchen oder sonst etwas vorbringt, das er gern erzählt, und Du hättest es auch schon mehr gehört und es wäre vielleicht ein Märchen, das Du selbst ihm einst mitgeteilt hättest, so laß es ihn doch nicht auf unangenehme Weise merken, daß die Sache Dir alt und langweilig ist, wenn die Person anders Schonung verdient. Was kann unschuldiger sein, als solche Ausleerungen zu befördern, wenn man dadurch andern Erleichterung und sich einen guten Ruf verschafft? Und wenn die Leute unschuldige Liebhabereien haben, z. B. gern von Pferden reden, es gern sehen, daß man eine Pfeife Tabak mit ihnen raucht, ein Glas Wein mit ihnen trinkt, so erzeige man ihnen diese kleine Gefälligkeit, wenn es ohne große Ungemächlichkeit und ohne Falschheit geschehn kann. Desfalls habe ich nie die Gewohnheit der Hofleute von gemeinerm Schlage gut finden können, die jedermann nur mit halbem Ohre und zerstreuter Miene anhören, ja gar mitten in einer Rede, die sie veranlaßt haben, einfallen, ohne das Ende abzuwarten.

51.

Übrigens aber rate ich auch an, um seiner selbst und um andrer willen ja nicht zu glauben, es sei irgendeine Gesellschaft so ganz schlecht, das Gespräch irgendeines Mannes so ganz unbedeutend, daß man nicht daraus irgend etwas lernen, irgendeine neue Erfahrung, irgendeinen Stoff zum Nachdenken sammeln könnte. Aber man soll nicht aller Orten Gelehrsamkeit, feine Kultur fordern, sondern gesunden Hausverstand und geraden Sinn begünstigen, vorziehn und reden und wirken lassen, sich auch unter Menschen von allerlei Ständen mischen; so lernt man zugleich nach und nach den Ton und die Stimmung annehmen, die nach Zeit und Umständen erfordert werden.

52.

Mit wem aber soll man am mehrsten umgehn? Natürlicherweise läßt sich auch diese Frage nur nach eines jeden besondern Lage beantworten. Hat man die Wahl (und wirklich hat man diese doch öfter, als man glaubt), so wähle man sich die Weisern zu seinem Umgange, Leute, von denen man lernen kann, die uns nicht schmeicheln, die uns übersehen; allein gewöhnlich gefällt es uns besser, einen Zirkel untergeordneter Geister um uns her zu versammeln, die in Kreisen tanzen, so oft unser hoher Genius seine Zauberrute schwingt. Wir bleiben indessen dadurch immer, wie wir waren, kommen nie weiter in Weisheit und Tugend. Es gibt zwar Lagen, in welchen es nützlich und lehrreich, sich unter Menschen von allerlei Fähigkeiten zu mischen, ja wo es auch Pflicht ist, nicht bloß mit Leuten umzugehn, von denen wir, sondern auch mit solchen, die von uns lernen können, und die ein Recht haben, dies zu fordern; diese Gefälligkeit aber darf nie so weit gehn, daß die Rechenschaft, die wir einstens von unsrer goldenen Zeit und von der Obliegenheit, uns zu vervollkommnen, geben sollen, dabei Gefahr laufe.

53.

Es ist oft eine höchst sonderbare Sache um den Ton, der in Gesellschaften herrscht. Vorurteil, Eitelkeit, Schlendrian, Autorität, Nachahmungssucht und wer weiß, was sonst noch stimmen diesen Ton so, daß zuweilen Menschen, die an einem Orte zusammen leben, jahraus, jahrein, sich auf eine Weise versammeln, unterhalten, Dinge miteinander treiben und über Gegenstände reden, die allen zusammen und jedem einzelnen unendliche Langeweile machen. Dennoch glauben sie, sich den Zwang antun zu müssen, diese Lebensart also fortzuführen. Gewährt wohl die Unterhaltung in den mehrsten großen Zirkeln einem einzigen von den da Versammelten wahres Vergnügen? Spielen unter fünfzig Personen, die jeden Abend die Karten in die Hand nehmen, wohl zehn aus wahrer Neigung? Um desto erbärmlicher ist es, wenn freie Menschen in kleinern Orten oder gar auf Dörfern, die zwanglos leben könnten, um den Ton der Residenzen nachzuahmen, sich ebenso peinlich unter das Joch dieser Langenweile krümmen. Hat man Gewicht bei seinen Mitbürgern und Nachbarn, so ist es Pflicht, alles dazu beizutragen, den Ton vernünftiger zu stimmen. Ist das aber nicht der Fall, und man gerät einzeln in einen solchen Zirkel, so vermehre man nicht durch ein schiefes oder stummes mürrisches Betragen der Anwesenden und des Hauswirts Verlegenheit, es voreinander zu verbergen, daß sie sich sämtlich weit von da weg wünschten, sondern man zeige sich vielmehr als einen Meister in der Kunst, viel zu reden, ohne etwas zu sagen, und mache sich wenigstens das Verdienst, den Raum auszufüllen, wovon außerdem gewöhnlich die Verleumdung Besitz nimmt.

In volksreichen, großen Städten kann man am allerunbemerktesten und ganz nach seiner Neigung leben; da fallen eine Menge kleiner Rücksichten weg; man wird nicht ausgespähet, kontrolliert, beobachtet; es laufen nicht so aus Mund in Mund die interessanten Nachrichten: wievielmal in der Woche ich Braten esse, ob ich oft oder selten ausgehe und wohin; wer zu mir kommt, wie stark der Lohn ist, den ich meiner Köchin gebe, und ob ich kürzlich mit ihr geschmält habe? Meine Kleidung wird nicht gemustert; man fragt nicht in jedem Kramerhause meine Magd, wenn sie für vier Pfennige Pfeffer holt, für wen der Pfeffer ist und wozu der Pfeffer gebraucht werden soll? Eine unbedeutende Anekdote beschäftigt da nicht sechs Wochen lang alle Zungen; man wandelt unbemerkt, friedenvoll und ungeneckt durch den großen Haufen hin, besorgt seine Geschäfte und wählt sich eine Lebensart, wie man sie für zweckmäßig hält. In kleinen Städten ist man verurteilt, mit einer Anzahl oft sehr langweiliger Magnaten in strenger Abrechnung von Besuchen und Gegenbesuchen zu stehn, die gewöhnlich gleich nach dem Mittagstische ihren Anfang nehmen und bis zu der Bürgerglocke, das heißt bis zehn Uhr abends fortdauern, während welcher Zeit die Unterhaltung gewöhnlich den König von Preußen, den Kaiser, andre hohe Potentaten, und was der Reichspostreuter von ihnen meldet, zum Gegenstande hat. Das ist nun freilich erschrecklich; doch gibt es auch Mittel, dort den Ton des Umgangs nach und nach zu verfeinern oder das schwache Publikum daran zu gewöhnen, nachdem es ein vierter Jahr hindurch über uns gelästert hat, uns endlich auf unsre Weise leben zu lassen, wenn man sich übrigens redlich, menschenfreundlich, dienstfertig und gesellig beträgt. Am übelsten aber pflegt man in den mittlern Städten daran zu sein, sowohl in den Reichsstädten der geringem Klasse, als in unbeträchtlichen Residenzen. Da herrschen gewöhnlich, neben einem übertriebenen Luxus und solchen sittlichen Verderbnissen, die mit der Korruption in den größten Städten wetteifern, noch obendrein alle Gebrechen kleiner Städte, Klatschereien, Anhänglichkeit an Schlendrian, an Gewohnheiten und Familienverbindungen, die abgeschmacktesten Forderungen und die lächerlichste Klassifizierung der Stände. So habe ich eine Stadt gesehn, in welcher ein Mann durch seine kürzlich erhaltene Bedienung, die ehemals dort nicht existiert hatte, so sehr von allen übrigen einmal bestimmten Rangordnungen abgesondert war, daß er wie ein Elefant in einer Menagerie immer für sich allein spazierengehn mußte, ohne seinesgleichen, weder einen Gesellschafter, noch eine Gefährtin finden zu können. Vielleicht bin ich parteiisch für meine liebe Vaterstadt, aber ich glaube (und auch andre einsichtsvollere Männer lassen ihr diese Gerechtigkeit widerfahren), daß, obgleich Hannover nicht zu den größten Städten in Deutschland gehört, man dennoch hier so frei und unbemerkt leben könne als irgendwo. Vermutlich hat unsre Verbindung mit England, wo manche Vorurteile von der Art verachtet werden, hierzu viel beigetragen. Da nun aber in den wenigsten Städten von Deutschland diese glückliche Stimmung angetroffen wird, so muß man lernen, sich nach den herrschenden Sitten zu richten, und nichts kann unvernünftiger und für den Eiferer selbst von nachteiligem Folgen sein, als wenn ein einzelner, der nicht besonders in Ansehen steht, auftreten und seine Vaterstadt reformieren will. Nirgends kommt indessen ein solcher Deklamator übler an als in den Reichsstädten, wo alte Sitte und Schlendrian innig verwebt sind in die Regierungsform und in alle übrigen Verhältnisse. Dort kann zuweilen der bloße Schnitt eines Rocks oder ein bißchen mehr oder weniger Gold darauf, wodurch ein Kaufmann sich von seinen Mitbrüdern unterscheidet, ihn um seinen Kredit bringen, und eine Perücke im richtigen Kostüm, die über einen leeren Hirnkasten gehängt wird, bei der Ratsherrnwahl den Sieg über ein eigenes Haar, das einen feinen Kopf deckt, davontragen.

In Dörfern und auf seinem Landgute lebt man in der Tat am ungezwungensten, und für jemand, der Lust hat, sich zu beschäftigen und zum besten andrer etwas beizutragen, findet sich da mannigfaltige Gelegenheit, indem man an dem nützlichsten, zu sehr niedergedrückten und vernachlässigten Stande zum Wohltäter werden kann; allein die geselligen Freuden sind auf dem Lande nicht so leicht zu verschaffen. In Augenblicken, wo man gerade Bedürfnis fühlt, seine Arme nach einem treuen Freunde auszustrecken, ist dieser Freund vielleicht Meilen weit von uns entfernt; man müßte denn reich genug sein, einen ganzen Hofstaat von Freunden um sich her zu versammeln, aber auch das hat seine üble Seite, und sehr reiche Leute fühlen ja ohnehin selten dies Bedürfnis. Um also hier glücklich und vergnügt leben zu können, ohne so sehr wohlhabend zu sein, soll man die Kunst verstehn, das Gute aus dem Umgange der Menschen, die man grade bei sich haben kann, zu schmecken und zu erkennen, der einfachen Freuden nicht müde zu werden, damit zu geizen, und ihnen auf erfindungsreiche Art Mannigfaltigkeit zu geben. Weil man auf dem Lande seine Frau, seine Kinder und seine Hausfreunde vom Morgen bis zum Abend ununterbrochen um sich zu sehn pflegt, so entsteht leicht Überdruß, Leere im Umgange. Dies kann durch einen Vorrat guter Bücher, die neuen Stoff zur Unterhaltung geben, durch interessanten Briefwechsel mit abwesenden Edeln und durch weise Einteilung der Zeit, indem man manche Tagesfristen einzeln in seinen Zimmern zubringt, gehoben werden, und nichts ist süßer auf dem Lande, als wenn, nach einem nützlich verlebten Tage, wo jeder für sich seine Geschäfte besorgt hat, des Abends sich der kleine Zirkel zum Spaziergange, muntern Scherze und zwanglosen Gespräche wieder versammelt. Es gibt selbst Prinzen, die diesen Genuß kennen, und ich habe noch vor nicht gar langer Zeit am Fuße der vogesischen Gebirge einige Wochen an dem Hofe eines guten und klugen Fürsten auf diese Art sehr glücklich hingebracht.

Nichts aber ist erschrecklicher und doch häufiger zu finden, als wenn Menschen, die in kleinen Städten oder gar auf dem platten Lande täglich miteinander umgehn müssen, in ewigem Zwiste miteinander leben, und dabei doch nicht reich genug sind, sich jeder für sich eine besondre Existenz zu schaffen. Sie bauen sich eine Hölle auf Erden. Nirgends also ist es so wichtig als hier, schonend, nachsichtig, geschmeidig, vorsichtig, klug und mit einer Art von Koketterie im Umgange zu verfahren, um Mißverständnissen, Ekel und Überdrusse vorzubauen.

54.

In fremden Städten und Ländern ist Vorsichtigkeit im Umgange zu empfehlen, und das in manchem Betrachte. Wir mögen nun dort Unterricht und Belehrung, oder ökonomische und politische Vorteile oder bloß Vergnügen suchen, so ist es sehr notwendig, gewisse Rücksichten nicht zu verachten. Im ersten Falle, nämlich wenn wir reisen, um uns zu unterrichten, versteht sich's vor allen Dingen von selbst, daß wir wohl überlegen, in welchem Lande wir sind, und ob man da ohne Gefahr und Verdruß von allem reden und nach allem fragen dürfe. Es gibt leider auch in Deutschland Staaten, in welchen die Regierungen es nicht gern sehen und es scharf ahnden, wenn gewisse Werke der Finsternis an das Tageslicht gezogen werden. Da ist Behutsamkeit nötig, sowohl in Gesprächen und Nachforschungen als in der Wahl der Menschen, mit denen man sich in Verbindung einläßt. Übrigens muß ich auch hier erinnern, daß sehr wenig Reisende eigentlich Beruf haben, sich um die innere Verfassung fremder Länder zu bekümmern; allein törichte Neugier, Vorwitz, unruhiger Tätigkeitstrieb jagt jetzt haufenweise die Menschen hinaus, um in fremden Gasthöfen, Posthäusern, Klubs und in den Schatzkammern hypochondrischer Gelehrter unsichre Anekdoten zu einem Werkchen zu sammeln, indes sich daheim noch unendlich viel für sie zu wirken und zu lernen gefunden haben würde, wenn es ihnen um ihr und andrer Wohl ernstlich zu tun wäre.

Daß diese Vorsicht verdoppelt werden müsse, sobald man an einem fremden Orte für sich etwas zu suchen oder zu fordern hat, versteht sich wohl von selber. Da alsdann manches Auge auf uns gerichtet ist, so müssen wir den Umgang mit Leuten vermeiden, die, unzufrieden mit der Regierung, sich so gern den Fremden an den Hals werfen, weil sie unter ihren Mitbürgern durch unkluge Aufführung sich einen bösen Namen gemacht und sich auf diese Art den Weg versperrt haben, bürgerliche Vorteile zu erlangen, die sie aber zu verachten scheinen, wie der Fuchs die Trauben. Diese Art Leute sucht sich dann dadurch ein bißchen zu heben, daß sie mit den Reisenden, denen sie sich in den Gasthöfen oder auf andre Art aufdrängen, durch die Gassen der Stadt laufen und dadurch Verbindungen in andern Ländern mutmaßen lassen. Ein Fremder, der nur wenig Tage sich an einem Orte aufhalten will, kann ohne Nachteil mit diesen mehrenteils sehr geschwätzigen und von lustigen und ärgerlichen Märchen aller Art vollgepfropften Ciceronis nach Gefallen herumrennen, und kein vernünftiger Mann wird ihm das verdenken; wer aber länger in einer Stadt verweilen, in den bessern Zirkeln Zutritt haben oder gar ein Geschäft zustande bringen will, dem rate ich, in der Auswahl seines Umgangs auch die Stimme des Publikums zu respektieren.

Es gibt fast in jeder Stadt eine Partei solcher Unzufriedener; sei es nun mit der Regierung oder nur mit der Gesellschaft. Zu diesen geselle Dich also nicht. Wähle nicht unter ihnen Deinen Umgang. Diese Malcontenten glauben sich nicht geehrt genug oder sind unruhige Köpfe, Lästermäuler, Menschen voll unvernünftiger Prätensionen, ränkevolle und unsittliche Leute. Da sie nun einer dieser Ursachen wegen von ihren Mitbürgern geflohn werden, so suchen sie unter sich eine Art von Bündnis zu errichten, in welches sie, wenn sie können, verständige und wackre Männer zu ihrer Verstärkung durch Schmeichelei hineinziehen. Laß Dich weder darauf, noch überhaupt auf das ein, was Partei und Faktion genannt werden kann, wenn du mit Annehmlichkeit leben willst.

55.

Verflechte niemand in Deine Privatzwistigkeiten und fordre nicht von denen, mit welchen Du umgehst, daß sie teil an den Uneinigkeiten nehmen sollen, die zwischen Dir und andern herrschen.

56.

Wünschest Du zeitliche Vorteile, Unterstützung, Versorgung im bürgerlichen Leben; möchtest Du in einer Bedienung angestellt werden, in welcher Du Deinem Vaterlande nützlich sein könntest, so mußt Du darum bitten, ja nicht selten betteln. Rechne nicht darauf, daß die Menschen, sie müßten denn Deiner ganz notwendig bedürfen, Dir etwas anbieten oder sich ohngebeten für Dich verwenden werden, wenn auch Deine Taten noch so laut für Dich reden, und jedermann weiß, daß Du Unterstützung bedarfst und verdienst. Jeder sorgt für sich und die Seinigen, ohne sich um den bescheidenen Mann zu bekümmern, der indes nach Gemächlichkeit in seinem Winkelchen seine Talente vergraben oder gar verhungern kann. Darum bleibt so mancher Verdienstvolle bis an seinen Tod unerkannt, außerstand gesetzt, seinen Mitbürgern nützlich zu werden – weil er nicht betteln, nicht kriechen kann.

57.

Wenn ich gesagt habe, daß man lieber allen geben, als von irgend jemand empfangen solle, so hebt das den Satz nicht auf, daß man nicht gar zu viel für andre tun dürfe. Überhaupt sei dienstfertig, aber nicht zudringlich. Sei nicht jedermanns Freund und Vertrauter. Vor allen Dingen bessere und demoralisiere die Menschen nicht, rate ihnen nicht ohne entschiedenen Beruf dazu. Die wenigsten wissen Dir Dank dafür, und selbst wenn sie uns um Rat fragen, sind sie gewöhnlich schon entschlossen zu tun, was ihnen gefällt. Man belästige nicht seine Bekannten mit kleinen, unwichtigen Aufträgen, z. B. etwas für uns einzukaufen u. dgl., wenn man auf andre Weise Rat schaffen kann. Auch suche man sich von ähnlichen Besorgungen loszumachen. Gewöhnlich büßt man Zeit und Geld dabei ein und erntet dennoch selten Dank und Zufriedenheit. Mische Dich auch nicht in Familienhändel. Ich bin ein paarmal mit der besten Absicht sehr übel dabei gefahren. Vor allen Dingen hüte Dich, Zwistigkeiten schlichten und Versöhnungen stiften zu wollen. (Es sei denn unter geliebten, geprüften Personen.) Mehrenteils werden beide Parteien einig, um über dich herzufallen. Das Kuppeln und Heiratenschmieden überlasse man dem Himmel und einer gewissen Klasse von alten Weibern.

58.

Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden, sondern nach dem, was sie tun. Aber wähle zu Deinen Beobachtungen solche Augenblicke, in welchen sie von Dir unbemerkt zu sein glauben. Richte Deine Achtsamkeit auf die kleinen Züge, nicht auf die Haupthandlungen, zu denen jeder sich in seinen Staatsrock steckt. Gib acht auf die Laune, die ein gesunder Mann beim Erwachen vom Schlafe, auf die Stimmung, die er hat, wenn er des Morgens, wo Leib und Seele im Nachtkleide erscheinen, aus dem Schlafe geweckt wird, auf das, was er vorzüglich gern ißt und trinkt: ob sehr materielle, einfache oder sehr feine, gewürzte, zusammengesetzte Speisen; auf seinen Gang und Anstand; ob er lieber allein seinen Weg geht oder sich immer an eines andern Arm hängt; ob er in einer graden Linie fortschreiten kann oder seines Nebengängers Weg durchkreuzt, oft an andre stößt und ihnen auf die Füße tritt; ob er durchaus keinen Schritt allein tun, sondern stets Gesellschaft haben, immer sich an andre anschließen, auch um die geringsten Kleinigkeiten erst Rat fragen, sich erkundigen will, wie es sein Nachbar, sein Kollege macht; ob, wenn er etwas fallen läßt, er es sogleich wieder aufnimmt, oder es da liegen läßt, bis er gelegentlich, nach seiner Gemächlichkeit, einmal hinreicht, um es aufzuheben; ob er gern andern in die Rede fällt, niemand zu Worte kommen läßt; ob er gern geheimnisvoll tut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen gemeine Dinge in das Ohr zu sagen; ob er gern in allem entscheidet und so ferner. – Fasse alle diese Wahrnehmungen zusammen, nur sei nicht so unbillig, nach einzelnen solchen Zügen den ganzen Charakter zu richten.

Sei nicht zu parteiisch für Menschen, die Dir freundlicher begegnen als andre.

Baue nicht eher fest auf treue, immer Stich haltende Liebe und Freundschaft, als bis Du erst solche Proben gesehn hast, die Aufopferung kosten. Die mehrsten Menschen, die uns so herzlich ergeben scheinen, treten zurück, sobald es darauf ankommt, ihren Lieblingsneigungen zu unserm Vorteile zu entsagen. Darauf ist also Rücksicht zu nehmen, wenn man wissen will, was ein Mensch uns wert ist. Es ist keine Kunst, alles zu leisten, was man nur wünschen mag, das einzige ausgenommen, was Überwindung kostet.

59.

Wenn Du in einer Gesellschaft von einem der Anwesenden mit Deinem Freunde reden willst (obgleich dies und das In-das-Ohr-Flüstern überhaupt unanständig ist), so gebrauche wenigstens die Vorsicht und Schonung, die Person, von welcher Du redest, nicht dabei anzusehn. Und ist Dir daran gelegen, etwas zu hören, das in einiger Entfernung von Dir gesprochen wird, so wende auch Deine Blicke nicht dahin. Man wird sonst aufmerksam auf Dich und man hört ja auch nur mit den Ohren, nicht mit den Augen.

60.

Alle diese allgemeinen, sodann die folgenden besondern Regeln nun, und viel mehrere noch, die ich, um mein Werk nicht über Gebühr auszudehnen, der eigenen Einsicht der Leser überlasse, zielen dahin, den Umgang leicht, angenehm zu machen und das gesellige Leben zu erleichtern. Es kann aber mancher seine besondern Gründe haben, warum er sich über einige derselben hinaussetzen will, und da ist es denn freilich sehr billig, jedem zu erlauben, auf seine eigene Art seine Ruhe zu befördern. Drängen wir niemand unsre Spezifika auf. Wer weder Gunst der Großen sucht, noch allgemeines Lob, noch glänzenden Ruhm, noch Beifall verlangt; wer seiner politischen und ökonomischen Lage oder andrer Rücksichten wegen nicht Ursache hat, den Zirkel seiner Bekanntschaft zu erweitern; wer Alters oder Schwächlichkeit halber den menschlichen Umgang flieht, der bedarf keiner Regeln des Umgangs. Wir sollen daher so billig sein, von niemand zu fordern, daß er sich nach unsern Sitten richte, sondern jedermann seinen Gang gehn lassen; denn da jedes Menschen Glückseligkeit in seinen Begriffen von Glückseligkeit beruht, so ist es grausam, irgendeinen zwingen zu wollen, wider seinen Willen glücklich zu sein. Es ist oft lustig anzusehn, wie ein Haufen leerer Köpfe sich über einen sehr verständigen Mann aufhält, der grade keinen Beruf fühlt oder nicht aufgelegt ist, den Ton ihrer Gesellschaft anzunehmen, sondern mit seiner abgesonderten Existenz sehr wohl zufrieden, seine teure Zeit nicht jedem Narren preisgeben will. Wenn wir nicht grade Sklaven der Gesellschaft sein wollen, so nehmen das die müßigen Leute, die nichts Bessers zu tun wissen, als aus dem Bette vor den Spiegel, von da an Tafel, von da an den Spieltisch, von da wieder an Tafel und von da endlich in das Bett zu wandern, sehr übel, daß wir nicht wie sie leben, der Geselligkeit nicht höhere Pflichten aufopfern wollen – das ist eine Unart, deren man sich enthalten soll. Es heißt nicht, sich absondern, wenn man zu Hause bleibt, um zu tun, was man tun soll, wovon man Rechenschaft geben muß.

61.

Von Deinen Grundsätzen gehe nie ab, solange Du sie als richtig anerkennst! Ausnahmen zu machen, das ist sehr gefährlich und führt immer weiter, vom Kleinen zum Großen. Hast Du Dir also einmal aus guten Gründen vorgenommen, keine Bücher zu verleihn, keinen Wein zu trinken u. dgl., so müsse Dich Dein eigener Vater nicht bewegen können, davon abzugehn. Sei fest; aber hüte Dich, nicht so leicht etwas zum Grundsatze zu machen, bevor Du alle möglichen Fälle überlegt hast, oder eigensinnig auf Kleinigkeiten zu bestehn.

Vor allen Dingen also handle nur stets konsequent. Mache Dir einen Lebensplan und weiche nicht um ein Tüttelchen von diesem Plane. Hätte dieser Plan auch allerlei Sonderbarkeiten – die Menschen werden eine Zeitlang die Köpfe darüber zusammenstecken und am Ende schweigen, Dich in Ruhe lassen und Dir ihre Hochachtung nicht versagen können. Man gewinnt überhaupt immer durch Ausdauern und planmäßige, weise Festigkeit. Es ist mit Grundsätzen wie mit jeden andern Stoffen, woraus etwas gemacht wird, nämlich daß der beste Beweis für ihre Güte der ist, wenn sie lange halten, und in der Tat, wenn man recht genau den Gründen nachspüren will, warum auch den edelsten Handlungen mancher Menschen nicht Gerechtigkeit widerfährt, so wird man oft finden, daß das Publikum deswegen Verdacht gegen die Wahrheit und den Zweck dieser Handlungen gefaßt hat, weil sie nicht in das System des Mannes, der sie begeht, weil sie nicht zu seinen übrigen Schritten zu passen scheinen.

62.

Was aber noch heiliger als jene Vorschrift ist – habe immer ein gutes Gewissen! Bei keinem Deiner Schritte müsse Dir Dein Herz über Absicht und Mittel Vorwürfe machen dürfen. Gehe nie schiefe Wege und baue dann sicher auf gute Folgen, auf Gottes Beistand und auf Menschenhilfe in der Not. Und verfolgt Dich auch wohl eine Zeitlang ein widriges Geschick – o, so wird doch die selige Überzeugung von der Unschuld Deines Herzens, von der Redlichkeit Deiner Absichten Dir ungewöhnliche Kraft und Heiterkeit geben; Dein kummervolles Antlitz wird im Umgange mehr, weit mehr Interesse erwecken als die Fratze des lächelnden, grinsenden, glücklich scheinenden Bösewichts.

63.

Und nun weiter zu den besondern Umgangsregeln – doch vorher noch eine Erinnerung. Wenn ich allein, oder auch nur vorzüglich, für Frauenzimmer schriebe, so würde ich eine Menge der schon gegebenen und noch folgenden Vorschriften teils gänzlich übergehn, teils modifizieren, teils andre an deren Stelle setzen müssen, die alsdann für Männer weniger brauchbar wären. Das ist indessen nicht der Zweck meines Buchs. Weise Frauenzimmer allein können den Personen ihres Geschlechts die besten Lehren über ihr Betragen im gesellschaftlichen Leben erteilen; das ist eine Arbeit, die Männern nicht gelingen würde. Findet jedoch das schöne Geschlecht auch etwas für sich Brauchbares in diesen Blättern, so wird das meine Zufriedenheit über mein eigenes Werk sehr vermehren. Übrigens haben Frauenzimmer in ihrem Umgange in der Tat Rücksichten zu nehmen, die bei uns gänzlich wegfallen. Sie hängen viel mehr vom äußern Rufe ab, dürfen nicht so zuvorkommend sein. Man verzeiht ihnen von einer Seite weniger Unvorsichtigkeiten und von der andern mehr Launen; ihre Schritte werden früher wichtig für sie, indes dem Knaben und Jüngling manche Unvorsichtigkeit verziehn wird; ihre Existenz schränkt sich ein auf den häuslichen Zirkel, dahingegen des Mannes Lage ihn eigentlich fester an den Staat, an die große bürgerliche Gesellschaft knüpft; deswegen gibt es Tugenden und Laster, Handlungen und Unterlassungen, die bei einem Geschlechte von ganz andern Folgen sind als bei dem andern. – Doch über dies alles ist den Damen so viel Gutes in andern Büchern gesagt worden, daß jede weitere Ausführung dieses Gegenstandes hier am unrechten Orte stehn würde.

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