Klaus Hemmerle über Menschlichkeit

  • Mach es wie Gott, werde Mensch!

Klaus Hemmerle

deutscher Theologe

1975 wurde er Bischof von Aachen

* 03.04.1929 Freiburg im Breisgau
† 23.01.1994 Aachen

Gedanken zum Zitat

»Mach´s wie Gott, werde Mensch!« ermuntert eine Weihnachtskarte. Wer sich diesen Glückwunsch ausdachte, hat den Geist des Christentums erfasst. Wieso aber? Menschen sind wir doch schon - wie sollen wir es werden? Sind wir es wirklich? In einem Zoo hängt am Affenhaus ein Schild: »Das langgesuchte Zwischenglied zwischen Affe und Mensch - bist du!« Widerspricht der spöttische Bescheid der Bibel? Nein. Gott schafft den Menschen aus dem Staub der Erde: Das ist nichts Vergangenes, es geschieht jetzt, jeden Tag. Der Ur-Anfang, von dem wir in der Bibel lesen, war nicht irgendwann in der Zeit, ereignet sich vielmehr immer wieder im Ursprung jeder Zeit. Auch jetzt und in der kommenden Woche soll aus dem geformten Staub der Erde, der dich bildet, ein beseelter Mensch werden, ein Adam oder eine Eva nach dem Herzen des Schöpfers, entsprechend seiner Idee, wie sie sich an Weihnachten schon verwirklicht hat in jenem Kind, von dem es später heißen wird: »Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe« (Matthäus 3,17).

An Jesus als göttliches Vorbild und innere Energie unserer eigenen Menschwerdung glauben, ihn nachleben und vergegenwärtigen: das ist der beglückende Lebenssinn der Christen. »Werde Mensch!« allein, das ist zu wenig. Denn was heißt Mensch? Menschen waren auch die Massenmörder unseres Jahrhunderts, mehr noch: sie wollten den neuen, den eigentlichen Menschen schaffen. Aber der rücksichtslose Herrenmensch der Nazis wie der selbstlose Hordenmensch der Kommunisten, beide waren sie nicht der Neue Mensch, nur besonders schlimm misslungene Formen des Unmenschen. Weder Wolfsmenschen noch Ameisenmenschen sollen wir werden. Wo zeigt sich der menschliche Mensch?

Fern sei es uns, fremde Glaubensweisen zu verachten. Mit welchem Recht, zum Beispiel, von den Buddhisten Buddha verehrt wird, das ist nicht unsere Frage. Zeigt ein Vater jedem Kind das gleiche Gesicht? Einen Schlüssel muss man dort suchen, wo er verloren ging; ob es unter einer fremden Laterne vielleicht auch hell ist, spielt keine Rolle. Der Mensch hat einen Ort; alle, die in Jesu Lichtkreis gerufen sind, finden in jenem Weihnachtsspruch den Schlüssel zum Leben: Mach´s wie Gott, werde Mensch! Wer gläubig die Evangelien liest, ihm zeigt sich auf jeder Seite ein anderer Zug des menschlichen Menschen; über einen davon wollen wir miteinander nachdenken: Jesu Missachtung der strengen Trennwände zwischen den Gruppen, seine brüderliche Offenheit für jeden Menschen. Ein südamerikanischer Jesuit beschreibt sie so:

»Jesus gehörte nicht der Priesterschaft an, war auch nicht abgesondert wie die Pharisäer, sondern ein normaler Mann aus dem Volk; er stellte den Menschen über den Sabbat, aß zusammen mit Ungläubigen und Sündern, fasste Aussätzige an, woraufhin er nach dem Gesetz unrein wurde, wusch sich nicht vor den Mahlzeiten, erklärte alle Speisen für rein, diskriminierte die Frau nicht und untergrub das ganze System von Verboten, indem er erklärte, das einzige, was den Menschen verunreinige, sei das Böse, das aus seinem Herzen stamme.« [Pedro Trigo, Schöpfung und Geschichte (D 1989), 276 f.]

Solche menschenfreundliche Unbefangenheit müssen wir von Jesus lernen, nur dann können wir als Christen in dieser geistig so zerklüfteten Zeit gern und friedlich leben. Wie hätte jemand wie Jesus sich in dieser Situation verhalten? So zu fragen ist zwar gefährlich, kann aus Hochmut stammen, riecht nach Auserwähltheitsdünkel. Und doch dürfen Christen sich vor dieser Gefahr nicht fürchten. »Folgt mir nach,« der Ruf Jesu an seine Jünger tönt durch jede Zeit seither, und wen er trifft, dem gilt er auch! Dass wir nicht Jesus sind, merken wir schnell, sobald wir uns auch nur einen winzigen Schritt auf seinen Weg trauen; in Christus aber spüren auch die Geringeren der Seinen etwas von seiner hochgespannten Energie. Mach´s wie Gott, werde Mitmensch!

Wie hätte sich, zum Beispiel, Jesus neulich verhalten, als ein Christ seinen Freund besuchte, einen jener liebenswürdigen Menschen, die sich selber »ungläubig« nennen, mehr bescheiden als auftrumpfend, eher wehmütig als militant? Stellen Sie sich die Szene vor: Zwei Männer sitzen vor einem Bücherschrank, der Zweifler zeigt dem Gläubigen Werke, die ihn geprägt haben: Eine Menge Psychologisches gegensätzlicher Richtungen, stoische wie moderne Weltentwürfe einer neben dem anderen, jede Gesamtschau interessant und wohlbegründet - was ergeben sie aber zusammen? Nichts als heillosen Ideenlärm, einen böse gurgelnden Pluralismus-Sumpf, in dessen Strudel das orientierungshungrige Herz hilflos versinkt.

Was tun? Hätte der Besucher seinem Freund jetzt das christliche Credo aufsagen sollen? Er wäre zu spät gekommen. Natürlich befand sich unter den Büchern auch die Bibel, sogar jener radikale Kommentar, den der junge reformierte Pfarrer Karl Barth anfangs der zwanziger Jahre zum Römerbrief veröffentlicht hat: die wuchtigste Betonung der protestantischen Wahrheit, die man sich denken kann. Was hätte es da gebracht, eine der Ansichten nachzuplappern, die miteinander eben das Problem sind? Was hätte Jesus getan, er der nicht geschrieben hat außer mit dem Finger in den Sand, damals als sie die Ehebrecherin vor ihn brachten, wie hätte er sich verhalten?

Ach, so gestellt, erlaubt die Frage keine Antwort, so wenig eine Quelle uns sagen kann, wie sie sich zweitausend Kilometer flussabwärts mitten im riesigen Strom ausnähme. Gemeint ist eine andere Frage: Wie willst Du, ewig lebendiger Herr, heute durch mich hier handeln? Was kann ich in Deinem Namen meinem bücherverwirrten Freunde sagen und zugleich mir selbst? Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben, der vor lauter schlauen Worten um sich her ganz dumm und ratlos ist. Wie bewährt sich Deine Menschenfreundlichkeit mitten im Gewoge der Meinungsflut am Ende unseres stürmischen Jahrtausends?

Ich stelle mir vor: Nachdem dieses Gebet im Herzen des Besuchers aufgestiegen ist, legt er alle ihm gezeigten Bücher auf einen Haufen, stellt den auf die Seite, schaut den Freund an und sagt: Lass die Bücher. Nichts gegen sie, jedes hat bestimmt seinen Wert. Aber sie machen es nicht. Wie soll jemand, der dich überhaupt nicht kennt, das Rätsel deines Lebens lösen? Jene Schreiber haben es gut gemeint, von dir aber haben sie allesamt nichts gewusst. Ich dagegen kenne dich ein bisschen; erlaube mir deshalb, dass ich dir meine persönliche Antwort mitteile. Wie du weißt, ist es eine christliche, kein abgestandener Kaffee aber, ich vermute, du kennst sie noch nicht. Wenn du kannst, vergiss alle üblen Erinnerungen an den Religionsunterricht und schau nicht auf das Bild, das die Kirche in den Medien abgibt. Nicht um ein Kirchenglas geht es uns jetzt, Christenwein will ich dir einschenken. Er schmeckt ungefähr so:

»Mit dem Himmelreich ist es wie bei einem Netz« (Matthäus 13,47). Du bist durch ein unzerreißbares Freundschaftsnetz mit dem Menschen verbunden, der das Ganze letztlich im Griff hat. Denn ich möchte, wenn das Große Erwachen mich aus dem Lebenstraum in die volle Klarheit reißen wird, nicht ohne dich sein; wie könnte diese Szene jetzt in meinem Leben DANN fehlen, wenn seine Bruchstücke sich zur Ganzheit zusammenfinden? Nein: Dein Lächeln gehört zu meinem Ewigen Leben. Auf Es hoffe ich, weil einige meiner Freunde, denen ich den christlichen Glauben verdanke, nicht ohne mich sein wollen. Auch sie waren einmal jung, hingen begeistert am Munde von Älteren, die ihnen die Geschichte von Jesus, seinem Opfertod und seiner wunderbaren Auferstehung erzählten. So reicht das feste Netz aus Freundschaft und Glauben durch fast schon zwanzig Jahrhunderte zurück bis zu seinem Beginn in jenen Monaten damals in Palästina. Keine Theorie ist das (deshalb stoße ich den Bücherstapel feierlich um), sondern eine wahre Geschichte, und du gehörst mit zu ihr, einfach deshalb, weil ich sie dir jetzt erzähle.

Solltest du darüber gekränkt sein, dass dein Glück von mir abhängen soll, dann kann ich dich mit Jesu Worten beruhigen: »Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde, denn der Vater selbst liebt euch« (Johannes 16,26). Natürlich bist du unmittelbar selbst von Christus gemocht, ein menschlicher Mensch liebt jeden Freund, der ihm so vertraut ist, wie Gott dich von innen kennt. Schau deine Lampe da an, sie ist unmittelbar selber hell, auch wenn zwischen dem Kraftwerk und ihr viele Vermittlungen stattfinden. Wichtig ist, dass sie »am Netz« ist; ähnlich glauben die Christen sich »in Christus«, d.h. erfüllt von der unbesiegbaren Lebensenergie, die seit Ostern in alle Zeiten vorher wie nachher von innen her einstrahlt.

Ob du das alles irgendwann glauben kannst, darauf kommt es gar nicht so an. Mag sein, die Geschichte der Kirche und deiner Seele hat so viele Abgründe aufgerissen, dass der Sprung in den Glauben dir unmöglich ist, dann fällst du als sein Zeuge aus. Nicht aber als Bestandteil seines Inhalts, verlass dich drauf! Dass du zur Geschichte der erlösten Menschheit mit dazugehörst, kannst du nicht hindern - außer durch persönliche Bosheit, von der ich aber nichts bemerke.

Auch das, glaube ich, bedeutet: Menschwerdung Gottes. Diese Botschaft können Christen ohne Arroganz ihren Freunden weiterreichen, egal welchem anderen Glauben oder Zweifel diese anhängen. So wird Weihnachten, das allgemeine Fest des ganzen Volkes, mit aufregend christlichem Geist erfüllt, ohne dass die Christen sich als allein-erwählte Sekte benehmen. Frohe Weihnachten! Der Freudengruß gilt allen lebendigen Zellen am Lebensbaum der Menschheit. Was du auch sonst denken und tun magst, höre den Ruf dieser Zeit: Mach´s wie Gott, werde Mensch!

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