Kurt Marti über Weg

  • Wo kämen wir hin,
    wenn alle sagten,
    wo kämen wir hin,
    und niemand ginge,
    um einmal zu schauen,
    wohin man käme,
    wenn man ginge.

    Wo chiemte mer hi
    wenn alli seite
    wo chiemte mer hi
    und niemer giengti
    fur einisch z'luege
    wohi dass me chiem
    we me gieng.

    -

Kurt Marti

schweizerischer Pfarrer und Schriftsteller

* 31.01.1921 Bern (Schweiz)
† 11.02.2017 Bern (Schweiz)

Gedanken von Tom Borg zum Zitat

Ja, wo kämen wir hin, wenn wir nicht in den Spiegel schauten, den Kurt Marti uns vorhält. Denn es ist ein starkes Stück Gesellschaftskritik in diesen Worten, die so locker, ja gar leicht belustigt daher kommen.

"Wo kämen wir hin" ist keine Frage, sondern eine barsche Feststellung. Mit den Worten "Wo kämen wir hin" lassen sich Wünsche und Anliegen aller Art abschmettern, ohne dass man überhaupt eine Begründung liefern muss. Es wird einfach dem Gegenüber auferlegt, sich doch bittschön selbst auszumalen, wo wir hinkämen, würden wir seinen Wünschen oder Vorschlägen folgen. Einzig der entrüstete Unterton mit dem die vier Wörter meist garniert werden, signalisiert, dass es auf jeden Fall zu einem unerwünschten Ergebnis führen würde. Doch welcher Art das Ergebnis wäre, das bleibt offen. Und man darf wohl vermuten, dass der Sprecher selbst auch keine Vorstellung davon hat, ja, nicht einmal die Lust verspürt, sich darüber Gedanken zu machen. Wo kämen wir hin, würden wir über jeden Vorschlag nachdenken, der von der gewohnten Denk- und Handlungsweise abweicht…?

Auf jeden Fall kämen wir vorwärts - und sei es auch nur durch die Erkenntnis, dass ein Lösungsvorschlag nicht funktioniert. Dies würde bereits unseren geistigen Horizont erweitern indem wir lernen, wie ein Problem nicht gelöst werden kann. Wir könnten zukünftig diese Lösungsansätze aussortieren. Doch mit der "Wo kämen wir hin" Holzhammer-Methode denken wir erst gar nicht nach. Wir verweigern uns damit nicht nur den falschen Wegen, sondern allen besseren Wegen, die von unseren gewohnten Handlungsweisen abweichen.

Doch wer immer nur die Wege geht, die andere auch gingen, der entdeckt keine neuen Welten. Er beschränkt sich auf seine kleine Welt und übersieht alle Schönheiten und Wunder abseits der wohlbekannten Welt. Damit tut man nicht nur Anderen Unrecht, nein, man betrügt auch sich selbst um potentielle Chancen und Möglichkeiten.

Angst vor Veränderung

Als Pfarrer kannte Marti die Menschen mit ihren Sorgen, Nöten und auch Ängsten. Insbesondere als Kriegsgefangenen-Seelsorger im Paris der Nachkriegszeit wurde er wohl mit vielen Problemen konfrontiert, die unkonventielle Lösungen brauchten. Neue Situationen lassen sich nicht immer anhand alter Erfahrungen lösen.

Doch in dem "Wo kämen wir hin" schwingt auch immer etwas Angst mit. Angst vor dem Neuen, der Veränderung des Status Quo. Die Angst zu Scheitern oder einfach nur die Angst, etwas zu verlieren, lässt uns oft vor Chancen zurückschrecken. Wir ziehen uns lieber auf das zurück, was wir haben. Doch das ist nicht immer der beste Weg. Es ist der gewohnte Weg.

Indem wir uns weigern, neue Wege zu gehen oder zumindest über andere Wege nachzudenken, schaden wir uns mitunter selbst am meisten. Denn wenn wir erst gar nicht losgehen, kommen wir auch nirgendwo hin. Wir belügen und täuschen uns selbst, indem wir andere Gedanken mit einem herablassenden "Wo kämen wir hin" abschmettern. Wir reden uns selbst ein, dass der Status Quo das Optimum ist und erwarten von Anderen, dass sie dies auch so sehen, denn eine Antwort, wohin wir kämen, gibt ein barsches "Wo kämen wir hin" nicht. Damit wird auch jede Diskussion abgewürgt, denn ein Gedankenaustausch kann erst gar nicht stattfinden, ja, ist nicht einmal gewollt oder erwünscht. Wo kämen wir hin, wenn wir damit unsere Zeit vergeuden würden…

Kurt Marti zeigt uns mit seinem Wortspiel auf, dass es sehr wohl Sinn macht, einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge. Manchmal ist das Glück gleich um die Ecke - und wartet darauf, dass wir uns von unserem gewohnten Trott erheben, ein paar Schritte tun und schauen, was es um die Ecke oder auf der anderen Straßenseite zu entdecken gibt. Es gibt Menschen die gehen oder fahren ein halbes Leben lang immer den gleichen Weg zur Arbeit. Sie sehen immer die gleichen Straßen, kaufen in den gleichen Läden, treffen die gleichen Leute. Es ist der kürzeste Weg, sie kennen ihn, er ist ihnen vertraut. Wo kämen wir hin, nähmen wir plötzlich einen ganz anderen Weg? Das herauszufinden, ist der Reiz des Lebens…

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