Sprichwort über Not
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Not hat kein Gebot.
Gedanken zum Zitat
Das Sprichwort »Not hat kein Gebot« gehört zu den bekanntesten und zugleich kontroversesten Redewendungen im deutschen Sprachraum. Es drückt die Vorstellung aus, dass in einer extremen Notlage die gewöhnlichen Regeln und moralischen Gebote außer Kraft gesetzt werden – oder zumindest in den Hintergrund treten. In Krisensituationen, in denen das Überleben oder das elementare Wohl bedroht ist, gelten andere Maßstäbe. Doch dieser Gedanke ist gleichermaßen entlastend wie gefährlich – und genau darin liegt seine Tiefe.
Auf den ersten Blick klingt das Sprichwort verständnisvoll und pragmatisch. Wenn jemand aus existenzieller Not heraus etwas tut, was sonst als Unrecht oder Regelbruch gewertet würde – etwa stehlen, lügen oder betrügen –, dann wird mit diesem Sprichwort eine Art moralischer Ausnahmezustand anerkannt. Der Mensch wird nicht verurteilt, sondern seine Handlung wird im Licht seiner Situation betrachtet. Wer aus Hunger ein Brot stiehlt, handelt nicht aus Bosheit, sondern aus Verzweiflung. Not relativiert Schuld, ohne sie unbedingt ganz zu leugnen.
Diese Sichtweise hat auch in der Rechtsgeschichte ihren Platz gefunden: In vielen Rechtssystemen gibt es das sogenannte Rechtfertigende Notstandsrecht. Es erlaubt es unter bestimmten Umständen, Gesetze zu brechen, wenn dadurch ein größeres Übel vermieden wird. Hier spiegelt sich das Prinzip »Not kennt kein Gebot« in juristisch begrenzter Form wider.
Doch gleichzeitig birgt das Sprichwort auch eine große Gefahr: Es kann als Freibrief für Willkür und moralische Beliebigkeit missverstanden werden. Wenn jeder sich in »Not« wähnt und seine persönlichen Gesetze aufstellt, geraten gemeinschaftliche Werte und Normen ins Wanken. Die Frage stellt sich daher: Wo endet berechtigte Not, und wo beginnt Missbrauch? Nicht jede Notlage rechtfertigt jedes Mittel. Die Herausforderung besteht darin, zwischen echter existenzieller Bedrängnis und vorgeschobener Not zu unterscheiden.
Ein weiterer Aspekt ist die gesellschaftliche Verantwortung: Wenn Not zur Regel wird und Menschen gezwungen sind, Gebote zu brechen, liegt das oft nicht nur an individuellen Schicksalen, sondern an gesellschaftlichem Versagen. Armut, Ausgrenzung, Ungleichheit schaffen Situationen, in denen Menschen keine Wahl mehr haben. Das Sprichwort sollte daher nicht nur als Rechtfertigung für Einzelne dienen, sondern als Warnung an die Gesellschaft, solche Zustände nicht zu dulden. Weder darf moralische Verantwortung komplett suspendiert werden, noch darf Not zur Normalität werden. Gefordert ist Mitgefühl für den Einzelnen und Verantwortung von der Gemeinschaft. Denn das eigentliche Ziel sollte sein: eine Welt zu schaffen, in der Not gar nicht erst zum Gesetzesbruch zwingt.