Sprichwort über Zunge
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Wenn die Füße gebunden sind, so läuft die Zunge am meisten.
Gedanken zum Zitat
Das Sprichwort »Wenn die Füße gebunden sind, so läuft die Zunge am meisten« beschreibt ein Phänomen, das sowohl psychologisch als auch gesellschaftlich eine große Bedeutung hat: Wenn der Mensch in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, wird die Sprache zum Ausweg, zum Mittel der Aktivität und zum Ausdruck innerer Unruhe oder kompensierten Tatendrangs. Es verweist darauf, dass sprachliche Aktivität oft dort zunimmt, wo physische Handlungsmöglichkeiten fehlen. Wer nicht handeln kann, redet – manchmal zu viel.
Insofern lässt sich das Sprichwort ganz wörtlich verstehen: Wer sich nicht körperlich bewegen kann, etwa durch Krankheit, Alter, Gefangenschaft oder äußere Einschränkungen, nutzt stattdessen seine Stimme. Gerade ältere Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, suchen den Austausch durch das Gespräch. Auch Kinder, die zur Ruhe ermahnt werden, beginnen oft gerade dann zu plappern. Es ist ein natürlicher Ausgleichsmechanismus: Wenn der Körper zur Untätigkeit gezwungen ist, sucht der Geist über die Sprache einen Ausweg.
Im übertragenen Sinn hat das Sprichwort aber auch eine kritische Note. Es verweist auf die Neigung des Menschen, besonders dann viel zu reden, wenn er selbst nichts (mehr) bewirken kann. Wer am Geschehen nicht aktiv teilnimmt, kommentiert oft umso ausgiebiger. Das zeigt sich in der Politik wie im Alltagsleben: Menschen, die selbst nicht handeln oder Verantwortung tragen, neigen dazu, umso mehr zu reden, zu urteilen oder zu kritisieren. Die »laufende Zunge« ersetzt das Handeln, mitunter in negativem Sinne, wenn sie in Klatsch, Tratsch oder unnützer Kritik endet.
Dieses Sprichwort kann daher auch als Warnung gelesen werden: Reden kann zum Selbstzweck werden, zum Ausweichen vor echter Handlung. In Zeiten sozialer Isolation, wie etwa während der Corona-Pandemie, war deutlich zu beobachten, wie die sprachliche Aktivität in digitalen Räumen zunahm, gerade weil die körperliche und soziale Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Das zeigt einerseits das Bedürfnis des Menschen nach Ausdruck, andererseits aber auch die Gefahr, dass Sprache ohne Handlung leer oder sogar schädlich wird.
Auf einer tieferen Ebene geht es also um das Verhältnis von Sprache und Handlung. Das Sprichwort stellt eine Art Ungleichgewicht fest: Wer nicht handeln kann, redet oft mehr. Doch dieses Reden ersetzt nicht unbedingt das Tun. Es kann tröstlich sein oder verbinden, aber auch ablenken oder manipulieren. Deshalb fordert das Sprichwort zur Selbstreflexion auf: Rede ich, weil ich wirklich etwas zu sagen habe oder weil ich innerlich unruhig bin, da ich mich machtlos fühle?