Zweites Hundert.

 

Aphorismen vin Marie von Ebner-Eschenbach, zweites Hundert

 

1.

Wenn man das Dasein als eine Aufgabe betrachtet, dann vermag man es immer zu ertragen.


2.

Schwächliche Grämlichkeit, die alle Fünf gerade sein läßt, ist die Karikatur der Resignation.


3.

Der Gläubige, der nie gezweifelt hat, wird schwerlich einen Zweifler bekehren.


4.

Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich giebt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, zur Ausübung der einfachsten angewendet würde.


5.

Man kann nicht allen helfen! sagt der Engherzige und — hilft Keinem.


6.

Wer nichts weiß, muß alles glauben.


7.

Eltern verzeihen ihren Kindern die Fehler am schwersten, die sie selbst ihnen anerzogen haben.


8.

Wenn ein edler Mensch sich bemüht ein begangenes Unrecht gut zu machen, kommt seine Herzensgüte am reinsten und schönsten zu Tage.


9.

Du kannst so rasch sinken, daß Du zu fliegen meinst.


10.

Was liegt dem Narren an einem vernünftigen Menschen? Die wichtige Person für ihn ist der andere Narr, der ihn gelten läßt.


11.

Verständniß des Schönen und Begeisterung für das Schöne sind Eins.


12.

Wo die Eitelkeit anfängt, hört der Verstand auf.


13.

Auch was wir am meisten sind, sind wir nicht immer.


14.

Um in eine Versammlung feiner Leute treten zu dürfen, muß man den Frack tragen, die Uniform oder — die Livrée.


15.

Wer Geduld sagt, sagt Muth, Ausdauer, Kraft.


16.

Der Geist einer Sprache offenbart sich am deutlichsten in ihren unübersetzbaren Worten.


17.

Das Verständniß reicht oft viel weiter als der Verstand.


18.

So mancher meint ein gutes Herz zu haben und hat nur schwache Nerven.


19.

Zwei sehr verschiedene Tugenden können einander lange und scharf befehden; der Augenblick bleibt nicht aus, in dem sie erkennen, daß sie Schwestern find.


20.

Beim Tode eines geliebten Menschen schöpfen wir eine Art Trost aus dem Glauben, daß der Schmerz über unseren Verlust sich nie vermindern wird.


21.

Was ein Mensch glaubt und woran er zweifelt, ist gleich bezeichnend für die Stärke seines Geistes.


22.

Der herbste Tadel läßt sich ertragen, wenn man fühlt, daß Derjenige, der tadelt, lieber loben würde.


23.

Alte Diener sind kleine Tyrannen, an welche die große Tyrannin Gewohnheit uns knüpft.


24.

Verschmähtes Erbarmen kann sich in Grausamkeit verwandeln, wie verschmähte Liebe in Haß.


25.

Aus dem Verlangen nach dem Ueberflüssigen ist die Kunst entstanden.


26.

Es giebt Gelegenheiten, in denen man sonst ganz wahrhaftigen Menschen keinen Glauben schenken darf. Zum Beispiel, dem Großmüthigen, wenn er von seinen Ausgaben, und dem Sparsamen, wenn er von seinen Einnahmen spricht.


27.

Man kann nicht jedes Unrecht gut, wohl aber jedes Recht schlecht machen.


28.

Fortwährendem Entbehren folgt Stumpfheit ebenso gewiß wie übermäßigem Genuß.


29.

Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leids — und ein Quell unendlichen Trostes.


30.

Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre?


31.

Menschen, die nach immer größerem Reichthum jagen, ohne sich jemals Zeit zu gönnen, ihn zu genießen, sind wie Hungrige, die immerfort kochen, sich aber nie zu Tische setzen.


32.

Einen Gedanken verfolgen — wie bezeichnend dies Wort! Wir eilen ihm nach, erhaschen ihn, er entwindet sich uns, und die Jagd beginnt von Neuem. Der Sieg bleibt zuletzt dem Stärkeren. Ist es der Gedanke, dann läßt er uns nicht ruhen, immer wieder taucht er auf — neckend, quälend, unserer Ohnmacht ihn zufassen, spottend. Gelingt es aber der Kraft unseres Geistes, ihn zu bewältigen, dann folgt dem heißen Ringkampf ein beseligendes, unwiderstehliches Bündniß auf Leben und Tod, und die Kinder, die ihm entspringen, erobern die Welt.


33.

Die Sittlichkeit verfeinert die Sitte, und die Sitte wiederum die Sittlichkeit.


34.

Nichts ist erbärmlicher als die Resignation, die zu früh kommt.


35.

Arme Leute schenken gern.


36.

Auch in ein neues Glück muß man sich schicken lernen.


37.

Der eitle, schwache Mensch sieht in Jedem einen Richter, der stolze, starke hat keinen Richter als sich selbst.


38.

Autoren, die bestohlen werden, sollten sich darüber nicht beklagen, sondern freuen. In einer Gegend, in der kein Waldfrevel vorkommt, hat der Wald keinen Werth.


39.

Wenn alberne Leute sich bemühen, ein Geheimniß vor uns zu verbergen, dann erfahren wir es gewiß, so wenig uns auch danach gelüstet.


40.

Merkmal großer Menschen ist, daß sie an Andere weit geringere Anforderungen stellen als an sich selbst.


41.

Denkfaulheit, Oberflächlichkeit, Starrsinn sind weibliche, Genußsucht, Rücksichtslosigkeit, Roheit sind männliche, Trotz, Eitelkeit, Neugier sind kindische Fehler.


42.

Wer in der Gegenwart von Kindern spottet oder lügt, begeht ein todeswürdiges Verbrechen.


43.

Die Eitelkeit weist jede gesunde Nahrung von sich, lebt ausschließlich von dem Gifte der Schmeichelei und gedeiht dabei in üppigster Fülle.


44.

Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen.


45.

Der Mann ist der Herr des Hauses; im Hause aber soll nur die Frau herrschen.


46.

Treue Liebe kann zwischen Menschen von sehr verschiedenem, dauernde Freundschaft nur zwischen Menschen von gleichem Werthe bestehen. Aus diesem Grunde ist die zweite viel seltener als die erste.


47.

Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: — alle dummen Männer.


48.

Der alte Satz: Aller Anfang ist schwer, gilt nur für Fertigkeiten. In der Kunst ist nichts schwerer als Beenden und bedeutet zugleich Vollenden.


49.

Ein Schwachkopf, der über andere Menschen urtheilen soll, kann sich höchstens in ihre Lage, nie aber in ihre Denk- und Empfindungsweise versetzen.


50.

Es giebt nichts Böses, freilich auch kaum etwas Gutes, das nicht schon aus Eitelkeit gethan worden wäre.


51.

Wenig Leidenschaft, große Herzenswärme, Verstand, Anmuth, leichte Umgangsformen, Respekt vor dem Ernst, Verständniß für den Scherz — Summa summarum: — Liebenswürdigkeit.


52.

Ein scheinbarer Widerspruch gegen ein Naturgesetz ist nur die selten vorkommende Bethätigung eines andern Naturgesetzes.


53.

Eine Vernunftehe schließen, heißt in den meisten Fällen, alle seine Vernunft zusammennehmen, um die wahnsinnigste Handlung zu begehen, die ein Mensch begehen kann.


54.

Wer es versteht, den Leuten mit Anmuth und Behagen Dinge auseinander zu setzen, die sie ohnehin wissen, der verschafft sich am geschwindesten den Ruf eines gescheiten Menschen.


55.

Ueber das Kommen mancher Leute tröstet uns nichts als — die Hoffnung auf ihr Gehen.


56.

Zu jeder Zeit liegen einige große Wahrheiten in der Luft; sie bilden die geistige Atmosphäre des Jahrhunderts.


57.

Was nennen die Menschen am liebsten dumm? Das Gescheite, das sie nicht verstehen.


58.

Der sich keine Annehmlichkeit versagen kann, wird sich nie ein Glück erobern.


59.

Ein Gedanke kann nicht erwachen, ohne andere zu wecken.


60.

Die unerträglichsten Heuchler sind diejenigen, die jedes Vergnügen, das ihnen geboren wird, von der Pflicht zur Taufe tragen lassen.


61.

Ein Streit zwischen wahren Freunden, wahren Liebenden bedeutet gar nichts. Gefährlich sind nur die Streitigkeiten zwischen Menschen, die einander nicht ganz verstehen.


62.

Es giebt eine Menge kleiner Unarten und Rücksichtslosigkeiten, die an und für sich nichts bedeuten, aber furchtbar sind als Kennzeichen der Beschaffenheit einer Seele.


63.

Wenn die Großmuth vollkommen sein soll, muß sie eine kleine Dosis Leichtsinn enthalten.


64.

Es gehört immer etwas guter Wille dazu, selbst das Einfachste zu begreifen, selbst das Klarste zu verstehen.


65.

Gemeinverständlich, das heißt: auch den Gemeinen verständlich, und heißt überdies nicht selten: den Nicht- Gemeinen ungenießbar.


66.

Jung sein ist schön; alt sein ist bequem.


67.

Die Gedankenlosigkeit hat mehr ehrliche Namen zu Grunde gerichtet als die Bosheit.


68.

Wenn Du durchaus nur die Wahl hast zwischen einer Unwahrheit und einer Grobheit, dann wähle die Grobheit; wenn jedoch die Wahl getroffen werden muß zwischen einer Unwahrheit und einer Grausamkeit, dann wähle die Unwahrheit.


69.

Die Wortkargen imponiren immer. Man glaubt schwer, daß Jemand kein anderes Geheimniß zu bewahren hat als das seiner Unbedeutendheit.


70.

Die Empfindung des Einsamseins ist schmerzlich, wenn sie uns im Gewühl der Welt, unerträglich jedoch, wenn sie uns im Schoße unserer Familie überfällt.


71.

Verwöhnte Kinder sind die unglücklichsten; sie lernen schon in jungen Jahren die Leiden der Tyrannen kennen.


72.

Er ist ein guter Mensch! sagen die Leute gedankenlos. Sie wären sparsamer mit diesem Lobe, wenn sie wüßten, daß sie kein höheres zu ertheilen haben.


73.

Man hat einen zu guten oder einen zu schlechten Ruf; nur den Ruf hat man nicht, den man verdient.


74.

Du wüßtest gern, was Deine Bekannten von Dir sagen? Höre, wie sie von Leuten sprechen, die mehr werth sind als Du.


75.

Im Laufe des Lebens verliert alles seine Reize wie seine Schrecken; nur Eines hören wir nie auf zu fürchten: das Unbekannte.


76.

Der Charakter des Künstlers ernährt oder verzehrt sein Talent.


77.

Ein Mann, der sich im Gespräche mit seiner Frau widerlegt fühlt, fängt sogleich an, sie zu überschreien: Er will und kann beweisen, daß ihm immer, auch wenn er falsch singt, die erste Stimme gebührt.


78.

Fähigkeit ruhiger Erwägung —: Anfang aller Weisheit, Quell aller Güte!


79.

Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel; sie können auch die Vorboten einer neuen Regel sein.


80.

Manche Leute wären frei, wenn sie zu dem Bewußtsein ihrer Freiheit kommen könnten.


81.

Muth des Schwachen, Milde des Starken — beide anbetungswürdig!


82.

Suche immer zu nützen, suche nie Dich unentbehrlich zu machen.


83.

Die Frau verliert in der Liebe zu einem ausgezeichneten Manne das Bewußtsein ihres eigenen Werthes; der Mann kommt erst recht zum Bewußtsein des seinen durch die Liebe einer edlen Frau.


84.

Der Schwächling ist bereit, sogar seine Tugenden zu verleugnen, wenn sie Anstoß erregen sollten.


85.

Der Philosoph zieht seine Schlüsse, der Poet muß die seinen entstehen lassen.


86.

So manche Wahrheit ging von einem Irrthum aus.


87.

Ein litterarischer Dieb, der sich das Stehlen recht sauer werden läßt, kann sein Lebenlang für einen originellen und ehrlichen Mann gelten.


88.

Wenn Du sicher wählen willst im Conflict zweier Pflichten, wähle diejenige, die zu erfüllen Dir schwerer fällt.


89.

Ein wahrer Freund trägt mehr zu unserem Glück bei, als tausend Feinde zu unserem Unglück.


90.

Die Großen schaffen das Große, die Guten das Dauernde.


91.

Ein anregendes Buch — eine Speise, die hungrig macht.


92.

Der Verstand und das Herz stehen auf sehr gutem Fuße. Eines vertritt oft die Stelle des andern so vollkommen, daß es schwer ist zu entscheiden, welches von beiden thätig war.


93.

Manuscripte vermodern im Schranke oder reifen darin.


94.

Wer in die Oeffentlichkeit tritt, hat keine Nachsicht zu erwarten und keine zu fordern.


95.

Ein Mann mit großen Ideen ist ein unbequemer Nachbar.


96.

Mehr noch als nach dem Glück unserer Jugend sehnen wir uns im Alter nach den Wünschen unserer Jugend zurück.


97.

Erstritten ist besser als erbettelt.


98.

Das Tüttelchen Wahrheit, das in mancher Lüge enthalten ist, das macht sie furchtbar.


99.

Unseren schlechten Eigenschaften gegenüber giebt es nur ewigen Kampf oder schimpflichen Frieden.


100.

Was Du wirklich besitzest, das wurde Dir geschenkt.


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