Drittes Hundert.

 

Aphorismen vin Marie von Ebner-Eschenbach, drittes Hundert

 

1.

Wohl Jedem, der nur liebt, was er darf, und nur haßt, was er soll.


2.

Die kleinsten Sünder thun die größte Buße.


3.

An groß angelegte Menschen denkt sich's gut, mit fein angelegten Menschen lebt sich's gut.


4.

Für die Anspruchsvollen plagt man sich, aber die Anspruchslosen liebt man.


5.

Respect vor dem Gemeinplatz! Er ist seit Jahrhunderten aufgespeicherte Weisheit.


6.

Ein fauler und ein fleißiger Mensch können nicht gut mit einander leben, der faule verachtet den fleißigen gar zu sehr.


7.

Wenn man nicht aufhören will, die Menschen zu lieben, muß man nicht aufhören, ihnen Gutes zu thun.


8.

Das edle: Ich will! hat keinen schlimmeren Feind, als das feige, selbstbetrügerische: Ja, wenn ich wollte!


9.

Es kommt alles auf die Umgebung an. Die Sonne im lichten Himmelsraume hat eine viel geringere Meinung von sich als die Unschlittkerze, die im Keller brennt.


10.

Der Künstler versäume nie, die Spuren des Schweißes zu verwischen, den sein Werk gekostet hat. Sichtbare Mühe war zu wenig Mühe.


11.

Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.


12.

Man darf die Phantasie verführen, aber Gewalt darf man ihr nicht anthun wollen.


13.

Nicht tödtlich, aber unheilbar, das sind die schlimmsten Krankheiten.


14.

Kein Mensch steht so hoch, daß er anderen gegenüber nur gerecht sein dürfte.


15.

Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.


16.

Der Umgang mit einem Egoisten ist darum so verderblich, weil die Nothwehr uns zwingt, allmälig in seinen Fehler zu verfallen.


17.

Das giebt sich, sagen schwache Eltern von den Fehlern ihrer Kinder. O nein, es giebt sich nicht, es entwickelt sich!


18.

Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht.


19.

Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht.


20.

Zwischen Können und Thun liegt ein Meer und auf seinem Grunde die gescheiterte Willenskraft.


21.

Ein stolzer Mensch verlangt von sich das Außerordentliche, ein hochmüthiger schreibt es sich zu.


22.

Bewunderung der Tugend ist Talent zur Tugend.


23.

Viele Leute glauben, wenn sie einen Fehler erst eingestanden haben, brauchen sie ihn nicht mehr abzulegen.


24.

Die bedauernswerthesten Menschen sind diejenigen, welche Pflichtgefühl besitzen, aber nicht die Kraft, ihm zu genügen.


25.

Beim Wiedersehen nach einer Trennung fragen die Bekannten nach dem, was mit uns, die Freunde nach dem, was in uns vorgegangen.


26.

Es giebt überall verschämte Arme, nur nicht in der Litteratur.


27.

Wer sich mit wenig Ruhm begnügt, verdient nicht vielen.


28.

Sagen, was man denkt, ist manchmal die größte Thorheit und manchmal — die größte Kunst.


29.

Menschen, die viel von sich sprechen, machen — so ausgezeichnet sie übrigens sein mögen — den Eindruck der Unreife.


30.

Es giebt mehr naive Männer als naive Frauen.


31.

Der Weise ist selten klug.


32.

Wie viel Bewegung wird hervorgebracht durch das Streben nach Ruhe!


33.

Echte Propheten haben manchmal, falsche Propheten haben immer fanatische Anhänger.


34.

Soweit die Erde Himmel sein kann, soweit ist sie es in einer glücklichen Ehe.


35.

Demuth ist Unverwundbarkeit.


36.

Ein guter Witz muß den Schein des Unabsichtlichen haben. Er giebt sich nicht dafür, aber siehe da, der Scharfsinn des Hörers entdeckt ihn, entdeckt den geistreichen Gedanken in der Maske eines schlichten Wortes. Ein guter Witz reist incognito.


37.

Manche Tugenden kann man dadurch erwerben, daß man sie lange Zeit hindurch heuchelt. Andere wird man um so weniger erringen, je mehr man sucht, sich ihren Schein zu geben. Zu den ersten gehört der Muth, zu den zweiten die Bescheidenheit.


38.

Wohlerzogene Menschen sprechen in Gesellschaft weder vom Wetter noch von der Religion.


39.

Der Staat ist am tiefsten gesunken, dessen Regierung schweigend zuhören muß, wenn die offenkundige Schufterei ihr Sittlichkeit predigt.


40.

Nicht leisten können, was Andere leisten — Du mußt dich bescheiden. Nicht mehr leisten können, was Du selbst einmal geleistet hast — zum verzweifeln.


41.

Liebhabereien bewahren vor Leidenschaften; eine Liebhaberei wird zur Leidenschaft.


42.

Welch' ein Unterschied liegt darin, wie man's macht und wie sich's macht!


43.

Den Strich, den das Genie in Einem Zuge hinwirft, kann das Talent in glücklichen Stunden aus Punkten zusammensetzen.


44.

Ein Nichts vermag das Vertrauen in die eigene Kraft zu erschüttern, aber nur ein Wunder vermag es wieder zu befestigen.


45.

Vieles erfahren haben, heißt noch nicht Erfahrung besitzen.


46.

In jede hohe Freude mischt sich eine Empfindung der Dankbarkeit.


47.

Die Menschen, bei denen Verstand und Gemüth sich die Wage halten, gelangen spät zur Reife.


48.

Der niemals Ehrfurcht empfunden hat, wird sie auch niemals erwecken.


49.

Wo giebt es noch einmal zwei Dinge so entgegengesetzt und doch so nahe verwandt, so unähnlich und doch so oft kaum von einander zu unterscheiden, wie Bescheidenheit und Stolz?


50.

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.


51.

Es gäbe keine Geselligkeit, alle Familienbande würden gelockert, wenn die Gedanken der Menschen auf ihrer Stirn zu lesen wären.


52.

Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt auch mein Verstand, sagt die Frau.

Schweige, Herz, damit der Verstand zu Worte komme, sagt der Mann.


53.

Liebe alle Menschen, der Leidende aber sei Dein Kind.


54.

Die Langweile, die in manchem Buche herrscht, gereicht ihm zum Heil; die Kritik, die schon ihren Speer erhoben hatte, schläft ein, bevor sie ihn geschleudert hat.


55.

An Rheumatismen und an wahre Liebe glaubt man erst, wenn man davon befallen wird.


56.

Aerzte werden gehaßt aus Ueberzeugung oder aus Oekonomie.


57.

Die Ambrosia der früheren Jahrhunderte ist das tägliche Brod der späteren.


58.

Ein wirklich guter und liebenswürdiger Mensch kann soviel Freunde haben, als er will, aber nicht immer diejenigen, die er will.


59.

Auf angeborene Tugenden ist man nicht stolz.


60.

Ein ganzes Buch — ein ganzes Leben.


61.

Was Menschen und Dinge werth sind, kann man erst beurtheilen, wenn sie alt geworden.


62.

Der Wohlwollende fürchtet Mißgunst nicht.


63.

Wir hätten wenig Mühe, wenn wir niemals unnöthige Mühe hätten.


64.

Es findet nicht nur jeder Odysseus seinen Homer, sondern auch jeder Mahomet seine Chadidscha.


65.

Jeder Weltmann verkehrt lieber mit einem wohlerzogenen Bösewicht, als mit einem schlechterzogenen Heiligen.


66.

Wenn wir an Freuden denken, die wir erlebt haben, oder noch zu erleben hoffen, denken wir sie uns immer ungetrübt.


67.

Nicht jeder große Mann ist ein großer Mensch.


68.

Die uns gespendete Liebe, die wir nicht als Segen und Glück empfinden, empfinden wir als eine Last.


69.

Nichts lernen wir so spät und verlernen wir so früh, als zugeben, daß wir Unrecht haben.


70.

Die Thaten reden, aber den Ungläubigen überzeugen sie doch nicht.


71.

Jeder Dichter und alle ehrlichen Dilettanten schreiben mit ihrem Herzblute, aber wie diese Flüssigkeit beschaffen ist, darauf kommt es an.


72.

Je weiter unsere Erkenntniß Gottes dringt, je weiter weicht Gott vor uns zurück.


73.

Der Genius weist den Weg, das Talent geht ihn.


74.

Die Menschen, die wir am meisten verwöhnen, sind nicht immer die, die wir am meisten lieben.


75.

Dem großen Dichter muß man ein starkes Selbstgefühl zu gute halten. Eine gewisse Gottähnlichkeit ist Dem nicht abzusprechen, der aus seinem Geiste Menschen schafft.


76.

Ueberlege ein Mal, bevor Du giebst, zwei Mal, bevor Du annimmst, und tausendmal, bevor Du verlangst.


77.

Der Maßstab, den wir an die Dinge legen, ist das Maß unseres eigenen Geistes.


78.

Der Künstler hat nicht dafür zu sorgen, daß sein Werk Anerkennung finde, sondern dafür, daß es sie verdiene.


79.

Ein einziges Wort verräth uns manchmal die Tiefe eines Gemüths, die Gewalt eines Geistes.


80.

Sobald eine Mode allgemein geworden ist, hat sie sich überlebt.


81.

Die Natur hat leicht verschwenden; auch das scheinbar ganz nutzlos Verstreute fällt zuletzt doch in ihren Schoß.


82.

Der kleinste Fehler, den ein Mensch uns zu Liebe ablegt, verleiht ihm in unseren Augen mehr Werth, als die größten Tugenden, die er sich ohne unser Zuthun aneignet.


83.

Es ist schlimm, wenn zwei Eheleute einander langweilen, viel schlimmer jedoch ist es, wenn nur Einer von ihnen den Andern langweilt.


84.

Die größte Gewalt über einen Mann hat die Frau, die sich ihm zwar versagt, ihn aber in dem Glauben zu erhalten versteht, daß sie seine Liebe erwidere.


85.

Was noch zu leisten ist, das bedenke; was Du schon geleistet hast, das vergiß.


86.

Wer die materiellen Genüsse des Lebens seinen idealen Gütern vorzieht, gleicht dem Besitzer eines Palastes, der sich in den Gesindestuben einrichtet und die Prachtsäle leer stehen läßt.


87.

Im Laufe des Lebens nützen unsere Laster sich ab, wie unsere Tugenden.


88.

Die Welt gehört Denen, die sie haben wollen, und wird von Jenen verschmäht, denen sie gehören sollte.


89.

Wenn ich nicht predigen müßte, würde ich mich nicht kasteien, sagte ein wahrheitsliebender Priester.


90.

Treue üben ist Tugend, Treue erfahren ist Glück.


91.

Der Augenblick tritt niemals ein, in welchem der Dummkopf den Weisen nicht für fähig hielte, einen Unsinn zu sagen oder eine Thorheit zu begehen.


92.

Die Gleichgültigkeit, der innere Tod, ist manchmal ein Zeichen von Erschöpfung, meistens ein Zeichen von geistiger Impotenz und immer — guter Ton.


93.

Was liegt am Ruhm, da man den Nachruhm nicht erleben kann?


94.

Wir sind für nichts so dankbar wie für Dankbarkeit.


95.

Es darf so mancher Talentlose von dem Werke so manches Talentvollen sagen: Wenn ich das machen könnte, würde ich es besser machen.


96.

Dilettanten haben nicht einmal in einer secundären Kunst etwas Bleibendes geleistet, sich aber verdient gemacht um die höchste aller Wissenschaften, die Philosophie. Den Beweis dafür liefern: Montaigne, La Rochefoucauld, Vauvenargues.


97.

Wenn wir auch der Schmeichelei keinen Glauben schenken, der Schmeichler gewinnt uns doch. Einige Dankbarkeit empfinden wir immer für den, der sich die Mühe giebt, uns angenehm zu belügen.


98.

Aus dem Mitleid mit Anderen erwächst die feurige, die muthige Barmherzigkeit; aus dem Mitleid mit uns selbst die weichliche, feige Sentimentalität.


99.

Je kleiner das Sandkörnlein ist, desto sicherer hält es sich für die Axe der Welt.


100.

Nur die allergescheitesten Leute benützen ihren Scharfsinn nicht bloß zur Beurtheilung Anderer, sondern auch ihrer selbst.


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