Die Brüder

Es lebten einst zwei Brüder, denen die Fähigkeit gegeben war, Macht auszuüben über die Gemüther der Menschen.

Der Aeltere suchte die Darbenden auf und sprach ihnen von ihrem Rechte auf Genuß. Er ließ die Arbeitenden die Sonnen des Müßigganges kosten und entflammte die Besitzlosen zum Kampfe gegen die Besitzenden. Verherrlichung aller Handlungen der Armen und Elenden, Verhöhnung und Verdächtigung jeder That der Kinder des Glückes war das zweischneidige Schwert,. das er mit glühender Ueberzeugung führte und das ihm einen blind ergebenen Anhang erwarb.

Der Jüngere predigte durch Wort und Beispiel nicht einer bestimmten Klasse, sondern allen Menschen. Er pries die Hochgeborenen und Reichen nicht als die besonders Begünstigten und bejammerte die Niedrigen und Armen nicht als die Enterbten des Geschickes. Er forderte von Allen gleiche Strenge gegen sich, das gleiche Mitleid mit dem Nächsten, die gleiche Gerechtigkeit gegen den Feind, und von Allen Arbeit. Vom Armen, weil sie Brot ist für Weib und Kind, vom Reichen, weil sie die freiwillige Armuth ist.

Seine Stimme konnte grollen wie der Donner, und seine Augen konnten dräuen wie der Blitz. Schonungslos schwang er die Geißel über Die, die er am meisten liebte, und heischte von ihnen fast ebenso viel Selbstverleugnung, wie von sich selbst.

Einmal geschah es, daß die getrennten Wege der Brüder sich kreuzten, und sie einander gegenüber standen.

»Wie viele Anhänger hast Du?« fragte der Aeltere den Jüngeren.

»Ich habe zehn gewonnen,« lautete die Antwort, und der ältere Bruder versetzte:

»Und ich zehntausend.«

In der folgenden Nacht hatte jeder von ihnen einen Traum, der ihm die Zukunft zeigte. Der Aeltere sah sich im Sarge liegen, umtobt von dem Streite Derer, die das Erbe seiner Macht antreten wollten. Um die Redegewandten waren kleine Scharen versammelt, lauschten ihren Schmeicheleien und Verheißungen und schenkten ihnen Glauben. In Fähnlein zerstückelt, stob das große Heer auseinander.

Der Führer keuchte und stöhnte im Schlafe; sein Lebenswerk, die Partei, die er gegründet, endete mit ihm.

Der Jüngere sah im Traume Wallerzüge durch die Fluren schreiten. Singend, Blumen und Palmen tragend, pilgerten sie zu einem grünen Hügel, der sich außerhalb der Mauer eines Dorfkirchhofs erhob. Sie kamen aus allen Weltgegenden, fremd in der Sprache, im Aussehen, im Gehaben. Aber am gemeinsamen Ziel angelangt, erkannten sie, daß sie Brüder waren. Sie reichten einander die Hände über dem Grabe und riefen in den verschiedensten Sprachen einen ihnen heiligen Namen.

Es war der des Träumenden — er hatte eine Religion gestiftet.

 Top