Parabeln und Märchen

Die Mußmenschen.

Ein zum Tode verurteilter Verbrecher entsprang seiner Haft kurz vor dem Tage, an welchem er hingerichtet werden sollte, und gelangte auf der Flucht in ein wildes Bergland, dessen Geklüfte ihm Schutz vor den verfolgenden Häschern bot. Als der Hunger ihn zwang, seinen Schlupfwinkel zu verlassen und einen wirthlicheren Aufenthalt zu suchen, führte ihn sein Weg zu der Hütte eines alten Ziegenhirten, der dem halb Verschmachteten Gastfreundschaft gewährte. Der Alte wurde gesprächig, und erzählte unter Anderem von einem merkwürdigen Lande, in welchem er viele Jahre seines Lebens zugebracht hatte. — In diesem Lande, sagte er, herrsche der Glaube an die Unfreiheit des menschlichen Willens. Dort maße sich Keiner das Recht an, seinen Nächsten zur Verantwortung zu ziehen; Niemand schreibe sich ein Verdienst zu; Niemand zeihe sich einer Schuld; den Begriff von gut und böse gebe es nicht; es gebe kein Thun, sondern nur ein Geschehen; die Handlungen der Menschen werden genau so betrachtet, wie Naturereignisse, als die nothwendigen Folgen unabsehbarer, von Ewigkeit her wirkender Ursachen.

»So giebt es in dem Lande weder Gesetz noch Richter?« fragte der Verbrecher.

»Weder Gesetz noch Richter,« antwortete der Hirt.

»Und Mord und Raub, wie werden sie beurtheilt?«

»Nicht anders, als wie man Sturm und Wetterschlag beurtheilt.«

Da hatte der Verbrecher eine große Freude und rief: »Das ist ein Land für mich, in dem hätte ich geboren werden sollen. Dahin will ich gehen.«

Sofort erkundigte er sich nach dem Weg, den er einzuschlagen habe, trat die Wanderung an und erreichte nach vielen Abenteuern und Fährlichkeiten eines schönen Sommermorgens glücklich sein Ziel.

Er betrat ein blühendes, sorgfältig bebautes Land. In der Nähe eines freundlichen Dorfes waren viele Leute mit dem Mähen einer herrlichen Wiese beschäftigt. Die Männer führten die Sense, die Frauen den Rechen, Alle arbeiteten eifrig und mit sichtbarem Vergnügen.

Wie merkwürdig! dachte der Verbrecher, und fragte einen der Mäher: »Freund, warum plagst Du Dich?«

»Weil ich muß,« antwortete Jener.

»So? und wer zwingt Dich?«

»Wer? Du meinst wohl, was mich zwingt. Mich zwingt das angeerbte Bedürfniß des Fleißes, mich zwingt die Einsicht, daß ich arbeiten muß, da ich leben muß.«

»Habt Ihr denn hier zu Lande keine reichen Leute, denen Ihr wegnehmen könntet, was Ihr braucht um zu leben, und noch etwas darüber?«

»Da würden wir,« erhielt er zur Antwort, »dem Schoren gleichen, der seiner goldene Eier legenden Henne den Hals abschnitt. So unvernünftig müssen nur Halbwilde handeln; wir sind ein uraltes Culturvolk und müssen das Vernünftige thun.«

Kaum waren diese Worte gesprochen, als sich plötzlich ein Geschrei erhob, das durchaus nichts Cultivirtes hatte. Eine kleine hübsche Frau war mit ihrem Mann in Streit gerathen und drosch mit den Fäusten, so stark und so schnell sie konnte, auf ihn los. Er wehrte sich nicht.

»Alle Wetter,« sagte der Verbrecher, »diese Frau hagelt ja.«

»Zu Zeiten. Die Motive, von denen sie veranlaßt wurde, als immerwährender Sonnenschein an unserem Ehehimmel zu prangen, wirken leider noch nicht permanent,« entschuldigte der Geprügelte und machte ein sehr trauriges Gesicht, als jetzt ein hochgewachsenes Weib auf die kleine Frau zutrat, ihr trotz ihres Sträubend die Hände auf den Rücken band und sie wegführte.

Der Verbrecher allein hatte diesem Vorgang mit Neugier und Schadenfreude zugesehen; alle Uebrigen schenkten ihm nur geringe und unlustige Aufmerksamkeit.

Die Raststunde war gekommen; die Mäher ließen sich ins Gras nieder und begannen das Mittagessen, das Frauen und Kinder aus dem Dorfe herbeigebracht hatten, gemeinsam zu verzehren. Der Verbrecher setzte sich zu dem betrübten Ehemann, der nicht aufhören konnte, von seiner Gattin zu sprechen.

»Sie hat ihre Mutter früh verloren,« erzählte er, »und ist vom Vater aus schwer belastet mit ererbtem moralischen Siechthum. Der Einfluß unserer Schule, dieses herrlichen Gartens, in welchem junge Menschenblumen unter der Leitung großer Künstler und Denker zur Entfaltung des schönsten Müssens herangebildet werden, hat sich als unzureichend zur Besiegung des Uebels meiner armen kleinen Frau erwiesen.«

»Deine männliche Oberherrlichkeit desgleichen,« spottete der Verbrecher. »O, Du Starker, Du Langmütiger! wie geduldig hast Du Dich mißhandeln lassen von einem schwachen Weiblein! Welchen Lohn giebt es bei Euch für solche Tugend?«

»Lohn? Tugend?« erwiderte man ihm; »haben die Bewohner Deines Landes nichts gelernt in der Flucht der Jahrtausende? Klebt man bei Euch noch an so kindischen Begriffen? Wir sind ein uraltes Culturvolk und wissen von ihnen längst nichts mehr.«

Diese Entgegnung ergötzte den Verbrecher, und er sprach nun den Wunsch aus, zu erfahren, wohin die kleine Frau, die so hübsch hageln konnte, geführt, und wer Diejenige gewesen, von der sie abgeholt worden.

»Eine Krankenwärterin,« antwortete der Mann, »und sie hat meine Frau ins Spital bringen müssen.«

»Ist sie denn krank?«

»Gewiß. Hast Du nicht gesehen, daß sie eine Krankheit hat, durch die sie gezwungen wird, mich zu schlagen?«

»Krankheit nennt Ihr das?« rief der Verbrecher; »nun, wenn sie eine Krankheit hat, die sie zwingt, zu schlagen, habe ich eine Gesundheit, die mich zwingt, zu essen. So nehm' ich denn ungeladen an Eurem Mahle Theil.«

Damit griff er in die Schüsseln, langte nach den Gläsern und aß und trank für Zehn.

Die Mußmenschen schienen erstaunt, ließen ihn jedoch gewähren. Als die Raststunde zu Ende war, gaben sie ihm eine Sense in die Hand und sagten: »Du hast gegessen, jetzt arbeite!«

Aber davon wollte er nichts hören. Er behauptete, sich fortwährend ausruhen zu müssen, bis zu dem Augenblick, in dem eine ihm zusagende Thätigkeit sich ihm eröffne.

Die Arbeiter gingen wieder an ihre Beschäftigung, er blieb bei den Mädchen und Frauen zurück, die das Ordnen des Eßzeuges besorgten, fing an mit ihnen zu schäkern, machte einem jungen Weibe Liebesanträge und wollte, als dieselben abgewiesen wurden, sofort Gewalt brauchen.

Die Frauen riefen nach Hülfe; einige Männer stürzten herbei und entrissen dem Verbrecher sein Opfer. Da gerieth er in Wuth, zog sein Messer und konnte erst nach heftigem Kampfe niedergeworfen und gebändigt werden.

Je wilder er gerast hatte, desto schonender war man mit ihm umgegangen. Alle bedauerten ihn: »Glücklich, die eines heilsamen Müssens sind,« sprachen sie. »Du bist es nicht; Dein Benehmen ist gemeinschädlich und macht Dich reif für das große Spital.«

Und wirklich wurde er nicht in das kleine Dorfspital, sondern nach dem Hauptspital in die Stadt gebracht.

Dort übernahm ihn ein Krankenwärter und führte ihn eine breite Treppe empor durch einen langen Gang, auf den viele Thüren mündeten. An jeder Thür hing ein Rähmchen, und in jedem Rähmchen stak ein Recept. Hinter den Thüren hörte man jämmerlich klagen und stöhnen.

Dem Verbrecher wurde unheimlich zu Muthe, und kleinlaut erkundigte er sich, was denn da geschehe?

»Es werden Erinnerungszeichen gepflanzt, lies nur die Recepte.«

Und er las: Dreimal täglich fünf Ruthenstreiche. — Allabendlich zwölf Stockprügel. — Vierzehn Tage bei Wasser und Brot ... u. s. w.

»Wie nennt Ihr das?« rief er »Erinnerungszeichen pflanzen? . . . Hol' Euch der Teufel!«

»Ich kenne die Wurzel nicht, aus der ihm ein zureichender Grund dazu erwüchse,« versetzte der Wärter. »Die Erinnerungszeichen, die hier gepflanzt werden, verfehlen ihre Wirkung selten. Sie treiben so zwingende gesunde Motive, daß diese fast regelmäßig genügen, die ungesunden, die etwa in dem Reconvalescenten wieder auftauchen möchten, zu überwinden.«

»Wenn sie aber nicht genügen?«

»Dann wird die Kur wiederholt, so oft wiederholt, bis der Eintritt der gefunden Motive das Selbstverständliche wird und die ungesunden, immer weiter zurückgedrängten, sich endlich gar nicht mehr melden.«

»Wenn sie sich aber durchaus nicht zurückdrängen lasten?«

»Dann geht der Kranke den Weg der Unheilbaren.«

»Was ist das für ein Weg?«

»Das ist der Weg zum Richtplatz.«

»Pfui!« sagte der Verbrecher, »pfui! einen Richtplatz habt Ihr auch?« Er sprach seinen Abscheu gegen dieses letzte Mittel und gegen die ganze Motiv treibende Behandlung aus; der Wärter jedoch zuckte die Achseln und versetzte:

»Was ist zu thun? Wir Menschen sind einmal angewiesen, in Gesellschaft zu leben, und da wir es sind, müssen wir suchen, dieses Zusammenleben möglichst gedeihlich zu gestalten. Nun hat die Erfahrung uns gelehrt, das geschähe am besten, wenn Frieden, gegenseitige Rücksicht und Hülfbereitschaft unter uns herrschen. So haben wir denn die ganze Kraft unseres Müssens auf die Erfüllung jener Bedingungen der allgemeinen Wohlfahrt gestellt. Giebt sich bei Einzelnen ein ihr widerstrebendes Müssen kund, können wir es nur als ein krankhaftes ansehen, und müssen suchen, es zu kuriren.«

»Durch Prügel und Fasten?« rief der Verbrecher.

Der Wärter bemühte sich, ihn zu beruhigen. »Wir befinden uns in der Abtheilung der Schwerkranken«, sprach er. »So scharfe Mittel wie hier werden nur ausnahmsweise angewandt. Bei unserer weit vorgeschrittenen Cultur genügt meistens eine leichte Behandlung zum Auspflanzen eines dauernden .Erinnerungszeichens und zur Heilung eines ungesunden Müssend.«

»Ach, sprächst Du wahr!« fiel ihm ein Mann ins Wort, der sich genähert und den letzten Satz seiner Rede mit angehört hatte. »An mir ist Eure Kunst gescheitert. Ihr habt mich vor einem Jahre als geheilt von meiner Hochmuthskrankheit entlasten, und heute schon habe ich in einem Zeitungsartikel mein eigenes philosophisches System auf Kosten aller bisher aufgestellten gelobt, und jene schmählich heruntergemacht. Gebt mir mein Geld zurück, oder nehmt mich von Neuem in die Kur.«

Der Wärter lud ihn ein, ihm ins Ordinationszimmer zu folgen, wohin er eben einen Fremden, der sehr krank sei, führen müsse. — Da brach der Verbrecher jedoch in helle Empörung aus. »Geht ohne mich!« schrie er, »ich habe des Spaßes genug.« Er wandte sich und wollte entfliehen. Der Wärter lief ihm nach, hielt ihn fest; ein furchtbares Ringen entstand, und ehe die aus allen Zellen heraneilenden Kranken es hindern konnten, hatte der Verbrecher den Wärter erdrosselt.

Daß war die letzte seiner Thaten.

Nachdem die Spittler ihr wärmstes Mitleid mit seinem hochgefährlichen Zustand geäußert hatten, überwältigten sie ihn und schleppten ihn vor die Doctoren.

Einen Augenblick war dem Verbrecher seine Frechheit abhanden gekommen; angesichts der Sanftmuth und Ruhe, mit welcher die Aerzte sich gegen ihn benahmen, kehrte sie wieder zurück, und er beantwortete voll Hohn die an ihn gestellten Fragen.

Die Doctoren erklärten seinen Fall als einen unerhört schweren und dictirten eine allerdings schreckliche Behandlung. Er ließ sie ausreden und schlug dann ein tolles Gelächter auf.

»Ihr habt Euch umsonst bemüht,« spottete er; »ich lasse mir Eure Behandlung nicht gefallen, weil ich Euren Anordnungen nicht unterstehe, weil ich ein freier Mensch bin.«

Die Doctoren sahen einander erstaunt an: »Ein freier Mensch? was heißt das?« fragten sie.

»Das heißt, Ihr Automaten, daß Ihr Eure Tractirungen an mir nicht versuchen dürft, weil ich nichts gemein mit Euch habe, weil ich kein Mußmensch bin. Was ich gethan habe, habe ich thun wollen und hätte auch ganz anders handeln können."

Bei diesen Worten bemächtigte sich der Versammlung ein maßloses Entsetzen.

»Weh über Dich!« riefen die Doctoren; »Du hättest das Ungesunde und Gemeinschädliche nicht thun müssen, und hast es dennoch gethan? Ungeheuer! scheußliche Ausnahme des allweisen, allherrschenden Gesetzes! ... Für Dich haben wir keine Behandlung, Du mußt den Weg der Unheilbaren gehen.«

Der Verbrecher gerieth außer sich, als dieses Verdict über ihn gefällt wurde. »Da bin ich schön angekommen«, sprach er. »Vermaledeites Mußpack! Thut man bei Euch, was man muß, wird man geprügelt; thut man, was man will, wird man gerichtet.«

Noch vor dem Blocke schimpfte er fort.

»Hochmüthige Culturaffen, Ihr seid ebenso dumm, wie bei uns die Leute sind. Euer Müssen und unser Wollen, Eure Receptschreiber und unsere Richter, es kommt auf eins heraus."

»Ja,« erwiderte der Henker, »es kommt eigentlich auf eins heraus,« und waltete seines Amtes.

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