Fünftes Hundert.

 

Aphorismen vin Marie von Ebner-Eschenbach, fünftes Hundert

 

1.

Wisset, die Euch Haß predigen, erlösen Euch nicht.


2.

Wir werden vom Schicksal hart oder weich geklopft; kommt auf das Material an.


3.

Die Aufgabe vieler Dichter-Generationen ist keine andere, als das Werkzeug blank zu erhalten.


4.

Welcher Autor darf sagen, daß der Gedanke an die Oberflächlichkeit der meisten Leser ihm stets ein peinlicher, und nicht mitunter auch ein tröstlicher sei?


5.

Freundlichkeit kann man kaufen.


6.

Der Platz des Unparteiischen ist auf Erden zwischen den Stühlen, im Himmel aber wird er zur Rechten Gottes sitzen.


7.

Kein Mensch weiß, was in ihm schlummert und zu Tage kommt, wenn sein Schicksal anfängt, ihm über den Kopf zu wachsen.


8.

Genire Dich vor Dir selbst, das ist der Anfang aller Vorzüglichkeit.


9.

Die Litteratur wird heutzutage meist als Kunsthandwerk betrieben.


10.

Einen mit Weisheit Gesalbten darf man nie warm werden lassen, sonst trieft er.


11.

Man kann sich nicht im Besitz von eigentlich unveräußerlichen Gütern befinden, ohne etwas von seinem Rechtssinn einzubüßen.


12.

Die Reue treibt den Schwachen zur Verzweiflung und macht den Starken zum Heiligen.


13.

Je ungebildeter ein Mensch, je schneller ist er mit einer Ausrede fertig.


14.

Die Erfolge des Tages gehören der verwegenen Mittel- Mäßigkeit.


15.

Alberne Leute sagen Dummheiten, gescheite Leute machen sie.


16.

Das scheinbar am unnöthigsten gebrachte, thörichtste Opfer steht der absoluten Weisheit immer noch näher als die klügste That der sogenannten berechtigten Selbstsucht.


17.

Der Verstand wird meist auf Kosten des Gemüthes ausgebildet. — O nein, aber es giebt mehr bildungsfähige Köpfe als bildungsfähige Herzen.


18.

Der Arbeiter soll seine Pflicht thun, der Arbeitgeber soll mehr thun als seine Pflicht.


19.

Bei den Hottentotten ist nicht einmal Napoleon berühmt.


20.

Die Katzen halten keinen für eloquent, der nicht miauen kann.


21.

Ob das Werkzeug früher versagt oder die Hand, ist ein großer Unterschied, kommt aber auf eins heraus.


22.

Das Leben erzieht die großen Menschen und läßt die kleinen laufen.


23.

Der Pfennig der Wittwe wird von der Kirche dankbar quittirt. Willst Du gleichen Lohn empfangen im Tempel der Kunst, dann sei ein Krösus und bringe Dein Hab' und Gut.

24.

Geistlose Lustigkeit — Fratze der Heiterkeit.


25.

Es glaube doch nicht Jeder, der im Stande war, seine Meinung von einem Kunstwerk aufzuschreiben, er habe es kritisirt.


26.

Einen Menschen kennen, heißt ihn lieben oder ihn bedauern.


27.

Steril ist der, dem nichts einfällt; langweilig ist, der ein paar alte Gedanken hat, die ihm alle Tage neu einfallen.


28.

Es giebt wenig aufrichtige Freunde — die Nachfrage ist auch gering.


29.

Der von Schaffensfreude spricht, hat höchstens Mücken geboren.


30.

Die Wunden, die unserer Eitelkeit geschlagen werden, sind halb geheilt, wenn es uns gelingt, sie zu verbergen.


31.

Wir sind leicht bereit, uns selbst zu tadeln, unter der Bedingung — daß Niemand einstimmt.


32.

Sei froh, wenn jeder Lober Dir nur einen Neider erweckt.


33.

Klarheit ist Wahrhaftigkeit in der Kunst und in der Wissenschaft.


34.

So weit Deine Selbstbeherrschung geht, so weit geht Deine Freiheit.


35.

Was Du bekrittelst, hast Du verloren.


36.

Der Leichtsinnige kümmert sich nicht einmal um den morgigen Tag, und Ihr wollt ihn mit der Ewigkeit schrecken?


37.

Es ist schwer Den, der uns bewundert, für einen Dummkopf zu halten.


38.

Daß soviel Ungezogenheit gut durch die Welt kommt, daran ist die Wohlerzogenheit schuld.


39.

Nur der Denkende erlebt sein Leben, am Gedankenlosen zieht es vorbei.


40.

Wenn Ihr müßtet, daß Ihr solidarisch seid für jedes begangene Unrecht, das Lästern würde Euch vergehen.


41.

Der sich gar zu leicht bereit findet, seine Fehler einzusehen, ist selten der Besserung fähig.


42.

Manche Menschen haben ein Herz von Eisen und drin ein Fleckchen so weich wie Brei.


43.

Die öffentliche Meinung wird verachtet von den erhabensten und von den am tiefsten gesunkenen Menschen.


44.

Es giebt keine schüchternen Lehrlinge mehr, es giebt nur noch schüchterne Meister.


45.

Was geschehen ist, so lange die Welt steht, braucht deshalb nicht zu geschehen, so lange sie noch stehen wird.


46.

Wenn wir nur das Unrecht hassen und nicht Diejenigen, die es thun, werden wir unsere Kampfgenossen und unsere Feinde lieben.


47.

Unbefangenheit, Geradheit, Bescheidenheit sind auch göttliche Tugenden.


48.

Mißtraue Deinem Urtheil, sobald Du darin den Schatten eines persönlichen Motivs entdecken kannst.


49.

Der Ignorant weiß nichts, der Parteimann will nichts wissen.


50.

Wir sind in Todesangst, daß die Nächstenliebe sich zu weit ausbreiten könnte, und richten Schranken gegen sie auf — die Nationalitäten.


51.

Nichts Besseres kann der Künstler sich wünschen als grobe Freunde und höfliche Feinde.


52.

Alle historischen Rechte veralten.


53.

Anspruchslosigkeit ist Seligkeit.


54.

Ein armer wohlthätiger Mensch kann sich manchmal reich fühlen, ein geiziger Krösus nie.


55.

Der Ruhm der kleinen Leute heißt Erfolg.


56.

Besondere Stände haben sich gebildet, um uns zu vermitteln, was nur durch die unmittelbarste Einwirkung in uns lebendig werden kann.


57.

Der völlig vorurtheilslos ist, muß es auch gegen das Vorurtheil sein.


58.

Die "Vornehmen" — etymologisch Diejenigen, die vor allen Andern nehmen, und zugleich die Bezeichnung für Adelige oder Edle.


59.

Wer hat nicht schon das, was er sich zutraut, für das gehalten, was er vermag?


60.

Ein Held — hochheiliger Ernst der Natur; eine Heldin — Spiel der Natur.


61.

Immer wird die Gleichgültigkeit und die Menschenverachtung dem Mitgefühl und der Menschenliebe gegenüber einen Schein von geistiger Ueberlegenheit annehmen können.


62.

Wir unterschätzen das, was wir haben, und überschätzen das, was wir sind.


63.

So Manches können wir Anderen zu Liebe thun, unsere Schuldigkeit thun wir immer nur uns selbst zu Liebe.


64.

Es giebt eine nähere Verwandtschaft als die zwischen Mutter und Kind: die zwischen dem Künstler und seinem Werke.


65.

Die Summe unserer Erkenntnisse besteht aus dem, was wir gelernt, und aus dem, was wir vergessen haben.


66.

Begeisterung spricht nicht immer für Den, der sie erweckt, und immer für Den, der sie empfindet.


67.

Die still stehende Uhr, die täglich zwei Mal die richtige Zeit angezeigt hat, blickt nach Jahren auf eine lange Reihe von Erfolgen zurück.


68.

Während ein Feuerwerk abgebrannt wird, sieht Niewand nach dem gestirnten Himmel.


69.

Was wir unserem besten Freunde nicht anvertrauen würden, rufen wir ins Publikum.


70.

Auch der ungewöhnlichste Mensch ist gehalten, seine ganz gewöhnliche Schuldigkeit zu thun.


71.

Eine ungeschickte Schmeichelei kann uns tiefer demüthigen als ein wohlbegründeter Tadel.


72.

Der Hans, der etwas erlernte, was Hänschen nicht gelernt, der weiß es gut.


73.

Ein Hauptzweck unserer Selbsterziehung ist: die Eitelkeit in uns zu ertödten, ohne welche wir nie erzogen worden wären.


74.

Das Talent zu herrschen, täuscht oft über den Mangel an anderem Talent.


75.

Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.


76.

Was wissen wir nicht alles zur Entschuldigung von Fehlern und Uebelständen vorzubringen, aus denen wir Nutzen ziehen!


77.

Nichts bist Du, nichts ohne die Andern. Der verbissenste Misanthrop braucht die Menschen doch, wenn auch nur, um sie zu verachten.


78.

Kein Todter ist so gut begraben wie eine erloschene Leidenschaft.


79.

Man kann den Leuten aus dem Wege gehen, vor lauter Verachtung oder — vor lauter Respekt.


80.

Die Treue ist etwas so Heiliges, daß sie sogar einem unrechtmäßigen Verhältnisse Weihe verleiht.


81.

An dem Manna der Anerkennung lassen wir es uns nicht genügen, uns verlangt nach dem Gifte der Schmeichelei.


82.

Ueberlege wohl, bevor Du Dich der Einsamkeit ergiebst, ob Du auch für Dich selbst ein heilsamer Umgang bist.


83.

Wir sind Herr über unsere gerechtfertigten Neigungen und werden von den ungerechtfertigten am Narrenseil geführt.


84.

Glaube Deinen Schmeichlern — Du bist verloren; glaube Deinen Feinden — Du verzweifelst.


85.

Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf — es kommt nur auf die Entfernung an.


86.

Am weitesten in der Rücksichtslosigkeit bringen es die Menschen, die vom Leben nichts verlangen als ihr Behagen.


87.

Der kleinste Hügel vermag uns die Aussicht auf einen Chimborazo zu verdecken.


88.

Wir können es im Alter zu nichts Schönerem bringen, als zu einem milden und anspruchslosen Ouietismus.


89.

Nichts schwerer als Den gelten lassen, der uns nicht gelten läßt.


90.

Was Dein Wort zu bedeuten hat, erfährst Du durch den Widerhall, den es erweckt.


91.

Es steht etwas über unseren schaffensfreudigen Gedanken, das feiner und schärfer ist als sie. Es sieht ihrem Entstehen zu, es überwacht, ordnet und zügelt sie, es mildert ihnen oft die Farben, wenn sie Bilder weben, und hält sie am knappsten, wenn sie Schlüsse ziehen. Seine Ausbildung hängt von der unserer edelsten Fähigkeiten ab. Es ist nicht selbst schöpferisch, aber wo es fehlt, kann nichts Dauerndes entstehen; es ist eine moralische Kraft, ohne die unsere geistige nur Schemen hervorbringt; es ist das Talent zum Talent, sein Halt, sein Auge, sein Richter, es ist — das künstlerische Gewissen.


92.

Die Großmuth ist nicht immer am rechten Platz, der Geiz aber ist immer am unrechten.


93.

Auch das kleinste Licht hat sein Atmosphärchen.


94.

Wir sträuben uns gegen das Leiden, wer aber möchte nicht gelitten haben?


95.

Nenne Dich nicht arm, weil Deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind; wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.


96.

So reich unser Leben an wohlausgenützten Gelegenheiten war, vortrefflichen Menschen nahe zu stehen, so reich ist es überhaupt gewwesen.


97.

Wie theuer Du eine schöne Illusion auch bezahltest, Du hast doch einen guten Handel gemacht.


98.

Wohl finden wir unsere Worte auf den Lippen der Freunde wieder, aber nicht mehr als unser, sondern als ihr Eigenthum.


99.

Am Ziele Deiner Wünsche wirst Du jedenfalls Eines missen: Dein Wandern zum Ziel.


100.

Wir müssen immer lernen, zuletzt auch noch sterben lernen.

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