Ausgewählte Essays

Goethe und die Jugend

Im Geiste der gegenwärtigen Kultur erfährt das Bild Goethes eine eigenartige Metamorphose.

Wie uns jetzt überhaupt das Leben als Prozess, als flutende Bewegtheit, einen überragenden Wichtigkeitsakzent gewinnt, über alle einzelnen Inhalte hinaus, die es trägt - so scheint es, als würden uns allmählich die einzelnen Werke Goethes weniger bedeutsam als sein Leben; nicht gerade im Sinne einer Biographie, die dessen äußere Erscheinungen aneinander reiht, sondern als Bild einer ganz einzigen Weite, Tiefe und Dynamik der Existenz, eines reinsten Auslebens der inneren Spannkräfte und ihres Verhältnisses zur Welt, einer Vergeistigung eines unerhörten Umkreises der Wirklichkeit.

Dass man es »einzig« nennen darf - das hat einen gewissen inneren Widerspruch zu überwinden.

Denn gerade Goethes Dasein war das schlechthin typische Menschenleben, es ist die Nachzeichnung der Idee Mensch in den reinsten Linien; seiner Entwicklung gegenüber empfinden wir anderen unser Leben, als ob es durch lauter äußere Zufälligkeiten und innere Lücken und Übertriebenheiten fortwährend von der eigentlichen einfach natürlichen, unserem echten Menschenwesen eingeborenen Richtung und Periodik abgebogen wäre.

Seine Jugend, sein Mannesalter, sein Greisentum scheinen jenseits aller einzelnen Inhalte, jenseits vielleicht auch der an diesen haftenden Unvollkommenheiten, gerade als solche Stadien unserer Entwicklung überhaupt schlechthin vollkommen zu sein; rein als die Perioden des allgemeinen Naturprozesses: Menschenleben - angesehen, zeichnen sie gleichsam die Formen des allmählichen Sich-zu-Ende-Lebens mit einer unvergleichlichen Typik und Klarheit.

Aber wenn wir diese Entwicklung mit wenigen Strichen umrissen haben werden, wird sich zeigen, dass gerade die entscheidenden Züge der Jugend noch eine, über die ihnen vorbehaltenen Jahre hinausgehende Bedeutung für die Ganzheit seines Lebens besitzen.

Goethes Jugend ist durchaus von dem Ideal geführt: seine Existenz rein als Existenz zu möglichster Höhe, Stärke, Vollkommenheit zu entwickeln.

Gewiss ist er von vornherein den Dingen und den sachlichen Aufgaben selbstlos und begeistert hingegeben; aber zum Grunde liegt die Leidenschaft, durch all diese Äußerungen seiner Persönlichkeit und deren Rückwirkung auf eben diese ein Leben zu gewinnen, das rein als Leben, als diese rastlose individuelle Bewegtheit sich zur Vollendung hebe.

Als »Übung« betrachtet er damals alles, was er überhaupt tut; an den ihm nächsten Menschen schreibt er, wie er diesem selbst sagt, immer nur von sich selbst: denn »mir inwendig ist zu tun genug; von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich nichts sagen«.

Von dem bloßen Gefühl seines Daseins bekennt Werter sich erfüllt, so dass er seine sachlichen Aufgaben darüber aus den Augen verliere.

Begreiflich genug ist die Formel dieser Jugend: »Gefühl ist alles«.

Kaum ist der Götz erschienen, so kränkt es ihn, dass zu viel Gedachtes darin wäre, dass er nicht genug aus dem Gefühl, auf das alles ankäme, gequollen sei.

Mit 24 Jahren sieht er die Vollendung seiner künftigen Lebensarbeit nicht von sachlichen Motiven, nicht von der Bewegungskraft irgendwelcher Inhalte abhängig, sondern von seiner »Lebhaftigkeit« und seiner »Liebe«.

Die unzähligen Male, wo er in diesen Jahren von Gefühl und Gefühlen spricht, ist dies immer nur der subjektive Reflex seiner Lebensbewegtheit als ganzer, alle benennbaren Erlebnisse sind nur die Gelegenheitsursachen, an denen die rein inneren, rein funktionellen Schicksale dieser Existenz, die Flutungen und Überflutungen hervorbrechen, die die Entwicklungsnotwendigkeiten seines nur auf sich hörenden Lebens sind.

Alles dies aber ist doch die Formel der Jugend überhaupt.

Denn will man deren Polarität gegen das Alter an den letzten Kategorien unserer Existenz ausdrücken, so sind es diese: dass in der Jugend der Prozess des Lebens das Übergewicht über seine Inhalte hat, im Alter aber die Inhalte über den Prozess.

Die Jugend will vor allem die drängenden Kräfte ausleben, relativ gleichviel woran, die gesammelte Potentialität des Lebens will ihre Spannungen lösen, will sich zunächst nur ihres eigenen Daseins, ihrer eigenen Lebendigkeit gewiss machen.

Darum ist ihr die Eigenbedeutung der Dinge noch fremder, fehlt ihr die objektive Wertung der Lebensinhalte.

Diese aber tritt hervor, sobald jene alles überrauschende Eigenströmung des Lebens sich verlangsamt, sobald der Prozess des Lebens schwächer wird; in eben diesem Maße wird uns der Sachgehalt der Dinge als solcher wichtiger, das Ich expatriiert sich gleichsam und lebt in den übersubjektiven, der Lebensflutung enthobenen Bildern und Wertungen seiner Inhalte.

Niemand hat uns diese Stadien mit solcher gleichzeitigen Reinheit und Dynamik vorgelebt wie Goethe.

Niemals ist jenes tiefste Naturgesetz der Jugend, dass das Leben ihr mehr ist als seine Inhalte, und ihr daraus folgendes Ideal: das lebendige Dasein zur Vollendung zu steigern, statt irgendeiner seiner benennbaren Einzelheiten - mit solcher Tiefe und Anschaulichkeit verkörpert worden.

Vielleicht liegt hier die Basis einer Überzeugung Goethes, die für die Lebensanschauung überhaupt und für die Pädagogik im besonderen höchst wesentlich ist: dass die Jugend, vom frühesten Kindesalter an, keineswegs nur daraufhin angesehen werden darf, was einmal aus ihr werden wird, sondern dass jedes Stadium des Lebens ein in sich Abgeschlossenes, eigen-einziger Vollendung Fähiges, einer nur für eben dieses Stadium gültigen Forderung Unterworfenes ist.

Eine »glückliche« Beschränkung der Jugend, ja der Menschen überhaupt nennt er es, dass sie sich »in jedem Augenblick ihres Daseins für vollendet halten« könne.

Wie und weil ihm das Leben seinen Zweck nicht irgendwie außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst hat, so hat ihn auch jede Periode nicht in einer anderen Periode, sondern in ihrem eigenen, besonderen Vollendetsein.

Der Zweck des Lebens, sagt er ausdrücklich, ist das Leben selbst.

Für die Bedeutung, die das Prinzip der Jugend für ihn hatte, sind, wie sich noch zeigen wird, die Äußerungen dieses Sinnes höchst wichtig, so dass ich noch einige anführe: »Das Tun interessiert, das Getane nicht.« »Die Lebensbeschreibung soll das Leben darstellen, wie es an und für sich und um sein selbst willen da ist. Dem Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, wenn er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren.« »Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an.«

Solche aus ganz verschiedenen und späten Jahren stammenden Sätze muss unser Gedankengang festhalten, wenn er nun zu Goethes großer Wendung von der Jugend zum Alter gelangt, die das mit alledem ausgesprochene Prinzip der Jugend: die Prärogative des Lebensprozesses vor seinen Inhalten - unmittelbar zu verleugnen scheint.

Spätestens nach der italienischen Reise ist Goethes Jugendideal: die Vollendung der persönlichen Existenz, das höchste und reinste Ausleben und Gestalten des Ich - in die objektiven Ideale: des Handelns (als Schaffen wie als Wirken) und des Erkennens übergegangen.

Und entsprechend verläuft, für sein eigenes Bewusstsein, sein Leben nicht mehr unter der Ägide des Gefühls, diesem eigentlichen Reflex unseres subjektiven Seins, sondern wird von Willen und Verstand geführt.

Von der »gebändigten Selbstigkeit« seines höheren Alters spricht er, mit der er nun erst den Gegenständen»das gebührende Recht widerfahren lasse«, von dem Zurücktreten des Gefühls, dem gegenüber es für ihn nur noch »Wort und Tat« gäbe; ja selbst innerhalb seiner dichterischen Produktion weicht die glühende lyrische Unmittelbarkeit, weicht die Schöpfung als das Herausquellen einer nur auf sich selbst hörenden Innerlichkeit - dem kühleren Stil des Erzählenden, der ein objektives Kunstgebilde darbietet.

Der ideelle Ausgangspunkt ist nicht mehr das Ich, als dessen Lebensschwingungen oder auch als dessen Erlösungen das Werk geboren wird, sondern die künstlerische Norm, der genügt werden soll, das überpersönliche Gesetz des Kunstwerks.

Ja, so weit tritt schließlich seine Entwicklung von seiner Subjektivität, von dem bloßen Aussichherausleben zurück, dass er sein eigenes Dasein als etwas Objektives empfindet, von sich spricht wie von einem beobachteten Dritten; was er dachte und fühlte, war ihm ein sachliches Ereignis innerhalb des kosmischen Geschehens wie Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte. (Ich entnehme diese Formulierung meinem Buche: »Goethe«. Leipzig 1913)

Und wenn die Liebenswürdigkeit, mit der der junge Goethe alle Welt bezauberte, in jenem vorbehaltlosen Sichhinströmen lag, in der Offenbarung eines Lebens, das sich in jedem Augenblick so ganz gab, wie es ganz nur es selbst war - so scheint die Wirkung seiner Persönlichkeit im Greisenalter sich in einer fast dämonischen Objektivität zu gründen, für die auch das Persönlichste sozusagen ein plastischer, sachlich beurteilter Gegenstand wurde.

Während also mit jener reinen Typik, in der die Goethische Entwicklung die Entwicklung des Menschen überhaupt symbolisiert, die Form der Jugendlichkeit in die des Alters überzugehen scheint, zeigt sich nun das Merkwürdige, dass die in diesen Gegensätzen bewegte Erstreckung seines Lebens dennoch als ganze noch einmal von jenem Gesetz der Jugend umgriffen, von ihrer eigenartigen Dynamik durchblutet ist.

Das hiermit Gemeinte wird durch das gedeutet, was mir als die allgemeinste Formel der Goethischen Existenz überhaupt, sozusagen der Idee Goethe, erscheint.

Während bei der Mehrzahl aller Menschen - bei allen nicht genialen - das subjektive Leben, insoweit es nur seinen Trieben, seinen persönlichen Notwendigkeiten, seiner bloßen Natur folgt, ein rein zufälliges Verhältnis zu dem objektiven Wert seiner Erzeugnisse und Ergebnisse hat - ist es das Wunder der Goethischen Existenz, dass in ihm jenes subjektive Leben wie selbstverständlich in der objektiv wertvollen Produktion in Kunst, Erkennen, praktischem Verhalten ausmündete.

Der Grundton seines Lebens erklang in einer wunderbaren Harmonie des persönlichen Daseins und Sichentwickelns mit dem sachlichen Bilde, mit der werthaften Gestaltung der Dinge.

Es ist, als ob jene letzte metaphysische Einheit der Wirklichkeit in sich und zwischen dieser Wirklichkeit und ihrem Sinn und Wert, jene Einheit, die sich in der erfahrbaren Welt sonst in lauter Zersplitterungen, Fremdheiten und Gegensätze spaltet, in ihm reiner, ungebrochener und in einem weiteren Lebensumkreis zu Worte käme als in irgendeiner sonst bekannten Erscheinung.

Seinen Kräften und Trieben, wie sie ihm gegeben waren, der bloßen Wirklichkeit seines Lebensprozesses, wie seine Natur ihn von innen her entwickelte, konnte er sich überlassen, sicher, dass dieser Prozess gerade so seine wertvollsten Inhalte hervorbringen würde, dass er gerade damit den Forderungen der Sache wie der Idee am besten genüge.

Darum freut ihn so ganz besonders die Bestätigung, die ihm von Schiller kommt, dass »dasjenige, was er seiner Natur gemäß hervorgebracht habe, auch der Natur des Werkes gemäß sei«; darum schreibt er von der italienischen Reise, er könne alles das fast nicht bewältigen, was auf ihn eindränge - »und doch entwickelt sich alles von innen heraus«.

Wie hätte er sonst sagen können: »Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?« Hier liegt die Quelle seiner ungeheuren Instinktsicherheit, oder vielmehr, dies ist sie schon selbst: er konnte das Vertrauen zu dem bloßen, eigengesetzlichen Prozess seines Lebens haben, dass dieser zugleich den Gesetzen seiner Inhalte genüge, auch wenn man diese in ihrer eigengesetzlichen Objektivität, in ihrer Gelöstheit von der erzeugenden Funktion der Persönlichkeit ansah.

So hat er sich bis zuletzt tatsächlich der spontanen Bewegtheit und Getriebenheit seines Lebensprozesses hingeben können, dem natürlichen Wachstum einer bis zuletzt rastlosen Entwicklung.

Darum ist der ganze Wandel seiner Einstellungen zwischen Jugend und Alter, den ich beschrieb, schließlich doch von dem Lebensprinzip der Jugend getragen, von der Herrschaft des Lebensprozesses über alles, was dieses Leben an Sachgehalten hervorbringt, aufnimmt, verarbeitet.

Man möchte sagen: die typische Entwicklung des Menschen überhaupt, die sich in Goethe so unvergleichlich rein und treu vollzieht, von der Funktion zum Gehalt, vom Subjektiven zum Objektiven, wird nun noch einmal von jenem kosmischen oder metaphysischen Geheimnis seiner Individualität umfasst oder durchwachsen: dass er, soweit es einem Menschen beschieden sein kann, in seinem bloßen subjektiven Leben das Leben von Welt und Idee ausdrückte.

Ihm war erspart, was den theoretischen Menschen, aber doch nicht nur diesen, so oft bedrängt: dass sein Werk eine Hemmung seines Lebens ist.

Indem sich die Wertmaßstäbe, die Intentionen, die Kraftquellen aus dem von innen bewegten Leben heraus in die reine Sachlichkeit verlegen, wird eben diese Bewegtheit unzählige Male abgebogen oder festgenagelt, und nur das, was man in dem tiefsten Sinne die Harmonie der Goethischen Natur nennen darf, war dem enthoben.

Jene große Umstellung der jugendlichen zu den Altersmotivierungen, die den meisten von uns den Existenzsinn völlig invertiert, konnte er vollziehen, sicher, dass er damit nur dieselbe Gleichung von der anderen Seite her las, und dass damit die Grundformel: das Leben, das nur seine eigenen Kräfte entwickeln und bewähren will, dieser spezifische Rhythmus der Jugend, nicht aus ihrer Geltung rückte, sondern sich als weit genug und stark genug zeigte, alle relativen Gegensätzlichkeiten der Lebensperiodik in sich aufzunehmen.

Wenn er mit 25 Jahren schreibt: »Meine Arbeiten sind immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens« und damit das Wesen des jugendlichen Schöpfers aufs vollkommenste bezeichnet, so äußert er sich 40 Jahre später in genau demselben Sinne: »Meine ernstliche Betrachtung ist jetzt die neueste Ausgabe meiner Lebensspuren, welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt.« Nur scheinbar widerspricht dies der Objektivität, dem überpersönlichen Sachinteresse seines Alters.

In Wirklichkeit ist dieser Gegensatz, in all seiner Reinheit und Entschiedenheit, sozusagen ein relativer, und das absolute Ganze, innerhalb dessen er sich erhebt, hat wiederum den Charakter der Jugend.

Im Unterschiede daher von den Sachmenschen, deren Lebensprozess nicht von sich her, sondern von seinen Inhalten her bestimmt wird, und die immer einen Zug, von Altsein haben, ist in Goethe etwas von ewiger Jugend - wie er denn in seinem 79.Jahre, zweifellos mit Bezug auf sich selbst, von genialen Naturen spricht, die immer wieder eine Pubertät »auch während ihres Alters« erleben, »während andere Leute nur einmal jung sind«.

So muss man wohl sagen, dass für das Bild seines Dasein »Jugend« zweierlei Bedeutungen besitzt.

Er hatte eine zeitliche und eine sozusagen zeitlose Jugend, eine, die die typisch menschliche Entwicklung in das Alter umschlagen ließ, und eine, die dieser ganzen Entwicklung ihre Färbung gab, eine, die etwas Empirisches war und mit all ihrer Schönheit in der Tragik der Vergänglichkeit stand, und eine, die den metaphysischen Sinn der Idee Goethe trug.

 

aus: Der Tag, Nr. 395, 6. August 1914, Ausgabe A, Abendausgabe (Berlin)

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