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Marcel Reich-Ranicki

Der deutscher Publizist Marcel Reich-Ranicki, geboren am 2. Juni 1920 als Marceli Reich in Wloclawek, Polen, gilt als der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart. Er wird geliebt von seinen Freunden und Verehrern, gehasst, belächelt und verspottet von seinen Gegnern und gefürchtet von den Autoren, die auf sein literarisches Urteil angewiesen sind. Dabei macht Reich-Ranicki selbst keinen Unterschied zwischen Freund und Feind, sondern sagt einfach und spontan seine Meinung. Das bekam auch das Deutsche Fernsehwesen zu spüren, als Marcel Reich-Ranicki am 11. Oktober 2008 für sein Lebenswerk und seine Sendung Das Literarische Quartett den Deutschen Fernsehpreis erhalten sollte. Unter spontanem Hinweis auf den "Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben", lehnte er die Auszeichnung ab.

Marcel Reich-Ranicki wuchs in einer jüdischen deutsch-polnischen Mittelstandsfamilie in der polnischen Provinz auf. Nachdem sein Vater mit seiner Fabrik pleite ging, schickten ihn die Eltern zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin. Ab 1929 lebte Reich-Ranicki zunächst in Berlin-Charlottenburg, dann im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg. Dort besuchte er das Werner-Siemens-Realgymnasium und nach dessen Auflösung 1935 das Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf.

Während seine Schulkameraden an Schulausflügen, Sportfesten und nationalsozialistischen Schulversammlungen teilnahmen, war er wegen seiner jüdischen Abstammung davon ausgeschlossen.

Reich-Ranicki vertiefte sich währenddessen in die Lektüre der deutschen Klassiker und besuchte Theater, Konzerte und Opern. Besonders die Aufführungen Wilhelm Furtwänglers und Gustaf Gründgens' waren ihm Trost und Halt in der zunehmend restriktiver werdenden Umwelt. Als ihm bekannt wurde, dass sich Thomas Mann von der NS-Herrschaft öffentlich distanziert hatte, wurde dieser nicht nur sein literarisches sondern auch moralisches Vorbild.

Ende Oktober 1938 wurde Reich-Ranicki nach kurzer Abschiebehaft in der "Polenaktion" zusammen mit weiteren 17.000 polnischen und staatenlosen jüdischen Mitbürgern nach Polen ausgewiesen.

Im November 1940 wurde Reich-Ranicki zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen. Dort arbeitete er bei dem von den Nazis eingesetzten Ältestenrat ("Judenrat") als Übersetzer und schrieb unter dem Autoren-Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen in der zweimal wöchentlich erscheinenden Ghettozeitung Gazeta ?ydowska. Gleichzeitig war er Mitarbeiter im Ghetto-Untergrundarchiv des Emanuel Ringelblum.

Als am 22. Juli 1942 die "Umsiedlung" des Ghettos angeordnet wurde und noch am selben Tag beginnen sollte, heiratete Reich-Ranicki noch am gleichen Tag seine Lebensgefährtin Teofila Langnas, da Beschäftigte des "Judenrats" und ihre Ehefrauen von der Umsiedlung verschont blieben. Auch der Deportation im Januar 1943 konnte das Ehepaar entkommen.

Nach dem Krieg zog Marcel Reich-Ranicki nach Deutschland zurück und arbeitete ab August 1958 als Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Mitglieder der Gruppe 47, Siegfried Lenz und Wolfgang Koeppen halfen ihm unter anderem, indem sie ihn ihre Bücher rezensieren ließen. Der Leiter der Literaturredaktion der FAZ, Friedrich Sieburg, setzte bald jedoch Reich-Ranickis Ausscheiden aus der Redaktion durch.

Ende 1959 zog Reich-Ranicki mit seiner Frau nach Hamburg-Niendorf und arbeitete von 1960 bis 1973 als Literaturkritiker der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Er hatte dort schon sehr früh das Recht auf die Auswahl seiner Bücher, die er besprechen wollte, doch wurde er andererseits niemals zur Teilnahme an den Redaktionskonferenzen eingeladen. 1973 erhielt Reich-Ranicki die Leitung der Literaturredaktion der FAZ wo er die Freiheit hatte, alle Autoren, gleich welcher politischer Couleur, im Feuilleton der FAZ zu drucken. Dabei entwickelte er das so gefürchtete Engagement für seine favorisierten Autoren, die er mit nie nachlassender Aufmerksamkeit bedachte.

Literarische Verdienste erwarb sich Reich-Ranicki durch die Redaktion der von ihm begründeten Frankfurter Anthologie, in der bis heute bereits über 1500 Gedichte deutschsprachiger Autorinnen und Autoren mit Interpretationen versammelt sind. Daneben hat er beständig über Jahrzehnte hinweg das Projekt einer Auslese der seiner Meinung nach besten Werke der deutschsprachigen Belletristik vorangetrieben.

Vom 25. März 1988 bis zum 14. Dezember 2001 leitete Reich-Ranicki die Sendung Das Literarische Quartett im ZDF, mit der er bei einem größeren Publikum einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, obwohl er in Fachkreisen auch vor dieser Sendung längst als "Literaturpapst" bekannt war und als der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart galt. Die Sendung zeichnete sich durch eine lebhafte und kontroverse Diskussionskultur aus in der Reich-Ranicki immer wieder grantig auf seiner Meinung beharrte. Sein kantiges Profil machten Reich-Ranicki auch über die Literaturszene hinaus populär. So kennen einer Umfrage zufolge 98 Prozent der deutschen Bevölkerung seinen Namen.

In der Wochenzeitschrift Der Spiegel stellte Reich-Ranicki am 18. Juni 2001 unter dem Titel "Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke" sein Opus Magnum zu diesem Lebensthema vor. Die Anthologien sind unterteilt in "Romane", "Dramen", "Essays", "Erzählungen" und "Gedichte", aber auch die Empfehlung, manches nur im Auszug zu lesen, womit Reich-Ranicki einmal mehr seinen Einfluss nutzte, um seine höchstpersönliche Meinung zur literarischen Messlatte zu erklären.

Auch international ist Marcel Reich-Ranicki eine anerkannte Autorität. 1968 und 1969 lehrte er an amerikanischen Universitäten und 1971 bis 1975 hatte er eine Gastprofessur in Stockholm und Uppsala inne.

Zu seinem kantigen Profil gehört jedoch auch das soziale Engagement, das Marcel Reich-Ranicki nich tnur in der Literaturszene zeigt, wo er unter anderen 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis initiierte, sondern auch im Rahmen der deutsch-jüdischen Erneuerung. Mit dem stets erhobenen mahnenden Zeigefinger des Zeitzeugen arbeitete er für eine Aussöhnung und Wiederannäherung der deutsch-jüdischen Kulturkreise. Am 27. Januar 2012 schilderte Reich-Ranicki zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestags zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als Hauptredner, wie er im Warschauer Ghetto den ersten Tag der Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka als Übersetzer des "Judenrats" erlebte.

Am 4. März 2013 gab Reich-Ranicki bekannt, an Krebs erkrankt zu sein. Ein halbes Jahr später, am 18. September 2013, starb er in Frankfurt am Main.

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