10. Kapitel. Der Umgang mit Büchern

»Ich lese alle Biographien mit dem größten Interesse. Auch über einen Mann ohne Herz wie Cavendish denke und lese und träume ich, stelle ihn mir auf jede Weise vor, bis ich in seine Schuhe trete, selbst Cavendish werde und denke, was er dachte und tue, was er tat.« –

George Wilson.

Man kann einen Menschen ebenso nach den Büchern, die er liest, wie nach den Gefährten, mit denen er umgeht, kennen lernen, denn es gibt einen Umgang mit Büchern wie mit Menschen, und man sollte sich immer des besten Umgangs befleißigen, sei es mit Büchern oder Menschen.

Ein gutes Buch kann zu den besten Freunden zählen. Es ist heute dasselbe, was es gestern war und wird sich nie ändern. Es ist der geduldigste und heiterste Freund; es wendet sich in Zeiten der Not und Bedrängnis nicht von uns ab. Es empfängt uns immer mit derselben Freundlichkeit, uns in der Jugend unterhaltend und belehrend und im Alter tröstend und stärkend. Oft entdecken Menschen erst ihre Geistesverwandtschaft durch ihre gemeinsame Liebe zu einem Buche – gerade wie zwei Personen sich durch ihre Bewunderung für einen Dritten befreunden. Es gibt ein altes Sprichwort: »Liebst du meinen Hund, so liebst du auch mich.« Aber darin wäre mehr Weisheit: »Liebst du meine Bücher, so liebst du auch mich.« Das Buch ist ein besseres und festeres Verbindungsband. Die Menschen können durch ihren Lieblingsschriftsteller miteinander denken, fühlen und sympathisieren. Sie leben beide in ihm und er in ihnen.

»Bücher,« sagt Hazlitt, »dringen in das Herz ein; die Verse des Dichters gehen in unser Blut über. Wir lesen sie in der Jugend und gedenken ihrer im Alter. Wir lesen darin, was anderen zugestoßen ist, und wir fühlen, daß es uns selbst betrifft. Man kann sie überall gut und billig haben. Wir atmen nur den Geist der Bücher, denn dem Verfasser danken wir alles, was uns über die Barbarei hinaushebt. Ein gutes Buch ist oft das beste Denkmal eines Lebens, denn es enthält die besten Gedanken, deren dieses Leben fähig war; denn die Welt eines Menschenlebens ist zum größten Teile nur eine Gedankenwelt. So sind die besten Bücher wahre Fundgruben an edlen Aussprüchen und goldenen Gedanken, die unsere bleibenden Gefährten werden, wenn man sie pflegt und sich an sie erinnert. »Wer von guten Gedanken begleitet ist,« sagt Philipp Sidney, »ist nicht allein.« Ein wahrer und guter Gedanke kann in der Versuchung zu einem Engel der Barmherzigkeit werden, der die Seele reinigt und behütet. Er enthält auch den Keim zu Taten, denn gute Worte rufen fast immer gute Taten hervor.

So pries Henry Lawrence vor allem den »Charakter des glücklichen Kriegers« (Character of the happy Warrior) von Wordsworth und bemühte sich, ihn in seinem Leben zu verwirklichen. Die Dichtung war ihm immer ein Vorbild, er dachte beständig an sie und führte sie oft an. Sein Biograph sagt: »Er versuchte sein ganzes Leben und seinen Charakter ihr anzupassen und er hatte Erfolg damit, wie alle Erfolg haben, die etwas ernsthaft beginnen.«

Die Bücher haben etwas von dem Wesen der Unsterblichkeit. Sie sind bei weitem die dauerhaftesten Erzeugnisse menschlicher Anstrengung. Tempel sinken in Trümmer, Bilder und Statuen vergehen, aber die Bücher bleiben erhalten. Bei großen Gedanken spielt die Zeit keine Rolle; sie sind heute noch ebenso neu, wie vor vielen Jahren, als sie zuerst durch den Geist eines Menschen gingen. Was damals gesagt und gedacht wurde, spricht heute von der bedruckten Seite immer noch so lebhaft zu uns. Die Zeit hat nur die Wirkung, daß sie die Spreu von dem Weizen sondert, denn in der Literatur kann nur das Gute weiter leben.

Emerson sagt in »Gesellschaft und Einsamkeit«: »Ich will drei praktische Regeln geben: 1. Lies nie ein Buch, das nicht ein Jahr alt ist. 2. Lies nur berühmte Werke. 3. Lies nur, was dir gefällt.« Lord Lyttons Grundsatz ist: »Lies in der Wissenschaft die neuesten, in der Literatur die ältesten Bücher.«

Bücher führen uns in die beste Gesellschaft ein und bringen uns mit den größten Geistern, die je gelebt haben, in Berührung. Wir vernehmen, was sie sagten und taten, wir sehen sie lebendig vor uns, nehmen teil an ihren Gedanken, fühlen, genießen und sorgen uns mit ihnen. Wir machen uns ihre Erfahrung zu nutze und spielen gewissermaßen selbst in den Szenen mit, die sie beschreiben.

Große und gute Menschen sind unsterblich, selbst in dieser Welt. In ihren Büchern lebt ihr Geist weiter und wandelt umher. Das Buch wird zu einer lebendigen Stimme, zu einem Geiste, dem mir lauschen. So bleiben wir immer unter dem Einflusse der großen Männer der Vergangenheit:

»Gekrönte Herrscher sind die Toten all,
Die aus dem Grab uns lenken und regieren.«

Die großen Geister der Welt leben heute noch wie vor Zeiten, Homer ist nicht tot und obwohl seine Lebensgeschichte in dem Nebel des Altertums verborgen ist, so sind seine Dichtungen doch noch so jung und frisch, als ob sie in neuester Zeit geschrieben waren. Pluto lehrt noch seine transzendente Philosophie, Horaz, Virgil und Dante singen ihre Lieder wie vor Zeiten. Shakespeare ist nicht tot: zwar wurde 1616 sein Körper begraben, aber sein Geist wirkt noch jetzt in England und seine Gedanken reichen in ihrem Einfluß noch so weit wie zu der Zeit der Tudor.

Auch der Bescheidenste und Ärmste kann in diese Versammlung großer Geister, ohne befürchten zu müssen, für zudringlich gehalten zu werden. Alle, die lesen können, haben das Eintrittsgeld entrichtet. Willst du lachen? – Cervantes oder Rabelais werden es mit dir tun. Bist du traurig? – Thomas a Kempis und Jeremias Taylor werden mit dir trauern und dich trösten. Immer wenden wir uns Büchern und dem darin enthaltenen Geiste großer Männer zu, um Unterhaltung, Belehrung und Trost zu finden – in Freude und Sorge, im Wohlergehen und in der Not.

Von allen Dingen in der Welt interessiert der Mensch den Menschen am meisten. Was sich auf das menschliche Leben bezieht – seine Erfahrungen und Kenntnisse, seine Freuden und Leiden – hat für ihn besondere Anziehungskraft. Jeder ist mehr oder minder an den andern als an seinen Mitmenschen interessiert – als an den Gliedern der großen menschlichen Familie – und je höher ein Mensch gebildet ist, desto größer ist der Bereich der Sympathien für das Wohlergehen seines Stammes.

Das Interesse der Menschen für ihresgleichen offenbart sich auf mannigfache Weise – in den Bildern, die sie malen, in den Büsten, die sie meißeln und in den Erzählungen, die sie von einander schreiben. »Der Mensch,« sagt Emerson, »kann nichts anderes malen, formen und denken als den Menschen.« Am meisten zeigt sich dies Interesse in dem Zauber, die eine Lebensbeschreibung für uns hat. »Die gesellige Natur des Menschen,« sagt Carlyle, »zeigt sich trotz aller Einwände zur Genüge in der einen Tatsache, nämlich dem unleugbaren Reiz einer Biographie.« Und wahrhaftig, das menschliche Interesse an einer Lebensbeschreibung ist sehr groß. Was sind die Romane, die so viele Leser finden, anderes als erdichtete Lebensbeschreibungen.« Was sind die Schauspiele, zu denen sich so viele drängen, anders als ebenso viele auf der Bühne dargestellte Lebensbilder? Es ist seltsam, daß an erdichteten Biographien die größten Genies arbeiten, während sich so viele mittelmäßige Talente an wirklichen Lebensbeschreibungen versuchen.

Das authentische Lebensbild eines menschlichen Wesens sollte ein viel größeres Interesse beanspruchen als das nur erdichtete, da es den Reiz der Wirklichkeit besitzt. Jedermann kann etwas von dem Leben des andern lernen, und auch verhältnismäßig triviale Taten und Aussprüche können mit Interesse aufgenommen werden, da sie Lebensäußerungen unsersgleichen sind.

Ganz besonders nützlich sind die Lebensbilder großer Menschen, sie beeinflussen unser Herz, erfüllen uns mit Hoffnung und geben uns ein edles Beispiel. Und wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang seine Pflicht treu erfüllt hat, wird sein Einfluß nie ganz vergehen. George Herbert sagt: »Das Leben eines guten Menschen kommt nie aus der Mode.«

Goethe sagte, niemand wäre so unbedeutend, daß nicht ein Weiser von ihm lernen könnte. Walter Scott konnte nie mit der Post fahren, ohne sich von seinen Mitreisenden eine neue Belehrung zu holen oder einen neuen Charakterzug an ihnen zu entdecken.

Dr. Johnson sagte einst, daß es niemanden auf der Straße gäbe, dessen Biographie – Lebenserfahrungen, seine Versuchungen, Schwierigkeiten, Hoffnungen und Fehlschläge – er nicht zu erfahren wünschte. Wie viel mehr trifft das noch auf die großen Männer zu, die ihren Namen in die Geschichte eingegraben haben und uns unsern jetzigen Besitz an Zivilisation geschaffen haben! Alles was sich auf diese Leute bezieht – auf ihre Gewohnheiten, ihre Lebensart, ihre Lebensweise, Geschichte, Unterhaltung, Grundsätze, Tugenden, ihre Größe – all dies ist voller Interesse, Belehrung und dient uns zur Ermutigung und als Vorbild.

Die große Lehre der Biographie besteht darin, daß sie uns zeigt, was der Mensch nach besten Kräften tun und leisten kann. Ein edles Leben, das vortrefflich berichtet wird, dient andern als leuchtendes Vorbild. Es zeigt, was sich aus dem Leben machen läßt. Es erfrischt den Geist, ermutigt unsere Hoffnungen, gibt uns neue Kraft und neuen Mut und Glauben – Glauben an andere wie an uns selbst. Es erregt unser Streben, rüttelt uns zur Tätigkeit auf und veranlaßt uns, an ihrem Werke teilzunehmen. Das Leben solcher Menschen in ihren Biographien mitzuerleben und sich von ihrem Beispiel beeinflussen zu lassen, heißt sich der Gemeinschaft der Besten erfreuen und sich in der vornehmsten Gesellschaft bewegen.

An der Spitze aller Lebensbeschreibungen steht die große Biographie, das Buch der Bücher. Denn was ist die Bibel, das heiligste und eindringlichste Buch – die Erzieherin der Jugend, die Führerin des Mannes, die Trösterin des Greises – anderes als eine Reihe Biographien großer Helden und Patriarchen, Propheten, Könige und Richter, die ihre Höhe erreicht in der größten Aller, dem Leben Jesu im Neuen Testament? Wie viel haben diese großen Beispiele für die Menschheit getan! Wie viele haben aus ihnen ihre größte Stärke, ihre höchste Weisheit, ihre beste Nahrung und Belehrung geschöpft. Mit Recht bezeichnet ein großer katholischer Schriftsteller die Bibel als ein Buch, dessen Worte »im Ohre wie Musik klingen, die man nie vergessen kann, wie der Ton der Kirchenglocken, auf den der Gläubige kaum verzichten möchte. Der Segen der Bibel scheint fast mehr in Gaben als in Worten zu liegen. Sie ist ein Teil des Volksgeistes und der Grundstein nationaler Tüchtigkeit. Das Gedächtnis der Toten lebt in ihr fort. Die mächtigen Traditionen der Kindheit sind in ihren Versen verkörpert. In ihren Worten ist die ganze Macht der Sorgen und Versuchungen der Menschheit verborgen. Sie ist der Vertreter der besten Augenblicke des Menschen und was es in seiner Umgebung Sanftes, Freundliches, Reines, Bußfertiges und Gutes gibt, spricht immer aus seiner Bibel zu ihm. Sie ist sein Heiligtum, dessen Glanz kein Zweifel trüben, kein Widerspruch vernichten kann. In der ganzen Länge und Breite des Landes gibt es keinen Protestanten mit einem Funken Religiosität, dessen geistige Biographie nicht in seiner Bibel liegt.«

Es wäre in der Tat schwierig, den Einfluß der Guten und Großen auf die Erhebung des menschlichen Charakters zu überschätzen. »Die beste Biographie,« sagt Isaak Disraeli, »ist eine Vereinigung mit einem menschlichen Wesen in seiner höchsten Form.« Es ist in der Tat unmöglich, die Biographie guter oder gar begeisterter Menschen zu lesen, ohne unbewußt von ihnen erleuchtet und erhoben zu werden und ihren Gedanken und Taten näher zu kommen. Und auch das Leben bescheidener Menschen von treuem und redlichem Geist, die ihre Pflicht im Leben erfüllt haben, hat einen erhebenden Einfluß auf den Charakter der Späterlebenden. Die Geschichte wird am besten in Biographien studiert. Die Geschichte ist in der Tat eine Biographie – nämlich die der ganzen Menschheit, die von einzelnen Menschen beeinflußt und beherrscht wird. »Was ist alle Geschichte,« sagt Emerson, »als das Werk der Gedanken, ein Bericht der gewaltigen Energie, die seine unendlichen Bestrebungen dem Menschen verleiht?« Auf ihren Blättern begegnen wir immer mehr Personen als Tatsachen. Historische Ereignisse interessieren uns nur in Verbindung mit den Gefühlen, Leiden und Interessen derer, die daran teilnahmen. In der Geschichte sind wir von Leuten umgeben, die zwar schon lange tot sind, deren Worte und Taten indes noch leben. Wir vernehmen noch den Klang ihrer Stimme und ihre Taten bilden das Interesse der Geschichte. Wir nehmen nie persönlichen Anteil an den Massen, aber wir fühlen und sympathisieren mit den einzelnen handelnden Personen, deren Biographien die schönsten und wahrsten Züge in allen großen historischen Dramen liefern.

Unter den großen Schriftstellern der Vergangenheit waren Plutarch und Montaigne wahrscheinlich die beiden einflußreichsten in bezug auf die Bildung des Charakters großer Denker und großer Männer der Tat – jener dadurch, daß er heroische Beispiele zur Nachahmung aufstellte, dieser, indem er Fragen von besonderer Wichtigkeit erörterte» an welchen die Menschheit zu allen Zelten das größte Interesse gezeigt hat. Und die Werke beider sind größtenteils in biographischer Form abgefaßt, und die besten Beispiele sind die in ihnen enthaltenen Charakterbilder und Schilderungen von Lebenserfahrung.

Plutarchs Lebensbeschreibungen wurden zwar vor etwa achtzehnhundert Jahren geschrieben, doch behaupten sie wie Homers »Ilias« immer noch den Anspruch der größten Werke dieser Art. Sie waren Montaignes Lieblingsbuch, und für Engländer haben sie noch das besondere Interesse, daß sie Shakespeare bei seinen klassischen Dramen zu Rate zog. Montaigne sprach es aus, daß Plutarch »in dieser Art der größte Meister wäre,« und er erklärte, er könne kaum einen Blick in das Buch tun, ohne Fuß oder Flügel von ihm zu borgen.

Alfieri fühlte sich durch die Lektüre des Plutarch zuerst zur Literatur hingezogen. Er sagte: »Ich las das Leben Timoleons, Cäsars, Brutus', Pelopidas' mehr als sechsmal unter Ausrufen, Tränen und mit solcher Begeisterung, daß ich außer mir war.... Jedesmal wenn ich auf einen edlen Zug dieser großen Männer stieß, wurde ich von solcher Bewegung ergriffen, daß ich nicht stillsitzen konnte.« Plutarch war auch der Lieblingsschriftsteller so verschieden gearteter Geister wie Schiller und Benjamin Franklin, Napoleon und Madame Roland. Diese war so von dem Buche begeistert, daß sie es wie ein Gebetbuch in die Kirche mitnahm und während des Gottesdienstes heimlich las.

Es war auch die geistige Nahrung von Heinrich IV. von Frankreich, Turenne und den beiden Napiers. Es war sein Lieblingsbuch, als Sir William Napier noch ein Knabe war. Sein Geist wurde dadurch frühe mit leidenschaftlicher Bewunderung für die großen Helden des Altertums erfüllt, und ihr Einfluß war ohne Zweifel für die Bildung seines Charakters sehr wichtig. Es wird von ihm berichtet, daß in seiner letzten Krankheit sein geschwächter und erschöpfter Geist sich zu Plutarchs Helden zurückwandte und daß er seinem Schwiegersöhne stundenlang über die Taten Alexanders, Hannibals und Cäsars Vortrag hielt. Wenn es möglich wäre, die Stimmen der Leser aller Zeiten zu sammeln, deren Geist durch Bücher beeinflußt und geleitet wurde, so würde – ausgenommen die Bibel – die Majorität der Stimmen sich zugunsten Plutarchs entscheiden.

Wie kommt es, daß es Plutarch gelang, ein Interesse zu erregen, das so lange die Aufmerksamkeit der Leser aller Zeiten und Klassen bis auf den heutigen Tag fesselt? Erstens, weil der Gegenstand seiner Werke große Männer sind, die in der Weltgeschichte einen hervorragenden Platz einnehmen, und weil er ein Auge und eine Feder für die bedeutendsten Ereignisse und Umstände ihres Lebens hatte. Aber nicht nur das; er besaß auch die Kraft, den individuellen Charakter seiner Helden klar hervorzuheben, denn das Prinzip der Individualität gibt seinen Biographien ihren Reiz und ihr Interesse. Die fesselndste Seite an großen Männern ist nicht, was sie tun, sondern was sie sind, und besteht nicht in der Größe ihres Verstandes, sondern in ihrer persönlichen Anziehungskraft. Daher gibt es Menschen, deren Leben beredter ist als ihre Zunge und deren persönlicher Charakter großer als ihre Taten ist.

Es ist auch beachtenswert, daß die besten und sorgfältigsten Biographien Plutarchs in Lebensgröße dargestellt sind, während er viele nur als Büsten modelliert. Sie sind wohlproportioniert, aber so knapp und kurz gefaßt, daß man die besten von ihnen – wie z. B. das Leben Cäsars oder Alexanders – in einer halben Stunde lesen kann. Trotz dieses kleinen Maßstabes sind sie doch viel imposanter als ein leibhafter Koloß oder ein übertrieben großer Riese. Sie sind nicht mit Untersuchungen und Beschreibungen überlastet, aber der Charakter wird in ihnen in natürlicher Weise entwickelt. Montaigne beklagte sich indessen über Plutarchs Kürze. »Ohne Zweifel,« sagte er, »ist sein Ruhm darum um so größer, aber wir sind dafür um so schlimmer daran. Plutarch wünschte eher, wir sollten sein Urteil billigen, als seine Kenntnisse erfahren, und er entläßt uns lieber mit ungestilltem Appetit, als daß er uns mit dem Gebotenen übersättigt.«

Plutarch besaß die Kunst, sowohl die feineren Züge und Besonderheiten des Betragens wie die Fehler und Schwächen seiner Helden darzustellen, was alles zu einer genauen und treuen Lebensbeschreibung erforderlich ist. »Wenn er aus dem Leben eines Mannes eine kleine Handlung oder ein scheinbar unbedeutendes Wort herausgreift, hält er uns eine ganze Rede,« sagt Montaigne. Er informiert uns sogar über so unbedeutende Kleinigkeiten, wie daß Alexander das Haupt affektiert auf die Seite neigte, daß Alcibiades ein Stutzer war und ein Lispeln hatte, das ihm wohl anstand und seine Rede anmutig und einschmeichelnd machte, daß Cato rotes Haar und graue Augen hatte und ein Wucherer und Geizhals war, der seine alten Sklaven verkaufte, wenn sie keine schwere Arbeit mehr leisten konnten, daß Cäsar kahlköpfig war und sich gern schön kleidete, und daß Cicero (wie Lord Brougham) unfreiwillige Nasenzuckungen hatte.

Solche genauen Einzelheiten mögen von einigen für unter der Würde eines Schriftstellers gehalten werden, aber Plutarch hielt sie für notwendig zur Vollendung des Bildes, das er entwerfen wollte. Durch kleine Charaktereigentümlichkeiten – Gesichts- und Charakterzüge – erst werden mir in den Stand gesetzt, uns die Menschen vorzustellen, als ob sie lebendig wären, Plutarchs großes Verdienst besteht darin, daß er seine Aufmerksamkeit auf diese kleinen Einzelheiten richtete, ohne ihnen ein ungebührliches Vorrecht einzuräumen oder wichtigere Dinge über ihnen zu vernachlässigen. Zuweilen illustriert er einen Charakterzug durch eine Anekdote, die auf den Charakter ein helleres Licht wirft, als es eine seitenlange rhetorische Beschreibung könnte. Bisweilen führt er uns den Wahlspruch seines Helden an, und darin enthüllt sich oft das Herz eines Menschen.

Denn, was die Fehler angeht, so ist auch der größte Mann nicht vollkommen. Jeder hat seinen Mangel, seine Schrullen, seine Schwäche; durch diese Fehler enthüllt sich das Menschliche bei dem Größten. Aus der Entfernung können mir ihn für einen Halbgott halten; kommen wir ihm aber näher, so entdecken wir, daß er auch fehlbar und unsersgleichen ist.

Auch ist es für uns von Nutzen, wenn wir von den Fehlern großer Männer hören, denn wie Dr. Johnson bemerkte: »Wenn wir immer nur lichtvolle Charakterseiten bemerkten, würden wir verzweifelt die Hände in den Schoß legen, da wir es für unmöglich hielten, ihnen nachzueifern.« Plutarch rechtfertigt seine Darstellungsweise durch die Erklärung, daß es nicht seine Absicht wäre, Geschichte, sondern Lebensbilder zu schreiben. »Die glorreichsten Heldentaten,« sagt er, »geben uns nicht immer eine klare Erkenntnis der Tugend oder des Lasters der Menschen. Bisweilen unterrichtet uns ein Wort von geringerer Bedeutung, ein Scherz oder ein Ausruf besser über ihren Charakter und ihre Neigungen als Schlachten, wo Zehntausende fallen, als die größten Heereszüge oder Belagerungen. Wie deshalb Porträtmaler mehr auf die Gesichtszüge und den Ausdruck des Auges achten, worin sich der Charakter widerspiegelt, ohne sich sehr um die übrigen Körperteile zu kümmern, so darf ich auch meine besondere Aufmerksamkeit den Zeichen und Äußerungen der Seele zuwenden, und während ich mich bemühe, auf diese Weise ihr Leben zu beschreiben, überlasse ich wichtige Ereignisse und große Schlachten andern.«

Anscheinend unbedeutende Dinge können doch in der Lebensbeschreibung wie in der Weltgeschichte von Wichtigkeit sein, und kleine Ursachen können große Wirkungen haben. Pascal sagte, daß die ganze Welt jedenfalls ein anderes Aussehen hätte, wenn Kleopatras Nase kürzer gewesen wäre. Ohne die heimliche Liebe Pipins hätten die Sarazenen Europa überschwemmt, denn sein illegitimer Sohn, Karl Martell, schlug sie bei Tours und vertrieb sie aus Frankreich.

Daß sich Walter Scott als Knabe beim Herumtollen im Zimmer den Fuß verstauchte, scheint einer Beachtung in seiner Biographie unnötig, und doch verdanken wir diesem Umstände »Invanhoe«, »Old Mortality« und alle die Waverley-Novellen. Als sein Sohn in das Heer einzutreten wünschte, schrieb Scott an Southey: »Ich habe kein Recht, einen Entschluß zu bekämpfen, den ich selbst gefaßt hätte, wenn ich nicht lahm gewesen wäre.« Wenn also Scott nicht lahm gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich den Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel mitgemacht und hätte eine ordensgeschmückte Brust davongetragen, aber wir hätten wahrscheinlich keins der Werke, die seinen Namen unsterblich gemacht haben und seinem Lande soviel Ruhm eingetragen haben. Auch Talleyrand wurde durch seine Lahmheit von der militärischen Laufbahn, zu der er bestimmt gewesen war, abgehalten. Aber dadurch, daß er seine Aufmerksamkeit auf das Studium von Büchern und Menschen verlegte, wurde er schließlich einer der größten Staatsmänner seiner Zeit.

Byrons Klumpfuß hat wahrscheinlich nicht wenig dazu beigetragen, daß er Dichter wurde. Wäre nicht sein Geist durch seine Mißgestalt in krankhafter Weise verbittert worden, so hätte er jedenfalls keine Zeile geschrieben, sondern wäre der vornehmste Geck seiner Zeit geworden. Aber sein unförmlicher Fuß spornte seinen Geist an, erregte seinen Ehrgeiz, wies ihn auf seine natürlichen Anlagen – und der Erfolg ist bekannt.

Auch Scarron wurde jedenfalls durch seinen Buckel zu seinen zynischen Versen veranlaßt, und bei Pope war jedenfalls die Satire auch ein Produkt seiner Mißgestalt, denn Johnson beschreibt ihn als »vorn und hinten bucklig«. Was Lord Bacon über körperliche Gebrechen sagt, ist jedenfalls in der Hauptsache richtig. »Wer etwas Auffälliges an seiner Gestalt hat,« sagt er, »das zum Spott reizt, hat auch einen immerwährenden Ansporn, diesen Spott zurückzuweisen, deshalb sind alle mißgestalteten Leute äußerst kühn.«

Wie bei einem Bild, so muß auch bei einer Lebensbeschreibung Licht und Schatten verteilt werden. Der Porträtmaler setzt sein Modell nicht so, daß die Gebrechen besonders hervortreten, noch auch verbreitet sich der Biograph besonders über die Mängel seines Helden. Nicht viele Leute sind so für die Wahrheit eingenommen wie Cromwell, der Cooper zu einem Miniaturbilde saß. »Malt mich, wie ich bin,« sagte er, »mit Warzen und allem.« Wenn wir ein getreues Bild von Gesichtern und von Charakteren haben wollen, müssen sie nach der Natur gemalt werden. »Die Biographie,« sagt Walter Scott, »die interessanteste aller Abhandlungen, verliert für mich alles Interesse, wenn Licht und Schatten des Charakters nicht genau und treu verteilt ist. Ich kann ebensowenig mit einem bloßen Lobredner sympathisieren wie mit einem prahlerischen Bühnenhelden.«

Addison suchte soviel wie möglich über die Person und den Charakter seiner Lieblingsschriftsteller zu erfahren, da es das Vergnügen und die Befriedigung seiner Lektüre vermehrte. Wie war ihre Lebensgeschichte, ihre Erfahrung, ihr Temperament und Veranlagung? Ähnelte ihr Leben ihren Büchern? Sie dachten edel – handelten sie auch so? »Sollten wir uns nicht freuen,« sagt Egerton Brydges, »wenn wir eine wahrheitsgetreue Schilderung des Lebens und der Gefühle von Wordsworth, Southey, Coleridge, Campbell, Rogers, Moore und Wilson hätten, die sie selbst verfaßt hätten? – mit wem sie in der Jugend umgingen, wie ihre Neigung eine entscheidende Richtung nahm, über ihre Sympathien und Antipathien, über die Schwierigkeiten und Hindernisse ihrer Laufbahn, über ihren Geschmack, ihre Leidenschaften, die Klippen, auf die sie in ihrer Laufbahn stießen, worüber sie Reue empfanden, worin sie ihr Benehmen billigten oder zu rechtfertigen suchten?

Als man Wason zum Vorwurf machte, daß er die Privatkorrespondenz von Gray veröffentlichte, antwortete er: »Wollen Sie meine Freunde immer im Gesellschaftsanzug sehen?« Johnson war der Meinung, daß man jemanden persönlich kennen müßte, um sein Leben richtig zu beschreiben. Aber diese Bedingung fehlte bei einigen der besten Biographen.

Bei Lord Campbell scheint seine intime Bekanntschaft mit Lord Lyndhurst und Lord Brougham ein Nachteil gewesen zu sein, da sie ihn dazu verführte, ihre vortrefflichen Eigenschaften zu verkleinern und ihre Fehler zu übertreiben. Wieder sagt Johnson: »Wenn jemand sich vornimmt, einen Lebenslauf zu schildern, muß er ihn genau so beschreiben, wie er war. Auch die Eigentümlichkeiten und sogar Laster eines Menschen müssen genannt werden, da sie auch seinen Charakter bezeichnen.« Aber es erhebt sich immer die Schwierigkeit: da einzelne kleine Einzelheiten im Benehmen, günstige oder nicht, am besten nur aus persönlicher Kenntnis heraus angegeben werden können, so können sie aus Rücksicht auf die Lebenden nicht immer veröffentlicht werden, und wenn die Zeit gekommen wäre, wo man es tun kann, so erinnert man sich nicht mehr daran. Johnson drückt selbst sein Widerstreben aus, alles zu sagen, was er über die zeitgenössischen Dichter wußte, denn ihm war, als ob er über Asche wandelte, unter der die Glut noch nicht erloschen war.

Aus diesem Grunde erhalten wir selten ein wahrheitsgetreues Bild eines großen Mannes von seinen nächsten Verwandten, und so interessant eine Autobiographie ist, so können wir es noch weniger von den Männern selbst erwarten. Bei der Niederschrift seiner Memoiren sagt niemand alles, was er von sich weiß. St. Augustinus war eine seltene Ausnahme, denn es werden nur wenige so wie er in seinen »Bekenntnissen« ihre innere Verworfenheit, Trug und Selbstsucht offenbaren. Es gibt ein schottisches Sprichwort, das besagt, wenn man dem besten Menschen seine Fehler auf die Stirne schriebe, so würde er die Kappe darüber ziehen. »Es gibt niemanden,« sagt Voltaire, »der nicht etwas Hassenswertes an sich hätte, niemand, der nicht etwas von der Bestie in sich hat. Aber es gibt wenige, die uns mitteilen, wie sie diese Bestie zähmen.« Rousseau behauptete, daß er sich in seinen »Confessions« ganz offenbare; aber es ist erwiesen, daß er mehr verhehlte als enthüllte. Sogar Chamfort, einer der letzten Menschen, die etwas auf das Urteil der Zeitgenossen gaben, bemerkte einst »Es scheint mir bei dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand unmöglich, daß jemand sein innerstes Herz, die nur ihm bekannten Charakterzüge und vor allem seine Schwächen und Laster auch nur seinem besten Freunde enthüllte.«

Eine Autobiographie kann die reine Wahrheit enthalten, aber da sie eben nur einen Teil davon mitteilt, macht sie nicht den Eindruck des Wahrhaftigen. Sie kann eine Schönfärberei sein, die nicht so sehr sagt, was der Mensch wirklich ist, sondern was er zu sein wünscht. Eine Profilansicht kann ganz richtig sein, aber wer weiß, ob nicht eine Narbe auf der andern Wange oder ein schielender Blick auf dem nicht sichtbaren Auge den Ausdruck des Gesichts vollkommen verändert hätten? Scott, Moore, Southen, sie alle begannen eine Autobiographie, aber da sie ohne Zweifel fühlten, daß die Aufgabe zu schwierig und zu delikat war, wurde sie wieder aufgegeben.

Die französische Literatur ist besonders reich an der Klasse biographischer Memoiren, von denen wir in England nur wenige Gegenstücke haben, wir verweisen nur auf die Mémoires pour servir, die Gully, De Comines, Lauzun, De Retz, De Thou, Rochefoucauld u. a. hinterlassen haben und in denen eine Menge genauer und umständlicher Einzelheiten über viele große Männer der Zeit überliefert werden. Sie sind voller Anekdoten, die für Leben und Charakter bezeichnend sind und die man frivol nennen könnte, wenn sie nicht eine Flut von Licht über die sozialen Gewohnheiten und die allgemeine Zivilisation der Zeit würfen, auf die sie sich beziehen. Die »Mémoires« von Saint-Simon sind noch mehr: sie sind wunderbare Analysen von Charakteren und bilden die außergewöhnlichste Sammlung anatomischer Biographie, die je zusammengebracht worden ist.

Man könnte Saint-Simon fast in dem Lichte eines posthumen Hofspions Ludwigs XIV. betrachten. Er hatte die Leidenschaft, den Charakter zu studieren und Beweggründe und Absichten in den Gesichtern, Gebärden und der Unterhaltung seiner Umgebung zu erraten. »Ich beobachte alle Persönlichkeiten aufs genauste,« sagte er, »achte beständig auf ihren Mund, ihre Augen und Ohren.« Und was er hörte und sah, notierte er mit außerordentlicher Lebendigkeit und Kraft. Scharfsinnig, schlau und findig durchschaute er die Masken der Höflinge und spähte ihre Geheimnisse aus. Der Eifer, mit dem er sein Charakterstudium verfolgte, schien unermüdlich und fast grausam. »Der eifrigste Anatom,« sagt Sainte-Beuve, könnte nicht begieriger als er die Sonde in die noch zuckende Brust stoßen, um der verborgenen Krankheitsursache auf die Spur zu kommen.«

La Bruyére besaß dieselbe Gabe, den Charakter genau und durchdringend zu erforschen. Er beobachtete und studierte seine ganze Umgebung. Er suchte ihre Geheimnisse zu ergründen und zog sich von Zeit zu Zeit in sein Zimmer zurück, um ein genaues Bild zu unterwerfen, worauf er wieder hervorkam, um einen wichtigen Zug zu berichtigen – er hing diesem Studium so eifrig wie ein Künstler nach – fügte Strich zu Strich und Zug zu Zug, bis das Bild fertig und die Ähnlichkeit vollkommen war.

Man könnte sagen, daß viel von dem Interesse an Biographie, besonders der familiären Art, eine gewisse Verwandtschaft mit Klatsch hat, wie denn die »Mémoires pour servir« ohne Zweifel dem Skandal dienen. Aber beides, Klatsch und Skandal, ist doch für die Größe des Interesses bezeichnend, das die Menschen aneinander nehmen und das in der Form einer Biographie das größte Vergnügen und die beste Belehrung gewährt. In der Tat ist die Biographie der Literaturzweig – sei es als Dichtung, Anekdotensammlung oder Selbsterlebtes – welcher die größte Leserzahl zufällt.

Es unterliegt nunmehr keinem Zweifel, daß das große Interesse, welches Dichtung in Poesie und Prosa für die meisten Menschen hat, hauptsächlich von dem biographischen Element seines Inhalts herrührt. Homers »Ilias« verdankt ihre erstaunliche Popularität dem Talent, das ihr Verfasser bei der Beschreibung der heroischen Charaktere entwickelt. Doch beschreibt er ihre Persönlichkeiten nicht so sehr im einzelnen, als daß er sie vielmehr durch ihre Handlungen entwickelt. »Bei Homer, sagt Dr. Johnson, »begegnen wir so vielen Heldencharakteren und Mischungen von heroischen Eigenschaften, daß die vereinten Kräfte der Menschheit noch nichts hervorgebracht haben, dessen Urbild sich nicht dort findet. Auch das Genie Shakespeares zeigte sich in seiner kraftvollen Charakterzeichnung und der dramatischen Entwicklung menschlicher Leidenschaften. Seine Persönlichkeiten scheinen lebendig vor uns zu stehen. So ist es auch bei Cervantes, dessen Sancho Pansa, so hausbacken und gewöhnlich er ist, doch überaus menschlich wahr ist. Die Charaktere in Le Sages »Gil-Blas«, in Goldsmiths »Vicar of Wakefield« und in Scotts wunderbaren Meisterromanen scheinen so wahr zu sein, als ob wir sie selbst gekannt hätten. Und Defoes größte Werke sind ebensoviele Biographien, die mit größter Genauigkeit gezeichnet sind und auf jeder Seite den Stempel der Wahrheit so sehr tragen, daß es schwer fällt, Robinson Crusoe und Colonel Zack für erdichtete Personen zu halten.

Obgleich sich die wunderbarsten Romane im Leben abspielen und obwohl die Biographie, da sie Wesen beschreibt, die Freude und Leid, Schwierigkeiten und Triumphe des wirklichen Lebens kennen gelernt haben, sich viel anziehender gestalten läßt, als die besten je erfundenen Dichtungen, so ist es doch bemerkenswert, daß so wenig wirklich geniale Leute von der Abfassung solcher Werke gefesselt wurden. Große Dichtungen gibt es in Menge, aber große Biographien kann man an den Fingern herzählen. Der Grund ist vielleicht derselbe, mit dem der verstorbene große Porträtmaler John Phillip seine Vorliebe für die Genremalerei erklärte, weil, sagte er, »die Porträtmalerei nicht so viel einbringt.« Biographische Schilderungen erfordern fleißiges Nachforschen und sorgfältige Sammlung aller Tatsachen, kritische Auswahl und geschickte Gruppierung wie auch die Kunst, den Charakter lebenswahr und anziehend darzustellen, während bei der Dichtung die Phantasie des Schriftstellers den Charakter frei schaffen und entwickeln kann, ohne durch Quellenangaben oder die wirklichen Ereignisse behelligt zu werden.

Es ist indes kein Mangel an umfangreichen, aber leblosen Memoiren, die wenig mehr als öde Register sind und an deren Zusammenstellung die Schere ebenso großen Anteil hatte wie die Feder. Was Constable von den Bildern eines unfähigen Malers sagt – »Seine Köpfe haben weder Knochen noch Hirn« – kann man auf eine zahlreiche Klasse gemalter und geschriebener Bilder anwenden. Sie haben nicht mehr Leben wie eine Wachsfigur oder ein Kleidergestell in einem Schneiderladen. Wir wollen ein Bild nach dem Leben, und siehe da! wir haben ein Bild des Biographen. Wir erwarten das Herz und finden nur Kleider.

Ohne Zweifel ist es eine ebenso große Kunst, ein Bild mit Worten als mit Farben zu malen. Beides erfordert ein scharfes Auge und eine geschickte Feder oder einen geübten Pinsel. Ein gewöhnlicher Künstler sieht nur die Gesichtszüge und malt sie treulich ab, aber der große Künstler sieht die Seele hinter den Zügen und zaubert sie auf die Leinwand.

Johnson wurde einst aufgefordert, zusammen mit dem Kaplan eines verstorbenen Bischofs dessen Lebensbild zu schreiben, aber als er um nähere Informationen bat, konnte ihm der Kaplan so gut wie nichts sagen. Daher kam Johnson zu der Bemerkung, daß »wenige Personen, die mit einem Menschen zusammenlebten, etwas Genaues über ihn wissen.«

Bei Johnsons eigenem Leben war es Boswells scharfes Auge, das ihn befähigte, jene Einzelheiten der Gewohnheit und Unterhaltung aufzufassen, in welchen das Hauptinteresse bei der Lebensbeschreibung besteht. Boswell hatte infolge seiner einfachen Liebe und Bewunderung zu seinem Helden Erfolg, wo wahrscheinlich größere Männer gescheitert wären. Er stieg bis zu anscheinend unbedeutenden, doch sehr charakterischen Eigentümlichkeiten herab. So entschuldigt er sich einmal, daß er dem Leser mitteilt, daß Johnson »auf Reisen in der Hand einen dicken Eichenstock trug,« und er fügt hinzu: »Ich erinnere mich, daß Dr. Adam Smith bei seinen Vorlesungen in Glasgow erklärte, er freue sich zu wissen, daß Milton an den Schuhen Riemen anstatt Schnallen trug.« Boswell teilt uns mit, wie Johnson aussah, wie er sich kleidete, wie er sich ausdrückte und welche Vorurteile er hatte. Er malte ihn mit all seinen Eigentümlichkeiten, und es wurde ein wunderbares Bild – vielleicht das vollkommenste Porträt eines großen Mannes, das je mit Worten gezeichnet wurde.

Ohne die zufällige Bekanntschaft des schottischen Advokaten mit Johnson würde dieser wahrscheinlich nicht so hoch in der Literatur stehen. In dem Buche Boswells gewinnt Johnson wirkliches Leben, und ohne ihn wäre er vielleicht nicht mehr als ein anderer Mann. Andere haben der Nachwelt große Werke hinterlassen, aber von ihrem Leben ist so gut wie nichts bekannt. Was würden wir nicht um eine Boswellsche Biographie Shakespeares geben? Wir wissen in der Tat von der Lebensgeschichte eines Sokrates, Horaz, Cicero, Augustins mehr als von der des großen Dramatikers. Wir wissen nichts über seine Religion, seine politischen Anschauungen, seine Lebenserfahrung und seine Beziehungen zu seinen Zeitgenossen. Diese scheinen seine Größe nicht erkannt zu haben, und Ben Jonson, der Hofpoet, dessen Blankverse Shakespeare als Schauspieler lernte und rezitierte, war geachteter. Wir wissen nur, daß er mit Erfolg ein Theater leitete, daß er sich in der Blüte der Jahre nach seinem Heimatsorte zurückzog und mit ländlichen Ehren begraben wurde. Der größte Teil der über ihn gesammelten biographischen Notizen ist nicht das Resultat zeitgenössischer Beobachtung oder Überlieferung, sondern einer spätern Vermutung. Seine beste Selbstbiographie findet sich in seinen Sonetten.

Die Menschen legen an ihre Zeitgenossen nicht immer den richtigen Maßstab an. Der Staatsmann, der General, der Monarch von heute erfüllt aller Augen und Ohren, während er der nächsten Generation fast unbekannt ist. »Wer ist heute König?« fragte der Maler Greuze seine Tochter während der Wirren der französischen Revolution, wo jeden Tag neue Größen auftauchten, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. »Wer ist heute König,« fragte Greuze, »ich glaube doch, daß Bürger Homer und Bürger Raphael alle unsere großen Bürger, deren Namen ich früher nie gehört habe, überleben werden.« Und doch ist von der Lebensgeschichte Homers nichts bekannt, und von der Raphaels nur wenig. Selbst über Plutarch, der das Leben so vieler so gut beschrieben hat, existiert keine Biographie, und keiner der berühmten zeitgenössischen römischen Schriftsteller erwähnt seinen Namen. Und von Correggio, der andere so gut zu porträtieren wußte, existiert kein authentisches Bildnis.

Es gibt Menschen, die das Leben ihrer Zeit stark beeinflußt haben, und deren Ruf erst in der Nachwelt größer war als zu ihren Lebzeiten. Über Wickliffe, einen der bedeutendsten Vorläufer der Reformation, wissen wir nur sehr wenig. Sein Wort war nur die Stimme eines Predigers in der Wüste. Wir wissen nicht sicher, wer der Verfasser der »Nachfolge Christi« war, eines Buches, das eine ungeheure Verbreitung erlangte und einen gewaltigen religiösen Einfluß in allen christlichen Ländern ausübte. Es wird gewiß Thomas a Kempis zugeschrieben, aber man hat auch Grund zu der Annahme, daß er nur dessen Übersetzer war, denn das Werk, das er mit Sicherheit verfaßt hat, (Dialogus Novitiorum de Contemptu Mundi) ist in jeder Beziehung so minderwertig, daß es schwer fällt zu glauben, daß die »Nachfolge« aus derselben Feder stammt. Man hält es für wahrscheinlicher, daß Jean Gerson, Kanzler der Universität Paris und ein sehr gelehrter und frommer Mann, der 1429 starb, der Verfasser der »Nachfolge« gewesen ist.

Von einigen der größten Männer existieren nur kurze Biographien. Von Plato, einem der größten Philosophen, haben wir keine Lebensbeschreibung. Wir hören nichts von ihm, ob er Weib und Kinder hatte. Über das Leben des Aristoteles herrscht die größte Meinungsverschiedenheit. Einer hält ihn für einen Juden, nach einem andern empfing er seine Gelehrsamkeit von einem Juden, ein Dritter sagt, er habe eine Apotheke gehabt, ein Vierter, daß er der Sohn eines Arztes war. Einer behauptet, er war Atheist, ein anderer, er war Trinitarier usw. Aber wir wissen fast ebensowenig über Männer aus verhältnismäßig neuer Zeit.

Wir haben oben gesagt, daß man einen Menschen aus seinen Büchern kennen lernen kann. Wir wollen hier einige Lieblingsbücher von berühmten Männern erwähnen. Die Bewunderer Plutarchs sind schon genannt worden. Auch Montaigne ist immer der Begleiter denkender Menschen gewesen. Obgleich Shakespeare den Plutarch genau studiert haben muß, da er vieles von ihm bis zum Wortlaut entlehnt hat, so ist es doch bemerkenswert, daß wir nur von Montaigne mit Bestimmtheit wissen, daß sich seine Werke in der Bibliothek des Dichters fanden. Ein Autograph Shakespeares befindet sich nämlich in einem Abdruck der Florioschen Übersetzung der »Essays«, auf dessen Titelblatt sich auch ein Autograph Ben Jonsons findet.

Miltons Lieblingsbücher waren Homer, Ovid und Euripides. Letzterer war auch der Lieblingsschriftsteller von Charles James Fox, der dessen Studium für einen Redner für besonders nützlich erachtete. Andererseits empfand Pitt besonderes Vergnügen an Milton – den Fox nicht schätzte – und er rezitierte gerne die große Rede des Belial vor den versammelten Streitkräften der Hölle aus dem »Verlorenen Paradies«. Ein anderes Lieblingsbuch Pitts waren die »Principia« von Newton. Graf Chatham las gerne und oft Barrows Predigten, bis er sie auswendig wußte; Burkes Lieblinge waren Demosthenes, Milton, Bolingbroke und Youngs »Nachtgedanken«.

Von den Dichtern liebte Dante besonders den Virgil, Corneille den Lucan, Schiller den Shakespeare, Gray den Spenser, während Coleridge Collins und Bowles bewunderte. Dante war der Liebling vieler großer Dichter, von Chaucer bis Byron und Tennyson. Auch Lord Brougham, Macauley und Carlyle bewunderten und priesen den großen Italiener. Der erstere sagte den Glasgower Studenten, daß nächst dem Demosthenes das Studium Dantes die beste Vorbereitung für die Beredsamkeit von der Kanzel oder Tribüne wäre. Robert Hall suchte bei Dante Zuflucht vor den quälenden Schmerzen seines Rückenmarkleidens und Sydney Smith fand im hohen Alter bei demselben Dichter Trost und Kraft. Goethes Lieblingsbuch war Spinozas »Ethik«, und er fand darin nach seinen Worten solchen Frieden und Trost, wie in keinem andern Werk.[1]

Friedrich der Große von Preußen bekundete seine Neigung für die Franzosen durch die Auswahl seiner Bücher; seine Lieblinge waren Bayle, Rousseau, Voltaire, Rollin, Fleury, Malebranche und ein englischer Autor – Locke. Besonders schätzte er Bayles »Dictionnaire«, das auch das erste Buch war, welches seinen Geist gefangen nahm. Er hielt es so hoch, daß er es in verkürzter Form ins Deutsche übersetzte und veröffentlichte. Friedrich tat den Ausspruch, daß »Bücher nicht wenig zur Glückseligkeit beitragen.« In hohem Alter sagte er: »Meine letzte Leidenschaft wird die Literatur sein.«

Es erscheint uns seltsam, daß Blüchers Lieblingsbuch Klopstocks Messias gewesen sein soll und daß Napoleon Ossians Lieder und »Werthers Leiden« vor allem schätzte. Aber Napoleon pflegte eine ausgedehnte Lektüre. Sie umfaßte Homer, Virgil, Tasso, Romane aller Länder und Geschichte aller Zeiten, ferner mathematische, legislative und theologische Schriften. Er verabscheute den »Bombast und Flitterkram« Voltaires, wie er es nannte. Nie wurde er müde, das Lob Homers und Ossians zu singen. »Lesen Sie immer wieder den Dichter des Achilles,« sagte er zu einem Offizier an Bord des Bellerophon, »verschlingen Sie Ossian – diese beiden erheben die Seele und machen den Menschen riesengroß.«

Der Herzog von Wellington war ein eifriger Leser, er bevorzugte besonders Clarendon, Bischof Butler, Adam Smiths »Reichtum der Nationen«,[2] Hume, den Erzherzog Karl, Leslie und die Bibel. Er interessierte sich auch lebhaft für französische und englische Memoiren, besonders für die französischen Mémoires pour servir aller Art. Zu Walmer lagen nach Gleig die Bibel, das Gebetbuch, Taylors »Holy Living and Dying« und Cäsars »Kommentarien« in dem Bereich der Hand des Herzogs und nach ihrem Aussehen mußten sie oft benutzt worden sein.

Während die Bücher im Alter zu den besten Gefährten gehören, sind sie in der Jugend oft die besten Lehrer. Das erste Buch, das auf den Geist eines Jünglings tiefen Eindruck macht, wirkt oft epochemachend. Es kann das Herz anfeuern, den Enthusiasmus entfachen und seinen Charakter dadurch beständig beeinflussen, daß es seine Anstrengungen in neue Bahnen lenkt. Das Buch, mit dem wir Freundschaft schließen und dessen Geist weiser und reifer als der unsrige ist, kann so einen wichtigen Punkt in der Lebensgeschichte bedeuten. Man kann es bisweilen sogar eine Wiedergeburt nennen.

Seit dem Tage, wo James Edward Smith mit seinem ersten botanischen Lehrbuche beschenkt wurde, wo Joseph Banks Gerards »Pflanzenbuch« in die Hand bekam, wo Alfieri zuerst Plutarch las, Schiller zuerst Shakespeare kennen lernte und Gibbon den ersten Band der »Weltgeschichte« verschlang, fühlten sich alle so begeistert, als ob sie ein neues Leben begonnen hätten.

In seiner Jugend zeichnete sich Lafontaine nur durch Faulheit aus, aber als er einst eine Ode von Malherbe vorlesen hörte, soll er ausgerufen haben: »Ich bin auch ein Dichter«, und sein Genius war erwacht. Charles Bossuet wurde zuerst auf das Studium hingelenkt, als er in der Jugend Fontenelles »Eloges« der Männer der Wissenschaft las. Ein anderes Werk Fontenelles »Über die Mannigfaltigkeit der Welt« beeinflußte den Geist Lalandes bei seiner Berufswahl. Er sagt selbst in einer Vorrede zu dem Buch, das er später herausgab: »Ich bekenne mit Vergnügen, daß ich diesem Buche die Anregung zu meiner Tätigkeit danke; die ich im sechzehnten Jahre empfing und seitdem behielt.«

Ähnlich wurde Lacepede zu dem Studium der Naturgeschichte durch die Lektüre von Buffons »Histoire Naturelle« veranlaßt, die er in der Bibliothek seines Vaters fand und so oft las, bis er sie auswendig wußte. Goethe wurde gerade in der kritischen Periode seiner geistigen Entwicklung durch Goldsmiths »Vicar of Wakefield« beeinflußt, und er schrieb diesem Werke einen großen Teil seiner Erziehung zu. Als er später »Das Leben des Götz von Berlichingen« las, wurde er dazu angeregt, dies in poetischer Form zu verwerten. »Die Figur des rauhen, wohlmeinenden Mannes,« sagt er, »der in einer wilden Zeit sich selbst half, erregte meine tiefste Sympathie.«

Keats war als Knabe unersättlich beim Lesen, doch erst die Lektüre der »Feenkönigin« (Fairy Queen) entfachte in seinem siebzehnten Jahre das Feuer seines Genies. Dasselbe Gedicht soll auch Cowley begeistert haben, der zufällig ein Exemplar davon in dem Fenster des Zimmers seiner Mutter fand. Er las und bewunderte es und wurde unwiderruflich ein Dichter. Coleridge spricht von dem großen Einflüsse, den die Gedichte Bowles auf seinen Geist hatten. Die Werke vergangener Zeiten, sagt er, scheinen für einen Jüngling einem anderen Volke anzugehören, aber die Schriften eines Zeitgenossen »besitzen für ihn Wirklichkeit und flößen ihm die Sympathie des Menschen ein.« Seine Bewunderung entfacht und nährt seine Hoffnung, und die Dichtungen selbst werden zu Gestalten von Fleisch und Blut.

Aber die Menschen werden durch die Lektüre nicht bloß zu speziell literarischer Tätigkeit veranlaßt, sondern sie werden durch sie oft auch zu ernsterer Tätigkeit geführt.

Gute Bücher gehören daher zu den besten Gefährten; da sie die Gedanken erheben und das Streben nach einem höheren Ziele richten, wirken sie als Schutzmittel gegen niedrige Neigungen. Thomas Hord sagt: »Eine angeborene Vorliebe für Bücher und geistige Beschäftigungen hat mich wahrscheinlich vor dem moralischen Schiffbruch bewahrt, dem die früh der elterlichen Leitung Beraubten so leicht ausgesetzt sind. Meine Bücher hielten mich von dem Pferderennen, den Hundekämpfen, den Kneipen und Wirtshäusern zurück. Ein enger Genosse Popes und Addisons, ein Geist, der an die edle, wenn auch unhörbare Sprache Shakespeares und Miltons gewöhnt ist, wird wohl kaum die Gesellschaft gemeiner Menschen suchen.«

Man hat mit Recht gesagt, daß diejenigen Bücher am besten sind, welche guten Taten am meisten ähneln. Sie läutern, erheben und kräftigen, sie erweitern und befreien den Geist, behüten ihn vor gemeiner Weltlichkeit, bringen edle Heiterkeit und Seelenruhe hervor, sie formen, bilden und humanisieren den Geist. Auf den nordischen Universitäten bezeichnet man die Schulen, wo die alten Klassiker gelehrt werden, sehr zutreffend als ›humanistische‹ Anstalten.«[3]

Erasmus, der große Gelehrte, war auch der Meinung, daß die Bücher zum Leben notwendig wären, während er Kleider als Luxus ansah, und er verschob häufig die Vervollständigung seiner Garderobe, bis er sich mit Büchern versehen hatte. Er liebte besonders die Werke Ciceros und sagte, er fühle sich jedesmal gehoben und veredelt, wenn er sie gelesen hätte. »Ich kann nie«, sagt er, »die Schriften Ciceros über das ›Greisenalter‹ oder die »Freundschaft« oder die »Gespräche in Tuskulum« lesen, ohne sie inbrünstig an die Lippen zu pressen und von Verehrung für einen Geist durchdrungen zu sein, der von Gott selbst inspiriert war.« Die Lektüre von Ciceros »Hortensius« brachte Augustin – bis dahin ein verdorbener, lasterhafter Lüstling – von seinem sittenlosen Leben ab und auf den Weg zum Studium, wodurch er der größte der Kirchenväter wurde. Sir William Jones las alljährlich die Schriften Ciceros, »dessen Leben in der Tat«, wie sein Biograph sagt, »das große Vorbild des seinigen war.«

Es ist überflüssig, den ungeheuern moralischen Einfluß hervorzuheben, den die Bücher auf die allgemeine Zivilisation der Menschheit ausgeübt haben. Sie enthalten das aufgespeicherte Wissen unseres Geschlechts. Sie berichten von aller Arbeit, allen Erfolgen, Spekulationen und Fehlschlagen in der Wissenschaft, der Philosophie, Religion und Moral. Sie sind die größten Triebfedern aller Zeiten gewesen. »Vom Evangelium bis zum ›Contrat Social‹,« sagt de Bonald, »haben die Bücher Revolutionen hervorgerufen.« Oft ist ein gutes Buch in der Tat etwas Besseres als eine gewonnene Schlacht. Sogar erdichtete Werke haben bisweilen auf die Gesellschaft ungeheuern Einfluß gehabt. So stürzten Rabelais in Frankreich und Cervantes in Spanien zu gleicher Zeit die Herrschaft des Pfaffen- und Junkertums, wobei sie keine andere Waffe als den Spott anwandten, der der natürliche Widerpart der menschlichen Furcht ist. Das Volk lachte und fühlte sich wieder sicher. Das Erscheinen des »Télémaque« rief die Menschen zu der Harmonie der Natur zurück.

»Dichter«, sagt Hazlitt, »haben ein längeres Leben als Helden, denn sie atmen mehr von der Luft der Unsterblichkeit ein. Sie leben länger in ihren Gedanken und Taten fort«. Wir kennen alles, was Homer und Virgil geschaffen haben, als ob wir zu ihrer Zeit gelebt hätten. Wir können ihre Werke in die Hand nehmen, sie auf unser Kissen legen oder sie an die Lippen führen. Doch von dem, was die andern taten, ist kaum noch eine Spur auf der Erde, die im menschlichen Auge sichtbar ist. Die toten Schriftsteller sind gleich Lebenden. Sie atmen und wirken noch in ihren Schriften, von den anderen, den großen Eroberern in der Welt, sind nur noch Aschenreste übrig. Die Sympathie zwischen Gedanke und Gedanke ist inniger und lebhafter, als zwischen Gedanke und Handlung. Der Gedanke verbindet sich mit dem andern, wie eine Flamme in die andere übergeht, die Bewunderung, die wir den Manen verstorbener Helden zollen, ist wie der Weihrauch, der auf einem Marmordenkmal glimmt. Worte, Gedanken, Gefühle gehen mit der Zeit in Substanzen über, Dinge, Körper und Handlungen aber verwesen, zerfließen zu einem Hauch, werden zu nichts ... Nicht nur die Handlungen eines Mannes verlöschen und vergehen, auch seine Tugenden und edlen Eigenschaften sterben mit ihm dahin. Nur sein Geist ist unsterblich und geht unversehrt auf die Nachwelt über.

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Anmerkungen:
  1. Es ist recht merkwürdig, daß der fromme Schleiermacher mit Goethe in einer Ansicht über die Größe Spinozas übereinstimmte, obwohl dieser von den Juden gebannt und von den Christen für wenig mehr als ein Atheist angesehen wurde. »Der große Weltengeist,« sagt Schleiermacher in seiner ›Rede über die Religion‹, »durchdrang den frommen aber mißachteten Spinoza; die Unendlichkeit war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, Er war erfüllt von Religion und religiösen Gefühlen und deshalb steht er allein, unnahbar, ein Meister in seiner Kunst, aber über die gemeine Welt hinausragend, ohne Anhänger, ja ohne ein Bürger in Welt zu sein.«
    Cousin sagt von Spinoza: »Der Autor, mit dem dieser angebliche Atheist die meiste Ähnlichkeit hat, ist der unbekannte Verfasser der ›Nachfolge Christi‹«
  2. Dieses berühmteste Buch der Nationalökonomie erscheint in neuer deutscher Bearbeitung in Kröners Volksausgabe.
  3. Trotz mancher neuerer Urteile, welche die klassischen Studien als nutzlose Zeitverschwendung bezeichnen, kann darüber kein Zweifel sein, daß sie der Geistesbildung erst die höchste Vollendung geben. Die alten Klassiker enthalten die vollendetsten Beispiele literarischer Kunst, und die größten Schriftsteller haben sie eifrig studiert. Die klassische Kultur war das Werkzeug, mit dem Erasmus und die Reformatoren Europa läuterten. Sie zeichnete die großen Patrioten des sechzehnten Jahrhunderts aus und sie hat seitdem alle unsere großen Staatsmänner charakterisiert, »Ich weiß nicht wie es geschieht,« sagt ein englischer Schriftsteller, »aber der Verkehr mit den Alten hat bei all denen, die ihn pflegen, eine festigende Wirkung auf ihr Urteil nicht nur über literarische Dinge, sondern im allgemeinen über Menschen und Geschehnisse, Sie haben gewissermaßen eine gewichtige und nachdrückliche Erfahrung gemacht. Sie stehen mehr als andere unter der Herrschaft von Tatsachen und sind unabhängiger von der gerade herrschenden Sprache.«
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